Читать книгу Die bedeutendsten Mystiker - Hartmut Sommer - Страница 24
GREGOR DER GROSSE (UM 540–604)
ОглавлениеGregor I. war der zweite Papst nach Leo I., der den Ehrentitel „der Große“ erhalten hat. Leo führte während seines Pontifikats (440–461) die Kirche unbeschadet, ja sogar gestärkt durch die kriegerischen Wirren während der Germaneneinfälle, die schließlich 476 zum Untergang des weströmischen Reichs geführt haben. Gregor ist es zu verdanken, dass die Kirche dann in den neuen, von den siegreichen germanischen Völkern beherrschten Reichen Wurzeln schlagen konnte. Damit hat er den Übergang von der antiken zur christlich-abendländischen Kultur des Mittelalters eingeleitet. Gregor übte das Amt des Papstes mit großer Tatkraft aus, obwohl er es nur widerstrebend angenommen hat, denn er fühlte sich zum mönchischen Leben hingezogen. Es ist ihm gelungen, trotz seiner aufreibenden Aufgaben einer religiösen Innerlichkeit verbunden zu bleiben und bedeutende theologische Werke zu schaffen. Seine Anleitungen für ein der mystischen Schau hingegebenes Leben und die von ihm verfasste Lebensgeschichte des Mönchsvaters Benedikt von Nursia hat die Klosterspiritualität des Mittelalters maßgeblich geformt.
Als Gregor um 540 in Rom geboren wurde, war die christliche Kirche bereits römische Volkskirche. Die Adelsfamilie, der er entstammte, hatte zwei Päpste hervorgebracht (Felix III. und Agapet I.), und ihre Mitglieder bekleideten hohe Staatsämter. Auch Gregor selbst wurde 573 als noch recht junger Mann Praefectus urbi, der höchste Verwaltungsbeamte Roms. Die antike Welt, der er nach Abstammung und Bildung ganz zugehörte, lag bereits in Trümmern. Rivalisierende germanische Stämme kämpften auf dem Boden des untergegangenen weströmischen Reichs um die Vorherrschaft und rissen es in Stücke. Seit 568 drangen die Langobarden in Italien immer weiter vor. Gregor sollte das Ende ihres ausdauernden Eroberungskrieges nicht mehr erleben. Bis auf eine kurze Periode während seiner Jugend, in der Italien vom oströmischen Kaiser Justinian I. noch einmal für fünfzehn Jahre (553–568) zurückerobert und befriedet werden konnte, war seine Lebenszeit von Kriegen geprägt.
So schon früh über die Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit des Seins belehrt, kehrte er sich 575, nach seinen eigenen Worten „von himmlischer Sehnsucht erfüllt“, vom weltlichen Streben ab, das er angesichts des Schwindens aller festen Autorität und Sicherheit nur noch als „Schiffbruch dieses Lebens“ empfinden konnte. Er lebte fortan als Mönch, allerdings in recht standesgemäßer Form, nämlich im eigenen, von ihm selbst im elterlichen Palast auf dem Caelius in Rom gegründeten Kloster. Damit blieb er ein prominentes Mitglied der römischen Gesellschaft, und es war nur natürlich, dass ihn die Kirche für höhere Aufgaben im Auge behielt. Er entstammte einer der angesehenen altchristlichen Familien, hatte eine hohe Bildung und Verwaltungserfahrung. Ein guter Griff also von Papst Pelagius II. (579–590), dass er Gregor 579, gleich nach Antritt seines Pontifikats als Botschafter nach Konstantinopel entsandte, in die kaiserliche Hauptstadt von Byzanz, der hochgefährdeten und erschöpften, aber immerhin noch intakten östlichen Hälfte des Römischen Reiches. Der Kaiser des byzantinischen Reichs verstand sich zugleich als Oberhaupt der christlichen Staatskirche. Damit bekleidete Gregor das damals wohl wichtigste politische Amt, das der Papst zu vergeben hatte. Er verließ nicht gerne die stille Zurückgezogenheit auf dem Caelius, ließ sich aber pflichtbewusst in den Dienst nehmen und übte seine Aufgabe zuverlässig und mit großem Geschick aus. Dabei musste er stets mit seiner angeschlagenen Gesundheit kämpfen, denn als Folge einer extrem asketischen Fastenpraxis während der Zeit seiner mönchischen Zurückgezogenheit litt er unter chronischen Magenbeschwerden.
