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LEBKES ERZÄHLUNG 2

Am 1. September 1943 haben wir uns zuletzt gesehen. Im Ghetto in Wilna marschierten um fünf Uhr früh deutsche Soldaten durchs Tor, um zweitausend Juden für ihre Arbeitslager zusammenzutreiben. Mit aufgepflanztem Bajonett stürmten sie durch die Straßen und ärmlichen Gassen. Ein Kundschafter des Untergrunds rannte von Haus zu Haus, kletterte in Höfe, durch Fenster und weckte Menschen und flüsterte: „Lisa ruft!“

Die jungen Männer und Frauen eilten auf die Straße. „Lisa ruft!“ war der Befehl, sich sofort zum Treffpunkt seines Bataillons zu begeben. Wir vom zweiten Bataillon trafen uns in der Nähe des Krankenhauses. Wir warteten auf dem Platz auf die Waffen, die ein Kurier von einem Versteck bringen würde. Eine Minute nach der anderen verstrich. Ein jüdischer Polizist redete mit einem deutschen Offizier. Und plötzlich war das Zweite Bataillon von feindlichen Soldaten eingekreist. Wir wussten alle, was los war: Ein Spion hatte dem jüdischen Polizeichef des Ghettos, Jacob Gens, den Treffpunkt verraten und der lieferte uns nun ans Messer.

Der Kommandant des Bataillons rief zum Angriff und alle stürzten mit bloßen Händen auf die Soldaten los, schlugen, traten, wurden niedergeschlagen. Ich hatte mich schon auf einen Innenhof durchgekämpft, als ich im Durchgang sah, wie meine Kameraden die Hände erhoben. Ich dachte an meine Eltern, meine Schwestern, die alle gestorben waren, ermordet, an meine Kameraden. Ich wollte nicht mehr alleine zurückbleiben. So ging ich mit erhobenen Händen aus dem Hof und sagte: „Ich ergebe mich.“ Ein Soldat, ein Estländer, schlug mich ins Gesicht und stieß mich mit dem Kolben zu den anderen. Dann brachten sie uns zu Güterzügen.

Sie brauchten uns tatsächlich. Wir fuhren nicht nach Ponar, was unser Ende bedeutet hätte, das hatten wir oft genug mitbekommen. Meine erste Station war Kortla Java, wo ich im Sumpfland an Straßen arbeiten musste. Nachts hörten wir Granaten und Maschinengewehrfeuer. Die Rote Armee war schon in Hörweite. So schickten sie uns die Narwa entlang nach Suski, wo wir für die Deutschen Gleise verlegen mussten. Inzwischen war es Winter, die Temperatur fiel auf minus dreißig Grad. Die Toten schleppten wir selbst beiseite, sie wurden verbrannt. Dann ging es weiter nach Westen, immer auf der Flucht vor den Russen bis zu einer Gießerei, wo ich in der Schmiede arbeitete. Draußen reichte uns der Schnee bis zur Brust. Schließlich landete ich in Tallinn, der verschneiten Hauptstadt Estlands. Sehnsüchtig blickte ich auf die friedlichen Häuser jenseits der Gleise. Etwas in mir wollte sich einfach hinlegen und mit diesem Bild einschlafen für immer. Doch dann fühlte ich, dass mein Weg noch nicht zu Ende war. Ich wollte den Krieg, dieses Massentöten und Massensterben überleben, wollte meine Freunde wiedersehen und – so Gott will – unsere Peiniger vernichten. So stand ich auf und ließ mich weiterstoßen zum Hafen.

