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DIONYSIUS AREOPAGITA (UM 500)

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Die Schriften des sogenannten „Corpus Dionysiacum“ sind vermutlich das Werk eines gelehrten syrischen Mönchs und wurden gegen Ende des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts verfasst – soweit sich die Forschung der Identität des geheimnisvollen Autors überhaupt annähern kann. Sie wurden unter dem Namen des Athener Ratsherren Dionysius Areopagita verbreitet, der vom Apostel Paulus bekehrt wurde (Apg 17,34) und der erste Bischof von Athen geworden sein soll. Der Einfluss der Schriften ist weitreichend und tiefgreifend. Sie haben die christliche Philosophie und Theologie bis ins Mittelalter beeinflusst und sind grundlegend für die Mystik. In schöpferischer Weise hat ihr Autor neuplatonische Philosophie mit christlichem Denken verbunden und den Weg der negativen Theologie erschlossen, auf dem man sich der Gotteserkenntnis nicht durch Zuschreibung von Eigenschaften nähert, sondern durch deren Verneinung, weil Gott das für uns Vorstellbare unendlich übersteigt.

Alle Versuche, die Identität des Autors der Schriften des Corpus Dionysiacum zu entschleiern, sind bisher gescheitert. Lange hat man geglaubt, er sei mit dem Dionysius Areopagita der Apostelgeschichte identisch. Die Schriften stützen diese Fiktion, indem sie Bezug nehmen auf Geschehnisse aus der Zeit der frühen Christenheit, als sei der Autor dabei gewesen. Sie sprechen von Personen des Neuen Testamentes wie von Zeitgenossen oder sogar Freunden des Autors, so etwa von Timotheus, dem Begleiter des Apostels Paulus. 533 wurden die Schriften des Areopagiten, wie der Autor des Schriftcorpus auch genannt wird, zum ersten Mal in einer theologischen Disputation herangezogen. Noch blieb ihnen die Anerkennung versagt, und man zweifelte an der frühchristlichen Identität des Autors. Erst die Kirchenväter Gregor der Große (um 540–604) und Maximus Confessor (580–662) machten seine Schriften für die christliche Theologie fruchtbar. Fast kanonischen Rang bekamen sie dadurch, dass man dann ab dem neunten Jahrhundert in ihrem Autor den Dionysius der Apostelgeschichte sah, als den er sich ausgab, und ihn zudem als identisch glaubte mit dem ersten Bischof von Paris, einem Märtyrer namens Dionysius. Ihre Verbreitung wurde durch eine Übersetzung des griechischen Urtextes ins Lateinische gefördert, die Hilduin, der Abt von Saint Denis und zeitweise Erzkanzler Ludwigs des Frommen, anfertigen ließ. Ende des 19. Jahrhunderts gelang dann der Nachweise, dass die Schriften des Areopagiten nicht frühchristlichen Ursprungs sein können, denn sie fußen eindeutig auf dem Werk des Neuplatonikers Proklos, der erst im 5. Jahrhundert gewirkt hat. Der Autor des Corpus Dionysiacum wird seitdem auch als Pseudo-Dionysius Areopagita bezeichnet.

Warum sich der Autor hinter der Maske des frühchristlichen Dionysius verbarg, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise wollte er seinen Schriften damit mehr Gewicht geben, vielleicht hatte er aber auch guten Grund, seine Identität zu verbergen, denn die neuplatonische Philosophie, auf die er sich stützt, war aus christlicher Sicht Irrglaube und Konkurrenzbewegung. Die von Plotin (um 205–270) begründete, von Porphyrius (um 232–um 304) und Proklos (412–485) weitergeführte Philosophie des Neuplatonismus bot eine schlüssige und umfassende Welterklärung mit faszinierendem religiösem Tiefgang und Aussicht auf mystische Erfüllung. Alles einzelne Seiende der erscheinenden Welt fließt danach aus dem über allem Sein stehenden göttlichen Einen hervor. Dieses Ausfließen ist ein Abstieg in immer größere Entfernung vom göttlichen Ursprung bis hin zur untersten Stufe, der Materie. Das so von Gott getrennte Seiende will wieder zurückfließen in den einen ungeteilten Urgrund. Die menschliche Seele findet diesen Weg zurück, indem sie sich ganz vergeistigt und vom Stofflichen löst. „Tu alle Dinge fort!“, heißt es bei Plotin (Enneade V,3). Sie erreicht dann eine Erleuchtung, in der sie eins wird mit dem Einen als Endziel der Seele.

