Читать книгу Das Brot der Rache - Harro Pischon - Страница 12
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ОглавлениеImmer der Höhenlinie entlang durch den Wald. Mochte es nicht die Richtung sein, er wagte nicht, den Wald zu verlassen. Der Kompass würde ihm helfen, nicht allzu weit abzukommen. Nach dem Sneznik wagte er im Dunkeln ein kleines Feuer zu entfachen, nachdem er eine Mulde gefunden hatte. Er nahm nur trockenes Holz, damit es nicht so qualmte. Auf einen Stock spießte er Schnecken und ein paar Heuschrecken, die er gefunden hatte. „Proteine, Proteine“, murmelte er vor sich hin, um den leisen Ekel zu überwinden und hielt den Stock übers Feuer. Dazu gab es einen „Salat“ aus den Blättern von Waldveilchen und von wilden Erdbeeren und ein paar Bissen von dem kostbaren Brot. Die Feldflasche war bald leer, er musste sie auffüllen. Sorgfältig löschte er das Feuer, häufte Erde auf die Glut und hüllte sich in seinen Mantel. Er fiel in einen leichten Schlaf, in dem er noch alle Geräusche in seiner Umgebung wahrnahm und überprüfte, ob sie Gefahr bedeuteten.
Es wurde nur zögernd heller, als er sich wieder auf den Weg machte. Durch die Bäume sah er auf der Rechten ein Tal, mit fruchtbaren Feldern, zum Teil überschwemmt. Kurz träumte er davon, sich zu waschen, seinen Wasservorrat aufzufüllen, wischte die Phantasie beiseite und lief weiter durch den Wald. Aus den Bäumen wuchsen immer wieder mächtige Felsberge hervor, er musste oft absteigen, eine Senke durchqueren, wieder aufsteigen, stieß auf eine kleine Straße, die er meiden musste. Und dann, auf einmal, stand er in einem winzigen Tal vor einem Flüsschen. Vorsichtig blickte er um sich, bevor er den Wald verließ und huschte dann zum Ufer, hielt seine Feldflasche ins Wasser. Er sah, dass das Flüsschen nicht tief war und watete gleich darauf hinüber und eilte zwischen die schützenden Bäume.
Entlang einer Straße und einer Bahnlinie wandte er sich zunächst nach Westen, bevor er wieder nach Norden abbiegen wollte. Als der Weg an Höhe verlor, hielt er inne und suchte nach einem Aussichtspunkt. Dort holte er sein Fernglas hervor und schaute ins Tal. Er blickte auf ein Städtchen mit einem Bahnhof, einem Fluss … natürlich, das war die Pivka, und außerhalb des Städtchens erkannte er ein Haus mit einem Mühlrad, den Eingang zur berühmten Adelberger Höhle. Der Name fiel ihm nicht mehr ein, Pos…, Pos...Plötzlich krachten Schüsse. Sie kamen von einem Platz am Stadtrand, den er nicht einsehen konnte. Schnell zog er sich weiter in den Wald zurück, um nicht auf seinem Beobachtungsposten erkannt zu werden. Schreie drangen an sein Ohr, wütende, hasserfüllte und flehende, bittende. Er fürchtete, die titoistische „Volksbefreiungsarmee“ hatte irgendwelche Gegner massakriert, und das waren alle, die nicht zu ihnen gehörten: Deutsche sowieso, Ustaschas, Tschetniks, wer auch immer. Hastig versuchte er, sich von der Stadt zu entfernen.
Ein paar Stunden später senkte sich der Wald in ein Tal. Diesmal führte die Höhe weit nach Osten, sogar Südosten. Er musste eine Möglichkeit finden, das Tal zu überqueren. Und tatsächlich gab es einige Waldstückchen im Tal, die bis zu einem bewaldeten Höhenzug führten. Er musste warten, bis die Dunkelheit hereinbrach. Jetzt, am Nachmittag, war es zu gefährlich. Noch dazu, wenn die ehemaligen Partisanen, die offensichtlich die Macht übernommen hatten, ganz in der Nähe wüteten. „Ich lass mich nicht in Slowenien von denen abknallen“, dachte er grimmig und verbarg sich. In seinem Versteck wuchsen zwei Wildpflanzen, die er kannte. Seine Mutter hatte ihm auf Waldspaziergängen oder Ausflügen in die Fränkische Schweiz viele Pflanzen gezeigt und benannt, auch erklärt, ob sie essbar seien oder nicht. Der Gundermann blühte schon und das Johanniskraut hatte Knospen. Er rieb an einer Knospe und hatte rote Finger. „Das Blut des heiligen Johannes“, wie seine Mutter sagte, erklärte ihm auch, dass der Farbstoff Hypericin heiße. Er aß einige Blätter und schmunzelte in sich hinein bei dem Gedanken, dass Johanniskraut gegen Melancholie helfe. Auch vom Gundermann zupfte er einige Blätter ab und kaute die leicht bittere Pflanze.
