Читать книгу Menschwerdung eines Affen - Heike Behrend - Страница 27
15
ОглавлениеMit ihrem zyklischen Altersklassensystem gewannen die Ältesten das Privileg, nicht nur die jüngeren Generationen, sondern auch die Zeit selbst zu kontrollieren. Die Festlegung des Initiationsrituals ermächtigte sie, einen radikalen Neuanfang zu setzen. Gegen die biologische Zeit etablierten sie eine soziale, die mit der rituellen Geburt der Initianden begann, die Vorzeit auslöschte und die Kindheit rückgängig machte.
In vorkolonialer Zeit nahmen Männer und Frauen die Bewegung der Sonne am Horizont für einen Kalender, nach dem sie ihre Tätigkeiten ausrichteten. Vom festen Standpunkt aus beobachteten Astronomen die aufeinanderfolgenden Sonnenaufgänge am Horizont im Osten. Wie auf dem Zifferblatt einer Uhr legten sie eine Visierlinie fest, in der sie die wandernden Orte des Sonnenaufgangs mit besonders hervorstechenden Punkten am Horizont verbanden. Einige dieser Punkte nannten sie »die oberen (im Süden) oder unteren (im Norden) Häuser der Sonne«. So begannen sie zum Beispiel mit der Brandrodung der Felder erst, wenn die Sonne das obere Haus verlassen hatte.
Obwohl ihnen die Bewegung der Sonne am Horizont einen Maßstab lieferte, blieb diese Zeitbestimmung punktuell und situationsgebunden. Sie übte keinen umfassenden Zwang auf die Handlungen der Menschen aus. Diese mussten nicht gegen die Zeit kämpfen, und sie lief ihnen auch nicht davon.
Die Ältesten und ich gingen sehr unterschiedlich mit Zeit um. Während ich unter akuter Zeitnot litt und versuchte, meinen Aufenthalt in den Tugenbergen möglichst effektiv zu gestalten, weil Zeit und Forschungsgelder knapp bemessen waren, schienen die Ältesten Zeit im Überfluss zu haben. Die meisten hatten keine Armbanduhr; wir verabredeten einen Termin, indem er, sie oder ich mit dem ausgestreckten Arm den Stand der Sonne beziehungsweise des fallenden Schattens markierte. Diese Art der zeitlichen Vereinbarung eröffnete einen beachtlichen Spielraum. Oft waren wir mehrere Stunden unterwegs, um einen bestimmten Ältesten zu treffen. Kamen wir endlich an, war er nicht zu Hause. Wir warteten, oft stundenlang und manchmal vergeblich. Anfangs bekam ich Wutanfälle über die vermeintlich verlorene Zeit; erst allmählich lernte ich, gelassen mit solchen Situationen umzugehen. Tatsächlich erwiesen sie sich manchmal als äußerst produktiv. Während des Wartens tauchten Leute auf, die ich nicht kannte, und erzählten den neuesten Tratsch, oder Kipsang und ich begannen ein Gespräch über einen Traum, den er gehabt hatte und den wir höchst unterschiedlich interpretierten. Meist gelang es mir nach einigen Wochen, ruhiger zu werden und mein Leben zu entschleunigen.
Doch in den Augen der Bewohner der Tugenberge blieb ich ein unruhiges, eiliges Wesen. Das großstädtische Berliner Tempo meines Ganges und meine hektischen Bewegungen führten, wie bereits erwähnt, zu Heiterkeitsausbrüchen; in den Augen meiner Beobachter fehlte mir jede Würde. Auch Frauen und Männer in den Tugenbergen mussten sich manchmal beeilen und von einem Berg zum anderen hetzen. Viele von ihnen können extrem schnell laufen, stellen die Kalenjin doch heute die besten Langstrecken- und Marathonläufer der Welt. Doch sowie sie in Sichtweite anderer Leute kamen, bremsten sie, wischten sich den Schweiß von der Stirn, brachten ihre Kleidung in Ordnung und wechselten in eine beherrschte und würdevolle Gangart.
Während der Kolonialzeit begann sich der Gebrauch von westlichem Kalender und von Uhren durchzusetzen. Obwohl die ersten Uhren vor allem Prestigegüter waren und nur wenig Einfluss auf das Alltagsleben nahmen, führten vor allem Schulen und andere westliche Institutionen die abstrakte Zeit ein und sorgten für radikale Veränderungen. Ich erinnere mich an einen Lehrer in Kabartonjo, der sich anbot, für uns eine Sightseeingtour zu organisieren. Er wollte uns die Klippen zeigen, von denen die zu alt gewordenen Ältesten, die ihre Altersklasse überlebt hatten, in den Tod springen mussten,12 sowie einige Höhlen, in denen die Sirikwa, die ersten Europäer, gelebt hatten. Er trug eine Armbanduhr und hatte einen genauen Zeitplan ausgearbeitet: 10:52 Uhr Abfahrt, 11:33 Uhr Ankunft bei den Klippen und so weiter. Er bestand auf der Einhaltung seines Plans, und wir mussten hetzen, um ihn zu erfüllen. So führte er mir in karikierender Weise meinen eigenen Umgang mit der Zeit vor Augen.