Der Areopagit hat diese Gedankenwelt in seine christliche Philosophie integriert, ohne ihre Irrtümer zu übernehmen. Auch für ihn bringt die Urgottheit, die vor und über allem Sein ist, die Vielfalt des Geschaffenen durch „stets unvermindertes Ausströmen“ hervor. Aus überströmender Liebe ist sie aus sich herausgetreten. Dieser göttliche Eros ist es, der alles Geschaffene wieder an sich zieht, sodass es zurück will zum einig-einen Anfang, von dem es ausgegangen ist. Die sich verströmende Gottheit bleibt dabei aber einig mit sich selbst, ohne irgendetwas von sich zu verlieren. Sie ist in allem Geschaffenen, ohne sich mit ihm zu vermischen. Sie ist das „Einig-Einzige-Ewige-Selbst“. Damit werden vom Areopagiten klar pantheistische Deutungen abgewiesen, nach denen Gott und seine Schöpfung zusammen die eine Allgottheit sind. Bündig fasst er das in die prägnante Formel: „Alles Sein gehört Gott, aber Gott gehört nicht dem Sein.“ Abgewiesen wird auch die Annahme vermittelnder, untergeordneter Gottheiten, die am Schöpfungsprozess teilhaben, wie im Neuplatonismus. Gott ist der Allurheber der Schöpfung, allein und unmittelbar. Eindeutig ist dementsprechend auch die Abgrenzung gegenüber den dualistischen Weltentwürfen der Gnosis, nach denen ein böses, mit Gott konkurrierendes Prinzip die unvollkommene materielle Welt erschaffen hat. Alles stammt vielmehr aus der einen guten, aus Liebe sich verströmenden Allursache und hat damit Anteil am Guten. Für den Areopagiten kann auch die Materie nicht böse sein, denn sie ist göttliche Schöpfung, sie „nährt“ die Natur. Das Böse hat keine eigene Wesenheit, es ist nur Schwächung und Mangel am gut geschaffenen Sein.

Dem Streben des gesamten Seins aus der Vielheit zurück zum ungeteilten Einen folgt auch die Seele. Sie will aufsteigen zum höchsten erreichbaren Gipfel der mystischen Erfahrung, wo göttlicher Friede herrscht. Die Anrufung: „Oh Dunkel des Schweigens!“ steht am Anfang der kurzen, aber äußerst dichten Schrift Die mystische Theologie (De mystica theologia) aus dem Corpus Dionysiacum. Unendlich unsere Fassungskraft übersteigend ist dieser dunkle göttliche Urgrund, für dessen unerreichbares Übersein der Areopagit immer neue Umschreibungen findet wie das Unfasslich-Allumfassende und das Unaussprechlich-Geheime. Und doch können wir aufsteigen zu einer Erkenntnis Gottes. Wir können ihm uns auf bejahende oder verneinende Weise nähern, also indem wir ihm Eigenschaften zusprechen, oder indem wir sie ihm absprechen. Die erste Weise ist die der positiven, die zweite die der negativen Theologie. Positive Theologie ist möglich, weil Gott selbst uns seine Namen offenbart hat und wir sie durch die biblischen Schriften kennen. Diese Namen lassen uns etwas erfassen von seinen Eigenschaften. Er heißt der Gute und zugleich das Licht, das Schöne, der Seiende, das Leben, die Weisheit. In seinem Werk Die Namen Gottes (De divinis nominibus) legt der Areopagit sie aus, ja er feiert sie mit außerordentlicher sprachlicher Schönheit wie mit einem Hymnus, denn in ihnen ist uns von dem göttlichen Licht mitgeteilt, das erleuchtet und verwandelt. Sie bleiben aber nur Annäherungen und Hindeutungen auf das, was letztlich unfassbar ist für uns. Will man weiterkommen, muss man die aus dem Sinnlichen genommenen Namen und Analogien verneinen. Dieses Verneinen bedeutet, dass in ihnen jede Endlichkeit verneint wird. Zu verneinen ist nicht etwa, dass Gott das Gute ist, er ist vielmehr „das Mehr als Gute, Mehr als Göttliche, Mehr als Wesentliche, Mehr als Lebensvolle, Mehr als Weise, und so weiter“. Verneinen bedeutet hier also immer das Überschreiten und Überragen aller Endlichkeit. Dieser Weg der negativen Theologie ist der Königsweg für den Areopagiten, der zuletzt zur mystischen Einigung führt, wobei aber die eigentliche, höchste Schau nur denen gewährt wird, die Gott zu sich emporhebt, um ihnen die „Geheimnisse des Dunkels“ zu enthüllen. Sie treten dann in einen Bereich ein, der dem Verstand verschlossen ist, „wo die Dunkelheit des Schweigens über alles Licht hinaus die Wahrheit erhellt“.