Auch auf seinem Botschafterposten war er bestrebt, zusammen mit einigen Mitbrüdern, die ihn begleitet hatten, das klösterliche Leben fortzusetzen und durch Versenkung in das göttliche Wort der Erfüllung seiner „himmlischen Sehnsucht“ näherzukommen. Neben seinem Amt schrieb er einen umfassenden Kommentar zum Buch Ijob, hier schon seiner Vorliebe für die alttestamentlichen Schriften und deren Auslegung als Vorausdeutung auf das Neue Testament folgend. Wie es Origenes gelehrt hatte, wollte er zum geistlichen Sinn der heiligen Schriften vorstoßen. Gregor sah ihn in Allegorien verschlüsselt, weil die stumpfe Seele des gefallenen Menschen das direkte göttliche Wort nicht erfassen kann. Wir müssen den verborgenen Sinn hinter den uns bekannten Bildern der Allegorien lesen, „denn in Dinge, die uns bekannt sind und durch die die Allegorien gebildet werden, werden die göttlichen Gedanken gekleidet, und während wir die äußeren Worte wiedererkennen, gelangen wir zur inneren Einsicht“, erläutert Gregor in der Einleitung zu seiner Hohelied-Auslegung. Den Kuss des Bräutigams etwa in dieser altorientalischen Liebesdichtung legt er als innere Berührung durch die göttliche Gnade aus. Auch in der allegorischen Auslegung des Hohenliedes war er von Origenes angeregt. Alles Streben danach, immer tiefer in den eigentlichen Sinn der Schrift einzudringen, ist letztlich darauf angelegt das Innerste Gottes zu schauen. So wie sich die Kirche im Allgemeinen auf die Ankunft des Herrn vorbereitet, so muss sich jede Seele bereit machen für „den Einzug Gottes in ihr Herz“. Anders als für die scholastischen Philosophen und Theologen des Hochmittelalters ist für Gregor und die Mönchstheologie nach ihm diese Herzensschau mit dem Mittel der symbolisch-allegorischen Schriftauslegung der wahre Weg zur Gotteserkenntnis. Philosophie dagegen ist ihm lediglich „Weisheit der Welt“, die sich in maßloser Selbstüberschätzung über die begrenzten Möglichkeiten des Verstandes erheben will.
