Читать книгу Die bedeutendsten Mystiker - Hartmut Sommer - Страница 20
AUGUSTINUS (354–430)
ОглавлениеAugustinus hat die christliche Theologie und Philosophie zu einem ersten Höhepunkt geführt. Er übte bis zu seinem Tod nur das bescheidene Amt eines Bischofs im unbedeutenden nordafrikanischen Hippo aus, aber die tiefgründigen Fragen, die er aufgeworfen und durchdacht hat, etwa nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und Gottes vorausschauendem Wirken, beschäftigen die Theologie bis heute. Vor allem das Vorbild seiner radikalen Umkehr in der Lebensmitte, getrieben von der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben und erschüttert von der Erfahrung göttlicher Nähe, hat die Mystiker nach ihm auf den Weg geschickt. Seine um das Jahr 400 verfassten „Bekenntnisse“ sind eine Lebensbeichte, die seinen Weg von verzweifelter Orientierungslosigkeit bis zur befreienden Glaubenssicherheit schildert. Es ist ein außerordentliches Dokument religiöser Innerlichkeit, das bis heute mit zeitloser Unmittelbarkeit berührt. Leitstern seines Lebens waren die berühmten einleitenden Worte seiner „Bekenntnisse“: „Auf dich hin [Gott] hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“
Augustinus stand Anfang seiner Dreißigerjahre, etwa um 385, an einem Scheideweg: Sollte er die ungeahnten Möglichkeiten ergreifen, die ihm einen Aufstieg bis in höchste Verwaltungsämter versprachen, oder seiner immer lauter sich meldenden inneren Stimme folgen, die ihn zu einem einfachen, sinnhaften Leben rief, fern von der Oberflächlichkeit eines an Macht und Geltung orientierten Strebens? Einflussreiche Freunde hatten dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Nordafrikaner den Weg nach Mailand, in das damalige Machtzentrum des weströmischen Reiches, geebnet, indem sie ihm eine Anstellung als Rhetoriklehrer und Redenschreiber am kaiserlichen Hof verschafften. Einerseits war das der gesellschaftliche Erfolg, den er angestrebt hatte. Er trennte sich sogar von seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er einen bereits zehnjährigen Sohn hatte, da diese nicht standesgemäße Liaison für seinen weiteren Aufstieg nachteilig gewesen wäre. Andererseits aber quälten ihn bereits länger Zweifel an seinem Weg, und ihm war klar, dass er mit seiner Tätigkeit als Rhetor am verlogenen, äußeren Schein weltlicher Eitelkeiten mitwirkte. Er selbst hatte schon immer nach einer Orientierung gesucht, die seinem Sehnen nach einer höheren, geistigen Erfüllung ein Ziel geben konnte. Als Kind war er von seiner Mutter christlich erzogen worden und fand Halt in einer naiven Gläubigkeit. Als junger Student der Rhetorik in Karthago entfernte er sich dann vom christlichen Glauben, denn die einfache Volksreligiosität, die er in seinem provinziellen Heimatort Thagaste (heute Souk Ahras in Algerien) kennengelernt hatte, konnte seinem intellektuellen Anspruch nicht mehr genügen. Er schloss sich den Manichäern an, einer aus Persien stammenden religiösen Strömung, die intellektuell-philosophisch argumentierte und mit einer esoterischen Geheimlehre ihren Adepten das Gefühl gab, Auserwählte zu sein, die den Schlüssel zur Selbsterlösung hatten. Sie lehrten, dass nur eine böse Seinsmacht die unvollkommene materielle Welt geschaffen haben könne. Diese böse Seinsmacht liege in einem unausgesetzten Kampf gegen das göttliche Gute, aus dem das lichthafte, geistige Sein stamme. Die Seele des Menschen gehöre dem guten, geistigen Sein an, sei aber mit ihrem Körper in der bösen materiellen Welt gefangen. Durch strenge Enthaltsamkeit allen weltlichen Begierden gegenüber könne die Seele sich wieder dem Lichtreich des Guten annähern, um mit ihm zu verschmelzen. Augustinus verkehrte neun Jahre in den Zirkeln der Manichäer und erwarb sich ihre Anerkennung, obwohl die Enthaltsamkeit, insbesondere die sexuelle, nicht seine Sache war. Schließlich aber erkannte er den grundlegenden inneren Widerspruch der manichäischen Lehre: Zwei widerstreitende göttliche Schöpfermächte sind nicht möglich, denn könnte eine gleichwertige Macht Gott gegenüberstehen, wäre er nicht Gott. Trotzdem ließ sich Augustinus gerne von seinen manichäischen Freunden weiter protegieren und nach Rom und schließlich nach Mailand empfehlen.
