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Claude Lévi-Strauss hat Ethnologen als die letzten mehr oder weniger heroischen Abenteurer bezeichnet. Und es war das Abenteuerliche an der ethnografischen Feldforschung, das mich immer wieder nach Afrika führte, die Herausforderung, mich in der Fremde, in Situationen, die ich nicht oder kaum kontrollieren konnte, zu bewähren und dabei herauszufinden, ob es mir gelänge, das Interesse und Vertrauen von Fremden zu erlangen und sie in Freunde zu verwandeln. Dabei vergaß ich, dass Abenteurer auch leiden müssen, ehe sie nach unzähligen Missgeschicken nach Hause zurückkehren.

Aus einem diffusen Gefühl des Protestes begann ich 1966 das Studium der Ethnologie. Auch andere, spätere Entscheidungen in meinem Leben gründeten auf einer Haltung, die Kraft vor allem aus Opposition und Verweigerung gegen das Vorherrschende schöpft. Meine Eltern hatten – ohne Druck auszuüben – damit gerechnet, dass ich in ihre Fußstapfen treten und Ärztin werden würde. Ich hatte, im Alter von 12 oder 13 Jahren, den französischen Film Es ist Mitternacht, Dr. Schweitzer aus dem Jahr 1952 gesehen, ein koloniales, schwülstiges Machwerk in Schwarz-Weiß, das Albert Schweitzer zeigt, wie er mit einer hübschen, tapferen Krankenschwester Lambarene aufbaut. Noch bevor er das Krankenhaus überhaupt eingerichtet hat, kommt kurz vor Mitternacht ein Häuptling mit furchterregenden Kriegern, die seinen kranken, bereits bewusstlosen Sohn zur Station tragen, der, wie Dr. Schweitzer sofort feststellt, an einer Blinddarmentzündung leidet. Der Häuptling zeigt auf den Mond, der silbrig am Himmel steht, und erklärt, wenn der Mond hinter einer bestimmten, sich im Wind biegenden Palme verschwunden sei und der Sohn nicht mehr lebe, werde er dem Doktor und der hübschen Krankenschwester den Kopf abschneiden. Nachdrücklich macht er die entsprechende Geste mit einem großen, scharfen, im Mondlicht blitzenden Messer. Dr. Schweitzer und die Krankenschwester bauen den Küchentisch zu einem OP-Tisch um, und mit einem in kochendem Wasser notdürftig sterilisierten Küchenmesser schneidet der tapfere Doktor, Schweißperlen auf der Stirn, dem Häuptlingssohn den Bauch auf. Als Zwischenschnitt wird immer wieder der Mond eingeblendet, der sich viel zu schnell auf die Palme zubewegt. Die Spannung steigt ins fast Unerträgliche. Aber alles wird gut! Im Augenblick, als der Mond hinter der Palme verschwindet, gibt der Sohn ein Lebenszeichen von sich, und der Häuptling wird, wenn ich mich recht erinnere, nicht nur ein bester Freund des Doktors, sondern er konvertiert auch noch zum Christentum.

Dieser durch und durch koloniale Film hat mich entscheidend beeindruckt. Er verband sich auf heroische Weise mit dem Beruf meiner Eltern, verlegte aber das Geschehen in ein gefährliches, sehr fremdes Anderswo, nach Afrika. Dort wollte ich hin.

Die Ethnologie oder Völkerkunde, wie sie damals genannt wurde, war eine seltsame Disziplin. Sie hatte sich ihren Gegenstand aus einem verachteten Rest gebildet, aus einem Sammelsurium von Kulturen, die nicht zu den sogenannten Hochkulturen gehören, sondern durch Negation bestimmt wurden – keine Schrift, kein Staat und keine Geschichte. Tatsächlich erfuhr die Ethnologie damals eine gewisse Geringschätzung, die sich erst nach 1968 mit der Neudefinition der Sozialwissenschaften ändern sollte.

Im Winter 1966/67, meinem ersten Semester, habe ich in München als einzige Anfängerin mit dem Studium der Völkerkunde begonnen. Im Jahr davor hatte sich niemand für das Fach eingeschrieben, Nachwuchs und Zukunft des Instituts verkörperten sich für ein Semester in meiner Person. Ich wurde äußerst freundlich, zuvorkommend und nachsichtig behandelt und musste mich nicht von Unter- in Oberseminare hocharbeiten, sondern durfte an allem teilnehmen, was mich interessierte.