Nach siebenjähriger Tätigkeit auf seinem Auslandsposten konnte Gregor 586 in seine römische Heimat zurückkehren. Er diente Pelagius nun als politischer Berater und enger Vertrauter. Im Jahr 590 wurde Rom von einer schweren Pestepidemie heimgesucht, die auch den Papst hinwegraffte. Gregor war als erfahrener Kirchenpolitiker und durch seinen vorbildlichen christlichen Lebenswandel höchst geeignet für die Nachfolge und wurde mit großer Zustimmung zum neuen Papst gewählt. Er sträubte sich zunächst, bedeutete dieses höchste Kirchenamt doch den endgültigen Abschied von einem zurückgezogenen, rein kontemplativen Leben. Schließlich aber nahm er die Wahl an und ging mit der ihm eigenen Weltklugheit und Entschlossenheit unverzüglich ans Werk. Die zu lösenden Aufgaben waren gewaltig und überwiegend weltlicher Natur, denn das schwache Byzanz hatte Rom und Italien weitgehend sich selbst überlassen. Der Kirche wuchsen damit Aufgaben als Ordnungsmacht zu, die sie zwar stärkten, aber auch mit weltlicher Macht und Besitz ausstatteten oder vielmehr belasteten, was später zu verhängnisvollen Fehlentwicklungen führen sollte. Gregors Wirken jedenfalls war segensreich. Noch wütete die Pest, als er sein Pontifikat antrat, und vor den Stadtmauern türmten sich die Leichenberge. Mit einer großen Bittprozession stärkte er die Hoffnung der Menschen auf ein Abklingen der Seuche. Es wird berichtet, während der Prozession sei ihm in einer Vision der Erzengel Michael über der Engelsburg erschienen, der ihm bedeutete, dass die Seuche bald vorbei sein würde, indem er sein Schwert in die Scheide steckte. Der Name „Engelsburg“ ist darauf zurückzuführen. Entschlossen und umsichtig ergriff er die notwendigen Maßnahmen, wo immer es nötig war, um Not und Leid zu lindern. Er baute eine Armenfürsorge auf, sorgte für die zahlreichen, vom Krieg aus ihrer Heimat vertriebenen Flüchtlinge und sicherte die prekäre Nahrungsmittelversorgung, indem er die landwirtschaftlichen Güter der Kirche neu ordnete und zu höchst leistungsfähigen Betrieben umgestaltete. Er setzte all sein diplomatisches Geschick ein, um die Langobarden von der Eroberung Roms abzuhalten, was ihm durch Zusage von Tributzahlungen und der Aushandlung eines Friedensabkommens auch gelang. Die mehr als achthundert erhaltenen Briefe von seiner Hand zeugen von umfangreichen diplomatischen und seelsorgerischen Aktivitäten.
Die größte Leistung Gregors als Papst aber ist seine Hinwendung zu den germanischen Völkern, deren zukünftige Rolle als neue Führungsmächte er klar erkannte. Er festigte umsichtig die Beziehungen zu diesen jungen, wilden Völkern, die mit der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig I. (466–511) im Jahr 496 ihren Anfang genommen hatten. Den von ihm nach England entsandten Missionaren schärfte er ein, den heidnischen Traditionen und Kultstätten der Angelsachsen mit Respekt zu begegnen, um sie dann aber christlich umzudeuten. Die Mission erwies sich als durchschlagender Erfolg. Gregor erlebte noch, dass Augustinus, der Prior des Andreasklosters in Rom und Leiter der Missionen in England, das Bistum von Canterbury gründen konnte. Bald wurden die Angelsachsen selbst zu äußerst aktiven und erfolgreichen Missionaren bei den Sachsen und Friesen. Gregor hat damit die Wende zur christlich-abendländischen Kultur des Mittelalters vorbereitet, die ihre besondere Prägung aus der Einheit von Germanentum und antik-römischer Tradition der Kirche empfangen hat.
In seinen Schriften klagt er über die Ablenkungen, die von den vielen weltlichen Aufgaben ausgehen, denn so „vermag sich die Seele nicht immerfort in sich selbst zu sammeln, weil sie in so vielerlei geteilt ist“. Vor allem sieht er die Gefahr, dadurch vom Eigentlichen seines „Wächteramtes“ abgezogen zu werden, das er uneingeschränkt angenommen hat. Er selbst als Papst und jeder Geistliche ist für ihn „Wächter“, der mit seinem untadeligen Vorbild vor allem die Seelen auf den richtigen Weg, das heißt zum Glauben führen soll, woraus dann erst richtiges Handeln folgen kann. Kontemplatives, der Glaubensversenkung hingegebenes Leben und das der Welt zugewandte, tätige Leben müssen im Gleichgewicht sein. Die äußere Wache über die weltlichen Angelegenheiten verliert Maßstab und inneren Schwerpunkt, wenn die innere Wache über das geistliche Leben verloren geht. Das kontemplative Leben steht für ihn über dem tätigen Leben, denn es erlaubt bereits in diesem Leben eine Vorahnung der beseligenden Schau, die wir im ewigen Leben erfahren werden. Es gewährt bereits jetzt „die kommende Ruhe in innerem Verkosten“. Aber er sieht auch das tätige Leben in seinem Eigenwert, durch das man auch „ohne Beschauung ins himmlische Vaterland eingehen“ kann. Tätige, gute Werke sind unabdingbar für unser Heil, während die mystische Schau zwar eine hohe göttliche Gnade, aber verzichtbar ist. Dies ist eine der wesentlichen Lehren Gregors für das Leben aller Gläubigen. Obwohl er in Geistlichen und Ordensleuten einen herausgehobenen Stand sieht, der am ehesten zur mystischen Schau befähigt ist, betont er doch, dass niemand von der „Gnade der Beschauung ausgeschlossen werden könnte; so kann jeder, der sein Herz in innerer Sammlung bewahrt, vom Licht der Beschauung erleuchtet werden“.