Als es dämmerte, setzte der Regen ein, ein Vorhang aus Wasserschnüren senkte sich auf das Tal. „Umso besser“, dachte er, „ wenn ich nichts sehe, sieht mich auch keiner.“ Und er marschierte als verschwommener Schatten durch das Tal bis in den nächsten Wald. Niemand war zu sehen. Bevor es stockdunkel wurde, hatte er die gegenüberliegende Höhe erreicht. Er versuchte weiterzukommen, oben wurde es leichter, der Wald war nicht mehr dicht, von Lichtungen unterbrochen, sodass er sehen konnte. Schließlich landete er auf einem kahlen Höhenzug aus abgeschliffenem Felsgestein, auf und ab führte ihn sein Weg. Nichts bot ihm Schutz außer der Dunkelheit. Der Regen hatte aufgehört und zwischen den Wolken leuchtete das Mondlicht. Unheimlich war ihm, bot er doch ein leichtes Ziel für jeden Feind in der Nähe. Doch er lief unermüdlich weiter, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, geriet in Trance und begann zu träumen, sah sich als kleiner Junge auf einem Feldweg in glühender Sonne. Seine Mutter hatte ihm einen Farnzweig abgeschnitten, den er als Sonnenschirm über seinen Kopf halten konnte. Sie liefen auf einem Höhenweg, es war weit bis zu einem Ziel. Sein wie immer ungeduldiger Vater lief voraus, er konnte sich nicht an das Tempo von Kindern und Frauen gewöhnen. „Jeder kann einen Zahn zulegen“, war sein Motto, oder: „Gewöhn dich daran, alles aus dir herauszuholen, man weiß nie, wann man es brauchen kann.“ Die Mutter verdrehte die Augen ob solcher Sprüche. Sie versuchten nicht, den Vater einzuholen. Dafür sang sie zur Ablenkung ein Lied mit ihrem Walterchen: „Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch den grünen Wald und schießt sein Wild daher, gleich wie es ihm gefällt. Juja, juja, gar lustig ist die Jägerei allhier auf grüner Heid, allhier auf grüner Heid.“Ein Schuss krachte und eine Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei. Walter warf sich theatralisch zu Boden und kroch hinter einen Strauch. Er öffnete seinen Mantel, griff zu seiner Pistolentasche am Gürtel, holte seine Mauser 08 heraus und entsicherte sie. Dann hörte er jemand serbokroatisch sprechen. Es hörte sich an wie: „Je, je svinja?“
„Ach so? Ich bin also ein Schwein“ dachte er sich. „Und das gibt dir die Rechtfertigung mich umzulegen, ja?“ Er wartete, bis der Schatten an seinem Strauch vorbeischlich, dann richtete er sich auf, zielte und schoss. Ein Schmerzensschrei ertönte, eine Pistole polterte auf den steinernen Untergrund und ein Wimmern und Jammern folgte. Walter sprang hinter dem Strauch vor und griff sich die Pistole des Angreifers. Er brüllte das einzige Wort auf Kroatisch, das er kannte: „Pob'jediti!“, was soviel wie „Hau ab!“ bedeutete. Er wartete, bis der Kerl in die Richtung lief, aus der er gekommen war und nahm seinen Weg wieder auf. Wie gut, dass er, der im Dienst immer darauf geachtet hatte, sich als miserablen Schützen darzustellen, insgeheim mit Kameraden das Schießen mit der 08 geübt und Spaß daran gefunden hatte, obwohl er sich immer als Pazifist verstand.