Читать книгу Das Brot der Rache - Harro Pischon - Страница 15
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Оглавление„Da-tock, da-tock, da-tock, da-tock“, Beierlein hörte verwundert, wie sich Rackel am Vormittag seinem Zimmer näherte. Seine Beinprothese war für den Rhythmus verantwortlich. Auftakt auf der vier und, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte früher Klavier gelernt, sein Vater hatte ein Klavier geerbt und ihn angehalten, spielen zu lernen. Er selbst wollte nie Klavier spielen. Vater war Proletarier, Kranführer bei der MAN. „Meine Hände sind für so etwas nicht gemacht“, sagte er oft. Rackel riss die Tür auf und sagte atemlos: „Beierlein, zum Chef, sofort! Es ist dringend!“ Ein Haustelefon funktionierte noch nicht. So wurden Nachrichten per Boten weitergegeben, schriftlich, wenn nötig.
Als Rackel weitergehumpelt war, machte sich Beierlein auf den Weg zu Giselher Schwarz, dem Kriminaldirektor. Der hatte ihn ein paarmal in den vergangenen tausend Jahren bei der Gestapo herausgehauen, nachdem ihn zum Beispiel ein neidischer Kollege angeschwärzt hatte. Im Gegensatz zu Beierlein war Schwarz Parteimitglied gewesen, um seiner Laufbahn nicht zu schaden. Diesen Schritt hatte Beierlein nie vollzogen. Aber Schwarz konnte im Zuge seiner Entnazifizierung nachweisen, dass er keine Verbrechen begangen oder unterstützt hatte. Beierlein hatte auch für ihn ausgesagt. Seitdem duzten sie sich.
„Heinz, mir hom a Leich“, begrüßte ihn Schwarz. „Am Kanal, Schleuse 71, bei der Saarbrückener Straß. Fahr halt amal hin. Die Schupo ist vor Ort.“ „Und womit?“, fragte Beierlein. „Wennst kan Holzgaswagen willst, musst du mit'm Motorrad fahrn. Privat hast ja ka Auto, wenn i richtig informiert bin.“ „Na, hob i net“, antwortete Beierlein, „und was kommt, is ka Auto, sondern a Kind.“ „Wann isses denn soweit“, fragte Schwarz. „Na, so an Weihnachten“, meinte Beierlein. „Ja, jeder hat seine Prioritäten“, lächelte Schwarz, „und denk gor net dran, mein Olympia haben zu wollen.“ Er war stolzer Besitzer eines Opel Olympia, Baujahr 1938, den er vor der Beschlagnahme gerettet hatte, aus „dienstlichen Gründen“.
Beierlein ließ sich von der Fahrbereitschaft Schlüssel und Helm für ein Motorrad mit Beiwagen geben. Sein Kriminalassistent Caspary war krankgeschrieben, er war zusammengebrochen, nachdem er seiner Frau offenbart hatte, dass er als in Polen abgestellter Polizeibeamter Kriegsverbrechen miterleben und mit zu verantworten hatte. Sie hatte ihn mit seinem Kind verlassen. Er war nun schon mehrere Monate in der Psychiatrie. Beierlein startete das Motorrad und fuhr am Stadtgraben entlang zum Hauptbahnhof, unterquerte die Gleise und fuhr durch die Pillenreuther Straße, querte seine Humboldtstraße, vorbei am Annapark und der Martin-Luther-Schule bis zum Hasenbuck. An diesem Hügel war Beierlein zum ersten Mal Schlitten gefahren. Über die notdürftig reparierte Brücke über den Rangierbahnhof kam er in die Gartenstadt, einem Siedlungsprojekt mit Wohnungen und Gärtchen hinter dem Haus. Hier, in der Pachelbelstraße, wohnte sein Vater. Er war nicht nur zu alt gewesen für einen Militäreinsatz, sondern auch schwerbehindert seit einem Unfall mit seinem Kran, bei dem er ein Bein verloren hatte. Als er am Südfriedhof vorbeibrauste, dachte Beierlein, dass er ihn besuchen sollte, auf dem Heimweg.
Am Ende der Saarbrückener Straße sah er schon die Absperrung der uniformierten Kollegen und stellte sein Motorrad ab. Er lief ein paar Meter bis zum Ludwigskanal. An der Schleuse stand das Schleusenwärterhäuschen, aber Schiffe fuhren schon lange nicht mehr auf dem bedeutungslos gewordenen Kanal. Außerdem hatten irrtümliche Bombentreffer den Kanal in Richtung Bamberg teilweise verschüttet. Aber die Schleuse 71 war intakt. Neben der Schleusenkammer stand ein schnell aufgebautes Zelt, das den Leichnam vor der gnadenlosen Sonne schützen sollte. Vor dem Zelt standen zwei Polizisten und der Gerichtsmediziner. Beierlein stellte sich vor, zeigte seine Marke. „Gibt es schon Erkenntnisse?“, fragte er.