Seine von weiser Lebenspraxis, Menschenkenntnis und tiefem Glauben geprägten Verhaltensregeln für Geistliche hat Gregor in seiner Regula pastoralis zusammengefasst, die zur verbindlichen Richtschnur für Priester wurde. Seine vier Bücher über das Leben und Wirken von Heiligen haben die Volksfrömmigkeit nachhaltig geprägt; insbesondere seine darin enthaltene Lebensbeschreibung des Mönchsvaters Benedikt von Nursia war wirkmächtig, indem sie die Klosterspiritualität des Mittelalters im Sinne der benediktinischen Auffassung des Klosterlebens beeinflusste. Seine Predigten über die Evangelien wurden bis in die Neuzeit gelesen. Mystische Theologie hat Gregor vor allem in seinen Predigten über das alttestamentliche Buch Ezechiel und über das Hohelied entwickelt. Für Gregor ist es die Herzensschau, die uns über den geistigen Schriftsinn zur mystischen Erhebung voranschreiten lässt. Dies verlangt eine zunehmende Schärfung unserer inneren, geistlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Üblicherweise sind wir ganz in unsere weltlichen Belange und Bestrebungen verstrickt, wir hören nur mit dem leiblichen Gehör die Stimme des Fleisches. Wenden wir uns nach innen, indem wir die gegenständlichen Bilder aus uns vertreiben, hören wir die Stimme der Seele als Widerklang des Göttlichen in uns. Versenken wir uns in die Welt der geistigen Wesen, der Engel, „wie sie der Seligkeit anhängend selig sind“, hören wir bereits die Stimme vom Firmament und nähern uns dem göttlichen Geheimnis weiter an, erreichen es aber noch nicht. Erst wenn wir alles Geschaffene übersteigen und alle Aufmerksamkeit „im Licht des Glaubens“ allein auf Gott richten, hören wir die Stimme oberhalb des Firmamentes, die göttliche Stimme in uns. Dann verstehen wir, dass Gott ein Sein ist, „welches alles hält, alles erfüllt, alles umfasst, alles übersteigt, alles trägt. Nicht anders trägt er, als er übersteigt, nicht anders erfüllt er, als er umfasst, vielmehr erfüllt er im Umfassen, umfasst im Erfüllen, übersteigt im Tragen und trägt im Übersteigen“.
Gregor ist diesen mystischen Weg wohl selbst zu Ende gegangen. Wenn er von der Entrückung der Seele zur Schau des Göttlichen spricht, fügt er traurig an, dass sie danach unweigerlich „vom Gewicht ihrer Sterblichkeit“ wieder zurückgezogen wird in ihr altes Leben. Ein sicheres Indiz dafür, dass er aus eigenem Erleben spricht. Von Augustinus etwa und vielen anderen erfahrenen Mystikern kennen wir ähnliche Berichte.
Im Jahr 604 ist Gregor in Rom gestorben. Er zählt zu den bedeutendsten Päpsten und Kirchenlehrern. 1295 wurde er heiliggesprochen.