Mit schonungsloser Offenheit blickt Augustinus in seinen Bekenntnissen zurück auf diese moralische Haltlosigkeit. Er schildert seine Willensschwäche, die es ihm lange unmöglich gemacht hatte, sich davon zu befreien. Zweifellos befand er sich als Rhetor für den kaiserlichen Hof in Mailand auf einem Höhepunkt seiner Möglichkeiten und doch zugleich in einer tiefen Krise. Als hohl und leer, wie einen „Jahrmarkt der Geschwätzigkeit“ empfand er seine Aufgabe als Redenschreiber und Lehrer der Überredung durch wohlgesetzte Worte. Mehrere Einflüsse verdichteten sich schließlich in einer umstürzenden Erkenntnis, die ihn zur radikalen Lebensumkehr veranlasste: Angeregt durch seine Mutter, besuchte er die Predigten von Bischof Ambrosius (339–397), der, wie später Augustin auch, eine der prägenden Gestalten der Kirchenväterzeit war. Augustin lernte bei ihm eine hoch entwickelte christliche Theologie kennen, die mit den Mitteln der Philosophie argumentieren konnte und hinter der wörtlichen Bedeutung der biblischen Schriften ihren geistigen Sinn erschloss. Als er dann noch entdeckte, wie gut sich die Lehren der neuplatonischen Philosophen Plotin (205–270) und Porphyrius (um 232–um 304) mit der biblischen Botschaft zusammendenken lassen, fügte sich für ihn alles zu einem klaren, überzeugenden Bild. Die Fragen nach dem Bösen in der Welt, nach dem Weg der Seele und nach Gott wurden für ihn nun am überzeugendsten von der christlichen Lehre beantwortet. Im Kopf war damit die Lebenswende vorbereitet, zu ihrem Vollzug mit der ganzen Person drängten ihn das Vorbild seiner tief gläubigen Mutter, die überzeugende Persönlichkeit des Ambrosius und die mitreißende Gläubigkeit der Mailänder Gemeinde. 384 erlebte Augustin, wie das Volk singend und betend die Basilika besetzte, um die Übereignung der Kirche an die Glaubensgemeinschaft der Arianer, die von Kaiser Valentinian unterstützt wurden, zu verhindern. Die Arianer lehnten die katholische Lehre vom dreieinigen Gott ab. Ambrosius hatte zum Widerstand gegen die Übereignung der Basilika aufgerufen und damit einen friedlichen Volksaufstand entfacht, vor dem auch die drohend aufziehende bewaffnete Macht schließlich kapitulieren musste.