„Nun, der Tote lag in der Schleusenkammer“, begann der Gerichtsmediziner.
„Wer hat die Leiche entdeckt?“
„Ja, a Kind leider, das übern Steg gelaufen ist und ins Wasser gschaut hat“, seufzte ein Polizist. „Es is hamglaufn und hat seine Eldern benachrichtigt.“
„Todesursache?“
„Wahrscheinlich Ertrinken, aber voraus ging ein heftiger Schlag mit einem stumpfen Gegenstand gegen den Hinterkopf. Der Mann war wohl ohne Bewusstsein, als man ihn ins Wasser warf.“
„Irgendwelche Blutspuren im Schleusenbereich?“
Die Polizeibeamten schüttelten ihre Köpfe. „Mir hom alles abgsucht. Den habens woanders derschlogen.“
„Aber“, machte einer der beiden auf sich aufmerksam, „mir hom an Führerschein gfundn.“ Er reichte Beierlein den in Papier eingewickelten Ausweis, der völlig durchweicht war. Beierlein zog seine Baumwollhandschuhe an und schaute sich das Papier an. Es war ein Luftwaffenflugzeugführerschein, ausgestellt 1940, mit den Beförderungen bis zum Oberleutnant und verschiedenen Flugmustern, Me 109, Me 110 und, Beierlein pfiff durch die Zähne, der Me 262, dem Strahlflugzeug der Luftwaffe. Der Name war Robert Tennstedt. „Auch kein fränkischer Name“, dachte Beierlein und schaute nach dem Geburtsort: Lüneburg. Ein Nordlicht also. Aber eine Adresse war dem Ausweis nicht zu entnehmen. Dann musste er die Fliegerhorste abklappern, zunächst einmal die nahe gelegenen. Er fürchtete, Flugplätze, von denen der Düsenjäger gestartet war, seien weiter weg gewesen. Er hatte keine Ahnung, wen er fragen könnte. Aber er wusste, dass am Marienberg ein Flugplatz existierte, der allerdings weitgehend zerstört war. Sein Vorläufer als Flughafen war in Atzenhof bei Fürth, außerdem gab es noch den Fliegerhorst Roth. Die Amerikaner benutzten keinen der Flugplätze, ihre Maschinen landeten auf der Großen Straße beim ehemaligen Reichsparteitagsgelände.
Die Frage nach dem Todeszeitpunkt wehrte der Forensiker ab. „Waßt eh, Obduktion abwarten. Der hot im kalten Wasser gelegen. Nach dem Zustand der Leiche tät ich sagen, vielleicht zwei, drei Tage.“
Beierlein zückte sein Notizbuch und schrieb die bekannten Fakten auf, dazu die Statur von Tennstedt, schlank, athletisch, etwa 180 cm groß, gut gekleidet, teurer hellgrauer Anzug, blaue Seidenkrawatte, vermutlich handgefertigte schwarze Schuhe.
Die beiden Beamten wies Beierlein an, in der Nachbarschaft zu fragen, ob den Toten jemand kenne oder gesehen habe. „Ich geh a nu amol rum, merkt euch, wo ihr schon wart, damit wir nicht zweimal die Leute fragen. Ich ruf auf eurer Wache an.“
„In der Saarbrückener, am Friedhof!“, erklärten die beiden. Beierlein winkte ab, das wusste er eh.
Er verzichtete darauf, seinen Vater zu besuchen, es gab zuviel zu tun. Otto Beierlein hatte noch aus Vorkriegszeiten ein Fahrrad mit Hilfsmotor, mit dem er durch sein Viertel knatterte, mal zum Einkaufen, mal auf eine Halbe. Gern verbrachte er den Abend in seinem Gärtchen. Er war allein, die Mutter war 1943 bei einem Luftangriff umgekommen, als sie in der Altstadt ihre Cousine besuchte. Sie lag auf dem Südfriedhof und war ein weiteres Ziel von Otto, der täglich am Grab stand und mit ihr redete.
Beierlein fuhr ins Präsidium und redete mit Schwarz. Der empfahl ihm, den ehemaligen Fürther Flughafen in Atzenhofen aufzusuchen, auch der Werksflugplatz der BBF, der Bachmann, von Blumenthal & Co Flugzeugbau auf der Hardhöhe, könnte vielversprechend sein. Überall saßen jetzt ja die Amerikaner, sodass es am besten sei, hinzufahren und jemand zu finden, der genug Deutsch sprach. „Mitm Motorradl kommst ja überall hin“, lächelte Schwarz sardonisch, „am besten glei morgen in der Früh.“
So kam es, dass Beierlein nach Dienstschluss mit dem Motorrad nach Hause fuhr. Er schlug vor noch auf die Wöhrder Wiese ins Freibad zu fahren. Gerda könnte auf der Wiese sitzen und zuschauen, wie er schwomm. Vor allem wäre sie im Beiwagen völlig sicher. Erstaunlicherweise stimmte sie zu, packte ein paar Sachen und sie fuhren am späten Nachmittag los.