Читать книгу Das Brot der Rache - Harro Pischon - Страница 11
DIE RÜCKKEHR 1
ОглавлениеZum letzten Mal ging er das Geviert seiner Wache ab. In der Mitte wartete der Rucksack, sein Gefährte für den Weg nach Hause. Sorgfältig hatte er im Laufe von Wochen zusammengetragen, was er brauchte fürs Überleben: Ein Messer, einen Kompass – wenigstens den, denn Karten konnte er nicht entwenden – ein Fernglas, ein Sturmfeuerzeug und Streichhölzer, denn das Feuerzeugbenzin würde zur Neige gehen. Einen Aluminiumkochtopf, eine Feldflasche mit Wasser, eine Rolle Draht und eine mit Schnur. Ein Säckchen mit Salz, eins mit Zucker und natürlich Brot, Brot, Brot. Was er an Kleidung brauchte, hatte er am Leib: die Uniformjacke, den Mantel, die Mütze in der Tasche. Den Helm würde er ebenso wegwerfen wie den Karabiner. Allenfalls die Pistole würde er behalten, mindestens, solange er noch auf Partisanengebiet war. Wer gerade welches Gebiet beherrschte, war nicht vorhersehbar: die Titopartisanen, die Tschetniks, selbst die Ustaschaleute garantierten nicht mehr, sich als Verbündete zu verhalten, jetzt, nach der Niederlage. Und Wölfe oder gar Bären kümmerten sich schon gar nicht um einen Kapitulanten. Gestern Abend hatte der Zugführer die Kapitulation verkündet, am 10. Mai. „Wir werden geschlossen und ehrenhaft in britische Gefangenschaft gehen!“, war sein Appell gewesen. Aber hinunter nach Rijeka waren es 30 Kilometer. Vielleicht erwarteten sie auf dem Weg schon Partisanen. Und woher wussten sie, dass die Engländer in der Hafenstadt noch das Heft in der Hand hatten, es nicht an die Titoisten übergeben hatten? Dann würden sie eher geschlossen in den Tod gehen.
Walter dachte nicht lange darüber nach, ob er nun ein Deserteur war. Selbst wenn ihn durch Zufall eine deutsche Einheit auf seinem Weg aufgriffe, könnte er immer sagen, dass alle anderen aufgerieben worden waren. Ob ihn „seine“ Leute verfolgten? Er hatte eine Stunde Vorsprung vor dem Wachwechsel. Eher würden sie annehmen, dass ihn Partisanen gekidnappt hatten. Vielleicht sollte er seinen Helm liegen lassen, als ob er ihn bei einem Angriff verloren hätte. Er legte den Helm umgedreht hinter den Stein, wo sein Rucksack verborgen war. Den schulterte er und ging zuerst vorsichtig, dann immer rascher auf der Höhenlinie nach Nordwesten. Die Nacht war klar, er konnte die Felsen sehen, die Sträucher. Erst weiter hinten begann der Wald, den er aufsuchen würde, wann immer es ging.
Mit allen notwendigen Umwegen hatte er etwa 800 Kilometer Weg vor sich. Aber er war mit seinen 35 Jahren Entbehrungen gewohnt, war immer viel gelaufen, nicht nur in den knapp zehn Monaten, die er jetzt beim SD war. Nicht freiwillig, beileibe nicht. Er hatte gehofft, das Kriegsende zuhause zu erleben, war er doch immer wieder zurückgestellt worden, weil er kriegswichtige Arbeit leistete. Er war Konstrukteur und technischer Zeichner bei Siemens und fertigte die Produktionszeichnungen für Flak-Scheinwerfer, für Geschützlafetten und anderes militärische Gerät an. Im Frühherbst 44 aber war es so weit: Sein Chef, Manfred Wagner, rief ihn zu sich. „Grund, ich kann Sie leider nicht mehr halten. Das hier ist ein Gestellungsbefehl vom SD, dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Melden Sie sich noch heute in der Süd-Kaserne in der Frankenstraße.“ Walter Grund schluckte. Ausgerechnet in die „SS-Kaserne“, wie sie im Volksmund hieß! Am Ende landete er als Aufsicht in einem Konzentrationslager! Dann schickten sie ihn nach Jugoslawien zur Partisanenbekämpfung. Schlimm genug, musste er mit der Einsatzgruppe E und im Einsatzkommando 16 an einigen Strafaktionen gegen die Zivilbevölkerung teilnehmen, ganze Dörfer in Kroatien entvölkern. Vielleicht hätte er noch gegen Soldaten gekämpft, aber wehrlose Zivilisten, gar Frauen und Kinder zu erschießen, das ging ihm zu weit. Das kleine Dorf in einer Mulde tauchte vor seinen Augen auf. Er war zur Sicherung eingesetzt, musste zusehen, wie seine Kameraden, nie mehr danach hatte er diese Bezeichnung wieder verwendet, wie sie Dorfbewohner außerhalb der Häuser zusammentrieben, wie sie in die Häuser eindrangen, schossen, wie sie die Zusammengetriebenen in eine Scheune pferchten, die Türen verschlossen und die Scheune anzündeten, anzündeten wie das ganze Dorf. Die mordlüsternen Schreie der SD-Soldaten mischten sich mit den entsetzten, todesängstlichen der Bewohner. Bei einer anderen Gelegenheit musste er mit in das Dorf gehen. Er „säuberte“ allerdings kein Haus, musste aber mit seinem vorgehaltenen Gewehr schießen, unter der Aufsicht des Untersturmführers. Er schoss konsequent darüber.
Nur einmal schoss er gezielt, als das Lager von Partisanen überfallen wurde und er in Beschuss geriet. Er wusste sein Leben nicht anders zu retten, als dass er auf das Mündungsfeuer in einem Gebüsch zielte. Als der Überfall vorüber war, suchte er nach der Leiche und fand einen jungen Kerl, noch keine zwanzig, der an einem Lungensteckschuss verblutet war.
Er zog sich noch weiter zurück, sonderte sich ab. Nur Erich suchte immer wieder seine Nähe, vertraute ihm anscheinend und flüsterte ihm mehrmals seine Bereitschaft zu, mit ihm gemeinsam „abzuhauen“. Erich, wie er ein „Spätberufener“, so nannten die anderen spöttisch Leute wie sie beide, die zuletzt noch eingezogen wurden, Erich war Ingenieur und erzählte oft von Flugmotoren, ja von Strahltriebwerken, an denen er gebaut hatte. Er war ein hagerer, nervöser Enddreißiger mit Halbglatze. Angeblich hatte ihn ein Konkurrent denunziert, weil er die Sinnlosigkeit solcher V-Waffen erwähnt hatte.
Walter hielt nichts von einer gemeinsamen Flucht. Das Risiko der Entdeckung war für zwei Männer viel größer, sie machten mehr Lärm, sie fielen eher auf, sie konnten in Konflikte geraten über den Weg. Er war es gewohnt, alleine zu entscheiden. Erich blieb, wo er war.
Walter wusste, wenn er sich Nordnordwest hielt, würde er, auf dem Höhenzug bleibend, zum Krainer Schneeberg kommen, dem Sneznik. Noch eilte er durch den Wald, um Abstand vom Lager zu gewinnen. Er war ausgeruht, er war satt, die Reise hatte begonnen.