Ich hatte damals keine Ahnung, wie tief der Ordinarius Hermann Baumann in die Ideologie des Nationalsozialismus verstrickt war. Die älteren Studenten und Assistenten schwiegen über Baumanns Vergangenheit. In seinen Vorlesungen und Seminaren standen »Kulturkreise« im Vordergrund, über deren Kennzeichen, Zusammensetzung und Geschichte manchmal recht heftig gestritten wurde. Nach zwei Semestern hatte ich genug von München, ging ein Semester nach Wien und dann im Januar 1968 nach Berlin, ins Zentrum der studentischen Proteste.

Das Berliner Institut für Ethnologie war in diesem Jahr, nachdem die Studenten die Macht übernommen hatten, akephal geworden; der Professor hatte sich nach Asien geflüchtet. Es herrschte eine merkwürdig enthusiastische Stimmung, getragen von einer (aus heutiger Sicht) naiven Hoffnung auf radikale Veränderung, die manchmal Charakteristika aufwies, wie ich sie später in der Prophetenbewegung der Alice Lakwena im Norden Ugandas wiederfinden sollte. Das Studentenleben bestand aus einer Reihe ziemlich aufregender sozialer Experimente mit unsicherem Ausgang. Wir hatten einen wirklich großen Gegner, das kapitalistische System, und gefielen uns darin, aus dieser halluzinatorischen Opposition manchmal sehr fadenscheinige Rechtfertigungen für Krawall und alle möglichen Formen des Ungehorsams zu finden. Und oft genug gelang es, das Sich-Abstoßen vom Althergebrachten mit viel Spaß und Lust zu verbinden. Ich wohnte in einer alten Dahlemer Villa mit älteren Studenten in einer Wohngemeinschaft; wir lasen zusammen Das Kapital und andere Texte von Marx, aber auch von Bakunin und Kropotkin, und diskutierten nächtelang, wie die Revolution zu bewerkstelligen sei. Wir feierten ausgiebig Feste, die mitunter das ganze Wochenende dauerten, wir nahmen an Demonstrationen unter der schwarzen Fahne der Autonomen teil und wir fuhren nach Ostberlin in die kubanische Botschaft, um mit dem dort kostenlos verteilten Tagebuch von Che Guevara Spanisch zu lernen. Denn Ziel war es, uns als Ethnologen nutzbringend in den Dienst von antikolonialen und antikapitalistischen Freiheitsbewegungen zu stellen.

Im Jahr 1971 endete die Akephalie. Fritz Kramer kam aus Heidelberg ans Berliner Institut. Damit veränderte sich meine Vorstellung von Ethnologie grundlegend. Kramer zeigte uns, dass Ethnologie nicht museal und exotistisch sein musste. Er brachte uns die Dialektik der Aufklärung nahe, mit ihm studierten wir (bäuerliche) Umsturzbewegungen und später die klassische britische Sozialanthropologie. Die akephalen Gesellschaften, die englische Ethnologen wie Edward E. Evans-Pritchard oder Meyer Fortes erforscht hatten, lieferten uns das Vorbild für eigene soziale Utopien. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann rückten die anarchistischen Illusionen und Karl Marx zunehmend in den Hintergrund und machten Max Weber, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer und anderen Platz.

Etwas später kam Lawrence Krader aus New York ans Institut. Mit ihm, Fritz Kramer und Jacob Taubes fanden unvergessliche Seminare statt. Und am religionswissenschaftlichen Institut lehrte Klaus Heinrich die kritischen Potenziale der Psychoanalyse mit Religion, Philosophie, Kunstgeschichte und Ethnologie zu verbinden. Ich machte 1973 meinen Magister und unterrichtete danach als wissenschaftliche Assistentin bis 1978 vor allem politische und ökonomische Anthropologie. Es gab keinen Studienplan; die Themen der Lehrveranstaltungen bestimmten die Studenten zusammen mit den Dozenten. Das änderte sich erst, als gegen Ende der 1970er-Jahre die Ethnologie zum Massenfach wurde und in den Veranstaltungen plötzlich Hunderte saßen: als ob sich unsere Begeisterung durch die enttäuschte Hoffnung auf radikale Veränderungen in der eigenen Gesellschaft auf die sogenannte Dritte Welt verschoben hätte. Wie zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Primitiven« in Afrika und Ozeanien mit ihrer Kunst für das herhalten mussten, was im Westen zerstört und verloren gegangen war, so suchten auch wir in Afrika nach alternativen Lebensformen. Allerdings, so viel verstanden wir immerhin, hatte der Kolonialismus das Ziel unserer Fluchtversuche bereits in Begegnungen verwandelt, die uns mit den »allerunglücklichsten Formen unseres eigenen historischen Daseins«2 konfrontierten.

Menschwerdung eines Affen

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