Über eigene mystische Erfahrungen berichtet der Areopagit nicht direkt. Seine von tiefer Ergriffenheit sprechenden Bilder und Vergleiche, mit denen er versucht, sich dem Wesen der mystischen Erfahrung zu nähern, lassen aber erahnen, dass er mehr weiß, als man mit dem Verstand erschließen kann. Und möglicherweise meint er eigene Erfahrungen, wenn er als Ursprung der Lehre des von ihm zitierten weisen Lehrers Hierotheus auch die Erhebung „zum unlehrbaren Glauben und zum mystischen Einswerden mit dem Göttlichen“ nennt. Hierotheus ist wahrscheinlich eine vom Areopagiten erfundene Gestalt, jedenfalls gibt es in der Überlieferung keinerlei Hinweise auf ihn. Er ist vermutlich eine weitere Maske, unter der hier der Areopagit von sich selbst spricht, wenn er schreibt, dass Hierotheus „Göttliches nicht bloß lernte, sondern lebte“.

Das Werk des Areopagiten ist ein ausgreifender theologischer Systembau, der die biblischen Schriften ebenso aufnimmt wie die kirchliche, liturgisch-sakramentale Überlieferung und die neuplatonische Philosophie. Neben seinen für die Mystik wichtigen Werken Die Namen Gottes und Die mystische Theologie sind auch seine Werke De ecclesiastica hierarchia über die kirchliche Hierarchie und De caelesti hierarchia über die Rangordnung der Engel in den sogenannten Engelschören über Jahrhunderte einflussreich gewesen. Die Lehre des Areopagiten ist ausgewogen. Er sieht Gott auch in der Schönheit und Ordnung der Schöpfung, ja selbst in der Materie. Er erkennt weise, dass wir in unserer begrenzten leiblichen Existenz Vermittelndes benötigen, um uns zur göttlichen Wahrheit erheben zu können: Symbole und Namen, die uns zur Andacht leitende kirchliche Liturgie und das sich herabneigende Wirken Gottes in den Sakramenten. Selbst naive Bilder von Gott „mit grauweißen Haaren als auch in jugendlicher Gestalt“, wie sie sich im Alten Testament finden, können uns als Vergleich dienen für Gottes Sein vor aller Zeit und zugleich jenseits aller Zeit. Das Corpus Dionysiacum ist mit seinem zweifachen Weg der positiven und der negativen Theologie in die großen scholastischen Systeme von Albertus Magnus und Thomas von Aquin eingeflossen. In ihnen sind beide Wege zum Ausgleich gebracht. Immer wieder aber wurde einseitig an die negative Theologie des Areopagiten angeknüpft. Meister Eckhart etwa übersteigert in seiner mystischen Theologie mit seiner Verneinung des Geschöpflichen und der Ablehnung alles Bildhaften und Vermittelnden den negativen Weg.

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