Im Bauch des Schiffes lagen wir zusammengepfercht, aber zur Untätigkeit verdammt. Meine Gedanken wanderten zurück in die Kindheit, zurück in das kleine Dorf in Litauen, in dem ich geboren wurde, zu früh, so dass der Rabbi mich zu schwach hielt für die brit mila, die rituelle Beschneidung. Außerdem entpuppte ich mich zusehends als blonder und blauäugiger Junge, der insgesamt äußerlich gar nichts Jüdisches an sich hatte. Rebecca, sagte mein Vater im Scherz, wem hast du da zu tief ins Auge geguckt? Dem Ziegenhirten? Aber die Litauer hassten uns Juden und mein Vater starb, als er einen Brand löschen wollte, den sie verursacht hatten. Meine Mutter hängte sich auf, als nach den Russen die Deutschen kamen. Sie ahnte wohl unser Schicksal voraus. Ich bin noch mit meinen Schwestern ins Ghetto gezogen, wurde dort aber von ihnen getrennt und sie landeten mit einem Transport in Ponar. So blieb ich alleine und wurde bald vom Untergrund entdeckt, der sich mein Aussehen zunutze machte. Ich wurde jüdischer Agent außerhalb des Ghettos und verpackte in einer Munitionsfabrik Bomben. Spät in der Nacht, ich arbeitete freiwillig länger, schmuggelte ich jeweils eine Waffe aus dem Betrieb und brachte sie ins Ghetto. 1942 explodierte ein Initialzünder in meinen Händen. Ich verlor fünf Finger: drei an der rechten und zwei an der linken Hand. Damals haben die Deutschen wirklich gut für mich gesorgt: ein Arzt versorgte und behandelte meine Wunden, einen Monat lang erhielt ich leichtere Arbeit. So gingen sie mit einem vermeintlichen Arier um. Ich habe alles getan, um das Ghetto verteidigen zu können. Es hat nichts geholfen.

Im KZ Stutthof bei Danzig haben sie mich gefragt, was ich bisher gearbeitet habe. Ich konnte auf Deutsch antworten, das hatte ich in der Schule in Wilna gelernt. Sprachen fielen mir leicht, ich brauchte nur ein Wort zu hören, schon war es in meinem Wortschatz. Als sie hörten, dass ich in Wilna in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte, sie fragten gottlob nicht, wie das kam, schickten sie mich zu einer Fabrik, die Flugzeugteile herstellte. Es gab noch eine Fabrik für Bauelemente und das Deutsche Ausrüstungswerk, das Kleider, Schuhe und noch alles Mögliche herstellte – alles mit der billigen Arbeitskraft von Häftlingen, die so lange arbeiten mussten, wie sie sich am Leben erhalten konnten. Ich sage euch, ich habe in Stutthof die Wolfsfratze des Kapitalismus gesehen, ohne Maske und ohne Verkleidung. Die dünnen Suppen, das verschimmelte Brot waren das einzige Nahrungsmittel. 12 oder 14 Stunden arbeiten im Akkord. Wie ich überlebt habe? Mein Meister hat mich angesprochen bei der Fertigung von Sitzen für einen Focke-Wulf-Jäger, schmalen Aluminiumwannen mit einem dürftigen Sitzkissen. Aber die Piloten saßen wohl auf ihren Fallschirmen. „Lebke, du bist doch kein Jud, im Leben nicht!“

Ich hab zu ihm gesagt: „Zu Befehl, Herr Chef, stimm ich Ihnen zu. Es is a riesiger Irrtum. Aber jetzt kann ma nix mehr machen, ham gesagt die SS-Offiziere. Hab ich in Wilna sozusagen Unterstitzung geleistet für die Drecksjuden, wie sie gsagt haben, soll ich auch dafür bluten.“ Geredet hab ich wie ein Ostpreuße, was ihn gerührt hat.

Er hat mich nach der Schicht in sein Haus eingeladen, natürlich zum Arbeiten, es war aber leichte Arbeit. Und dem Meister war es angenehm, einen Arier um sich zu haben. Eines Abends hat er gesagt: „Lebke“, hat er gesagt“, „bist du jetzt wirklich kein Jud oder hast du mich beschwindelt?“ Ich hab mir schon gedacht, was jetzt kommt und hab im Brustton der Überzeugung gesagt, dass ich's ihm schwöre. Da meinte er: „Lebke, lass mal sehen.“ Ich hab mich dumm gestellt und gefragt, was er denn meine. „Ach du weißt schon“, sagt er und deutet auf meine Hose. „Ach so!“, hab ich gelacht und meine Hose runtergezogen und ihm meinen Schniedel gezeigt. „Unglaublich!“, hat er gesagt und mir zwischen die Schulterblätter gehauen.

