Читать книгу Die bedeutendsten Mystiker - Hartmut Sommer - Страница 13
MYSTISCHE VISIONEN
ОглавлениеKern der mystischen Erfahrung ist die unmittelbar über die geistlichen Sinne wahrgenommene göttliche Berührung im Seelengrund. Treten dabei Visionen auf, von denen vor allem die mittelalterlichen Mystiker berichten, sind sie nur Begleiterscheinung der viel innerlicheren Gottesbegegnung. Als ihr Abglanz und seelischer Widerhall können sie jedoch etwas von der überströmenden Fülle des Erfahrenen in sinnlichen Bildern übermitteln. Die von visionären Mystikern überlieferten Texte zeigen ihr Ringen mit dem kaum Mitteilbaren und ihre vorsichtige Annäherung an das mystische Erleben. Und gerade die großen Meister bleiben nüchtern und selbstkritisch, sie warnen vor Fehldeutungen, da echte mystische Visionen nur schwer von Erinnertem und Eingebildetem zu unterscheiden sind. Visionen werden von ihnen daher nur mit großer Zurückhaltung gedeutet. Jan van Ruysbroeck etwa sieht die Gefahr der Selbsttäuschung, wenn Falsches und Subjektives leichtgläubig für göttliche Eingebung gehalten wird. Wahr kann an solchen Visionen nur sein, was mit der biblischen Botschaft in Einklang steht. Prüfstein für die Echtheit einer mystischen Erfahrung – und auch hierin sind sich die großen Meister der Mystik einig – ist die Umwandlung des Menschen zum Guten, eine liebevolle Gelassenheit, die sich danach einstellt. Bleibt sie aus, ist eher Täuschung oder Einbildung anzunehmen. So lehrten es unter anderem Teresa von Ávila und die Begine Mechthild von Magdeburg.
Während der moderne Mensch seine Empfangsfrequenzen nur noch auf das rational Fassbare und Erklärbare eingestellt hat, war die Antenne des mittelalterlichen Menschen vor allem auf das Jenseits ausgerichtet, voller Sorge um das eigene Seelenheil. Was bei uns Heutigen im Rauschen der Alltagsbetriebsamkeit untergeht oder rasch als Fehlleistung des Nervensystems beiseite geschoben wird, hat der mittelalterliche Mensch mit hoher Empfindsamkeit und Aufmerksamkeit wahrgenommen. Wenn es dem modernen Menschen aber gelingt, sein inneres Auge für das Göttliche zu öffnen, das ihn ansprechen will, erfährt er die mystische Begegnung eher bildlos und damit durchaus näher am Eigentlichen dieses höchst innerlichen Geschehens. Der Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623–1662) notierte sich nach einem mitternächtlichen Zustand der Entrückung: „Feuer … Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede.“ Simone Weil (1909–1943), sozialistische Aktivistin und Philosophin, spricht von der Gegenwart einer Liebe, Dag Hammarskjöld (1905–1961), schwedischer Politiker und zweiter UN-Generalsekretär, von einer alle Grenzen auflösenden Geborgenheit, die Philosophin und Karmelitin Edith Stein von einem belebenden Zustrom.