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ABBAS BERICHT 1

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Wilna, du friedliche Insel inmitten des Krieges, zwischen Russen und Deutschen, du „Jerusalem Litauens“, wie dich Napoleon 1815 genannt hat. 200 000 Menschen leben 1939 in deinen Mauern, ein Drittel davon Juden. Es gibt viele Fraktionen: die Zionisten, die Kommunisten, die Bundisten, die Orthodoxen und die Assilmilierten, die Litauer oder Polen sein wollten. Alle misstrauen sich gegenseitig, haben ihre eigenen Regeln und Rituale. Am 15. Juni 1940 marschieren die Russen in Wilna ein. Sie brauchen nur einzumarschieren, niemand wehrt sich. Sie lösen die Regierung auf, besetzen die Rundfunkstationen und – sie verbieten die zionistischen Jugendorganisationen, meine „Junge Garde“ und die „Betar“. Wir tauchen unter und treffen uns in Kellern. Es gibt heftige Diskussionen: Stalin befiehlt allen Flüchtlingen, die sowjetische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Wenn Juden sowjetische Staatsbürger werden, sind sie keine Flüchtlinge mehr, haben auch keinen Anspruch auf Ausreisepapiere nach Palästina. Sind sie keine Staatsbürger, können sie jederzeit vom NKWD verhaftet werden. Die meisten von uns lehnen die Staatsbürgerschaft ab und vertrauen auf ihr Glück. Danach werden Dutzende von Juden verhaftet, verurteilt und nach Sibirien abgeschoben, so auch der Betar-Führer Menachem Begin.

Im Juni 1941 greifen die Deutschen die Sowjetunion an, noch mehr Flüchtlinge suchen in der Stadt Zuflucht, verstopfen die Straßen nach Osten. Die Wehrmacht besetzt kurz darauf Wilna.

Anfang September 1941 räumen die Deutschen das alte Ghetto, verhaften jeden Juden, den sie erwischen und bringen sie in den nahe gelegenen Wald nach Ponar. Das Ghetto wird für seine neuen Bewohner vorbereitet, für dreißigtausend Juden statt tausend.

Verantwortlicher für das Ghetto ist ein SS-Offizier, der Standartenführer Franz Murer, ein fanatischer Antisemit. Er lässt die jüdischen Ghettobewohner arbeiten, sie sollen Munition oder auch Kleidungsstücke herstellen, Mützen, Mäntel, Stiefel. Der Winter steht bevor. Am Eingang zum Ghetto gibt es strenge Kontrollen, damit keine Lebensmittel oder andere Gegenstände ins Ghetto gebracht werden. Oft übernimmt Murer selbst die Durchsuchung und beteiligt sich an den Prügelstrafen, wird etwas gefunden. Seine Befehle werden von der litauischen Polizei, von der SS und den Einsatzgruppen ausgeführt.

Murer ernennt einen Judenrat, die für Ordnung sorgen soll und eine Art Selbstverwaltung darstellt. Außerdem gründet er auch eine jüdische Polizei und macht Jakob Gens zum Polizeichef. Gens diente in der litauischen Armee und verkehrte in den höchsten Kreisen. Er hätte nicht ins Ghetto gehen müssen, hätte nur seinen Namen ändern müssen, aber er ging freiwillig. Etliche junge Juden meldeten sich zum Polizeidienst, darunter auch eine Reihe von Mitgliedern der Jungen Garde. Sie sahen ihre Aufgabe darin, das Überleben der Juden durch Kleidung und Nahrung zu gewährleisten, bis der Krieg vorbei war. Ich glaubte nie an diese Form des gewaltlosen Widerstands, so wie sich die Deutschen gebärdeten.

Am 23. Oktober 1941 gehen die Arbeiter wie immer außerhalb des Ghettos arbeiten. Die zurückgebliebenen Familien sollen sich im Hof des Judenrats einfinden. Dann stürmen litauische Soldaten das Ghetto, schleifen jeden aus den Häusern, den sie erwischen. Am Ende des Tages werden sie viertausend Juden getötet oder verschleppt haben. Es war eine durchsichtige Aktion mit dem Ziel, Unfrieden zu stiften zwischen den Privilegierten mit Arbeitsscheinen und denen, die keine hatten.

Diese Aktionen wiederholen sich in der kommenden Zeit mehrfach, immer werden neue Arbeitsscheine verteilt, immer werden die Straßen und Häuser gestürmt und untersucht. Angeblich wurden die Bewohner „in den Osten umgesiedelt“. Es tauchen sogar Briefe mit estnischen oder weißrussischen Marken auf, die kurze beruhigende Botschaften enthalten. Wir sehen das als Fälschungen an. Einige von der Jungen Garde, die sich dafür eignen, sind auch Kuriere außerhalb des Ghettos, wie Lebke, der zufällig über das Aussehen eines blonden, kräftigen Deutschen verfügt und, wie er uns grinsend offenbart, noch nicht einmal beschnitten ist, weil er als Frühgeburt zu schwach war.

Ich bin seit November in einem Kloster außerhalb der Stadt untergetaucht, zusammen mit sieben weiteren Zionisten. Wenn wir draußen auf den Feldern arbeiten, tragen wir Nonnentracht.

Eine junge Jüdin besucht mich im Kloster und erzählt von einem Mädchen, das Massenerschießungen im Wald außerhalb von Wilna beobachtet und erlebt hat. Gens hat sie zum Schweigen verdonnert. Wir gehen ins Ghetto zum Krankenhaus und bitten das Mädchen Sara zu

erzählen.Lastwagen haben sie in den Wald gebracht. Auf einer Lichtung standen etwa 100 Menschen, sie wurden in Zehnergruppen aufgeteilt. Soldaten holten jeweils eine Gruppe, führten sie in den Wald, dann hörte man Schüsse. Als Saras Gruppe an der Reihe war, mussten sie ihre Kleider ausziehen und auf einen Haufen legen. Dann standen sie vor einer Grube mit leblosen Körpern. Die Russen hatten diese Gruben für Treibstofftanks ausgehoben. Dann kam der Befehl: „Auf die Knie!“, und es wurde geschossen. Sara wurde am Arm getroffen und wachte später auf, zwischen lauter Leichen. Sie wartete noch stundenlang, bis das Gegröle der litauischen und deutschen Soldaten aufhörte. Dann kroch sie über Gesichter, Arme und Körper von Leichen, zog sich aus der Grube, versteckte sich im Wald und schleppte sich endlich nach Wilna.

Das Brot der Rache

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