Klauen hab ich können an Essen, was in meine Taschen gepasst hat. So bin ich halbwegs bei Kräften geblieben und hab noch meine Baracke versorgt, so gut es ging.

Im Lager roch man das Meer, als es Frühling wurde und dann Sommer. Um mich herum starben die Kameraden reihenweise, ich konnte ihnen mit dem bisschen Essen nicht helfen, sie wurden krank, eine Behandlung fand nicht statt. Mein Meister sagte einmal, die SS nenne das „Vernichtung durch Arbeit“.

Eines Tages wurde ich mit fünf anderen Juden auf den Appellplatz gerufen. Ein SS-Offizier hatte eine Liste in der Hand und bellte den Befehl, wir hätten uns in zehn Minuten mit allen Sachen, die uns noch geblieben waren, auf dem Platz einzufinden. Ein Lastwagen mit Plane wartete. Wir sechs waren körperlich noch einigermaßen kräftig, also schienen wir nicht aussortiert zu werden. Später fuhren wir mit zwei SS-Soldaten als Bewachung mit offener Rückwand. Wir sahen, dass wir durch Gdansk fuhren, auch hier hatten britische Bomber Spuren hinterlassen. Der Lastwagen fuhr weiter nach Gdynia zu den großen Hafenanlagen. Als wir vom Lastwagen sprangen, sahen wir einen betagten Dampfer am Kai liegen. Er lag niedrig im Wasser, hatte zwei Schornsteine mit aufgemalten roten Kreuzen. Ein Lazarettschiff offensichtlich. Und tatsächlich wurden etliche Bahren aufs Schiff getragen. Manche Soldaten konnten sich mit Krücken oder Stöcken alleine fortbewegen. Ich presste die Lippen zusammen. „Jetzt seht ihr“, dachte ich, „wie es ist, wenn euch der Krieg ausspuckt und ihr nicht wisst, ob ihr den nächsten Tag erlebt. Nein, ihr verdient mein Mitleid nicht. Zu viele habe ich gesehen, wie sie abtransportiert wurden in die Wälder von Ponar, wo sie erschossen und verscharrt wurden.“

Ein nervöser SS-Mann bewachte uns mit schussbereitem Gewehr, während der Beifahrer auf das Schiff ging und mit einem Offizier redete. Er drückte ihm eine Mappe in die Hand und kam wieder zurück. „Los, rauf da!“, schrie er. Wir betraten die wacklige, aber kurze Gangway und standen dann ratlos auf Deck, während der Lastwagen mit den SS-Leuten wieder zurückfuhr. Ein Matrose der Kriegsmarine kam auf uns zu und forderte uns auf ihm zu folgen. Auf seiner Mütze stand der Schiffsname: „Rügen“. Er ging unter Deck, etliche Treppen hinunter und schmale Gänge entlang, bis wir zu einer Kajüte mit sechs Betten kamen. „Hier bleibt ihr für die nächsten Tage. Lasst euch nicht einfallen, auf dem Schiff herumzulaufen. Wir sperren jeden einzeln ein, der nicht spurt. Toilette ist gegenüber.“

„Wohin fahren wir?“, fragte ich den jungen Kerl. „Geht euch ja eigentlich nichts an, aber wir laufen Stettin an. Von dort geht es wohl weiter für euch. Keine Ahnung wohin. Werdet ihr schon merken. Jedenfalls alles besser als hier im Osten.“ Nach dieser beeindruckend langen Rede drehte er sich um und verschwand.

Bis in die Nacht wurde das Lazarettschiff beladen, hörten wir durch die Schiffswände das Stöhnen der Verwundeten, auch Schreie. Plötzlich zitterte das Schiff und ein rhythmisches Stampfen begann unter uns. „Dampfmaschinen“, sagte Herschel, ein Hüne von einem Juden, der auch nur noch ein Schatten seiner selbst war. Wir merkten, dass wir Fahrt aufnahmen. Ein Bullauge, durch das wir blicken konnten, gab es nicht. Bevor wir uns auf die Pritschen legten, sprach Victor noch ein Gebet.

Das Brot der Rache

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