Was Augustinus sich selbst trotz aller Anstrengung nicht hatte erarbeiten können, wurde ihm jetzt zugleich mit dem Verstand und seiner Gefühlskraft unzweifelhaft gewiss. Sein inneres Auge öffnete sich für die Wahrheit des einen Gottes und für die mystische Schau: „Ich trat also in mich ein“, heißt es in seinen Lebenserinnerungen, „und mit dem Auge meiner Seele, so schwach es auch war, sah ich oberhalb dieses Seelenauges, oberhalb meines Geistes, das unveränderliche Licht.“ Die Schriften des Apostels Paulus führten ihn weiter in das Herz der biblischen Offenbarung. Im Sommer 386, in einer verzweifelten, einsamen Stunde im Garten seines Hauses in Mailand – zerrissen zwischen seinem alten Leben und der Sehnsucht nach einem neuen, aber unfähig zur endgültigen Entscheidung – hörte er eine geheimnisvolle Stimme, die ihn aufrief: „Nimm und lies, nimm und lies!“ In der Bibel, die er daraufhin aufschlug, fiel sein Blick auf ein Wort des Apostels Paulus, das zu kompromissloser Lebensumkehr auffordert (Röm 13,13–14). Dieses Erlebnis endlich gab ihm die Kraft, sich von allen Bindungen an die Welt der Eitelkeiten zu lösen. Er nahm seinen Abschied als Rhetor und zog sich auf das Landgut eines Freundes im Hügelland nördlich von Mailand zurück, um sich über seinen weiteren Weg klar zu werden. Seine Mutter Monnica, sein Sohn Adeodat und eine kleine Schar naher Verwandter und Freunde begleiteten ihn. In langen philosophischen Gesprächen mit ihnen während des Herbstes und des folgenden Winters vergewisserte sich Augustinus, dass sein neu gewonnener christlicher Glaube auch kritischem Fragen standhalten konnte. Die während dieser Zeit aufgezeichneten Gespräche Über das Glück (De beata vita) und Über die Unsterblichkeit der Seele (De immortalitate animae) im Stile platonischer Dialoge sind seine ersten philosophischen Schriften.
Im Frühjahr 387 kehrte Augustinus nach Mailand zurück und ließ sich zu Ostern zusammen mit seinem Sohn Adeodat und seinem Freund Alypius von Bischof Ambrosius taufen. Da ihn nach seinem Abschied vom Rhetoramt nichts mehr in Mailand hielt, machte er sich auf den Weg zurück in seine nordafrikanische Heimat. Im Hafen von Ostia, während der Wartezeit auf ein Schiff für die Überfahrt, in einem Augenblick stillen, innigen Einverständnisses mit seiner Mutter, erfuhr er mit ihr zusammen eine außerordentliche mystische Erhebung. Beide zugleich berührten mit dem ganzen „Aufzucken“ des Herzens die göttliche Weisheit, so schildert Augustinus diese Begebenheit in seinen Bekenntnissen. Es ist eines der eindrücklichsten Selbstzeugnisse christlicher Mystiker. Für Augustin war es wie ein Aufscheinen der ewigen Seligkeit. Tatsächlich mag seiner Mutter die Vorahnung ihres nahen Todes einen Blick darauf gewährt haben, und die innige Verbundenheit mit ihr ließ ihn daran teilhaben. Wenige Tage später bekam sie Fieber und starb bald darauf.
388 war Augustinus wieder in seiner Heimatstadt Thagaste. Im bescheidenen Anwesen seiner Eltern gründete er eine religiöse Gemeinschaft, um in stiller Zurückgezogenheit als christlicher Schriftsteller zu wirken. Aber seine herausragende Persönlichkeit konnte nicht im Verborgenen bleiben. Schon 391 drängte ihn die Gemeinde von Hippo (dem heutigen Annaba in Algerien), kräftig unterstützt von ihrem Bischof Valerius, bei ihr Priester zu werden. Valerius überließ ihm ein Grundstück für die Gründung eines Klosters, weihte ihn zum Priester und baute ihn als seinen Nachfolger auf. Nach dem Tod des Valerius im Jahr 396 übernahm Augustinus das Amt des Bischofs von Hippo und führte seine Gemeinde durch die schweren, krisenhaften Zeiten. Unter anderem musste er sich immer wieder mit den Donatisten auseinandersetzen. Diese fundamentalistische Gruppe wollte nur reine, gänzlich sündlose Menschen in ihren Reihen dulden und hatte die Kirche in Nordafrika gespalten. Sie rivalisierte mit der katholischen Kirche und schreckte dabei auch vor Gewalt nicht zurück.
Neben seinen umfangreichen und oft aufreibenden organisatorischen, kirchenpolitischen und seelsorgerischen Aufgaben schuf er ein gewaltiges philosophisch-theologisches Werk. Im dankbaren Rückblick auf seinen verschlungenen Weg zur beglückenden Glaubenssicherheit und Gottesnähe verfasste er die Bekenntnisse, seine Lebensbeichte. Als Mittel der theologischen Auseinandersetzung entstanden Kampfschriften gegen die Manichäer, denen er ja selbst einmal angehört hatte, und gegen die verschiedenen Abirrungen von der katholischen Lehre. Unter dem Eindruck der Wirren, in denen die weltliche Ordnung versank, schrieb er sein Werk Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Die fünfzehn Bände von Über die Dreifaltigkeit (De trinitate) entwickeln sein theologisches Denken in ganzer Fülle. Dabei blieb er trotz aller Arbeitslast und allen Verstrickungen in weltliche Angelegenheiten, denen er sich wie viele große Mystiker mit seiner ganzen Kraft stellte, stets bemüht, sich immer tiefer in die göttlichen Geheimnisse zu versenken. In seinen Bekenntnissen lässt er anklingen, dass ihm regelmäßig mystische Erfahrungen zuteil wurden: „Und zuweilen schickst du mich auf den Weg zu einer ganz ungewöhnlichen inneren Erfahrung, zu einem unbekannten Wohlbefinden, das, wenn es sich in mir vollenden würde, ich weiß nicht was wäre; gewiss wäre es nicht mehr das irdische Leben. Aber in dieses falle ich zurück durch quälende Gewichte.“ Insbesondere der Hinweis auf die leidvoll erlebte Rückkehr aus der Entrückung ist ein sicheres Indiz für die Echtheit seiner Erfahrungen. Viele große Mystiker berichten Ähnliches.
Außerordentlich erhellend ist die Einteilung der mystischen Visionen, die Augustinus im zwölften Buch seiner Schrift Über den Wortlaut der Genesis (De Genesi ad litteram) darlegt. Er stützt sich auf Beispiele aus den biblischen Schriften, schöpft aber wohl auch aus eigener Erfahrung. Zu unterscheiden sind danach körperliche, einbildliche und verstandesmäßige Visionen. Körperliche Visionen sind bildliche Erscheinungen außerhalb des Körpers, die von den leiblichen Sinnen wahrgenommen werden. Augustinus nennt als Beispiel die Erscheinung von Feuer und Rauch über dem Sinai, in denen sich der Herr dem Mose zeigte (Ex 19,18). Einbildliche Visionen entstehen direkt in der Seele als bildliche Vorstellung, ohne Beteiligung leiblicher Sinne. Augustinus führt die großen Visionen des Jesaja von Gottes Thronsaal und die apokalyptischen Bilder der Offenbarung des Johannes als Beispiele an. Verstandesmäßige Visionen sind die höchste erreichbare Stufe der mystischen Schau. Sie sind bildlose und unmittelbare geistige Erfahrungen der Nähe Gottes, aber immer nur, „soweit es eben menschlicher Verstand mit Hilfe der Gnade des emporhebenden Gottes zu fassen vermag“. Augustinus vergleicht sie nach einem Wort aus dem alttestamentlichen Buch Numeri (12,8) mit einer unmittelbaren Rede „von Mund zu Mund“. Diese Lehre von den drei Arten der mystischen Visionen ist Grundbestand der mystischen Theologie geworden und bis heute unüberholt geblieben.
Fast vierzig Jahre hat Augustinus als Priester und Bischof gewirkt. Währenddessen taumelte das Römische Reich altersmüde seinem Untergang entgegen. Es konnte den herandrängenden Germanen immer weniger entgegensetzen. 410 standen die Westgoten unter Alarich zum dritten Mal vor Rom. Diesmal fiel die Stadt und wurde geplündert. Der Niedergang der Westhälfte des Reiches war danach nicht mehr aufzuhalten. 429 setzten die Vandalen unter Führung ihres Königs Geiserich von Spanien aus nach Afrika über und stießen entlang der Küste nach Osten vor. 430 erreichten sie Hippo. Augustinus starb während der Belagerung der Stadt. Seit dem 8. Jahrhundert ruhen seine sterblichen Überreste in Pavia in der Basilica di S. Pietro in Ciel d’Oro. Er wird als Heiliger verehrt und gilt als Kirchenlehrer.