Читать книгу Menschwerdung eines Affen - Heike Behrend - Страница 21
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ОглавлениеMeine Verwandlung von einem Affen in eine »kleine Person« begann mit Einladungen zum Essen und Trinken. Gemeinsame Mahlzeiten machten aus mir, der Fremden, einen Gast. Die Gesetze der Gastfreundschaft und das gemeinsame Essen und Trinken garantierten ein friedliches Miteinander. Die Einverleibung derselben Substanzen näherte uns einander an und minderte unsere Fremdheit auch physisch. Zur Festigung des Bandes musste das gemeinsame Mahl öfter wiederholt werden. Ich erwiderte die Einladungen und war bald eingewoben in ein Netz von Beziehungen, in dem Gleiches gegen Gleiches – Tabak gegen Tabak, Hirsebrei gegen Hirsebrei und Bier gegen Bier – getauscht wurde.
Die Bewohner der nördlichen Tugenberge nannten ihr Land, wie gesagt, »das Land der Steine«. Die Erde war nicht besonders fruchtbar, der Regen fiel unvorhersehbar, und regelmäßig suchte der Hunger Menschen und Tiere heim. Die verschiedenen Hungersnöte wurden als »Hunger der vertrockneten Bäume«, »Hunger des Vogels Tuge«, »Hunger der Heuschrecken« oder als »Hunger des wilden Yams« erinnert. Das Motiv des Hungers und knapper Nahrung durchzog nicht nur die Geschichten der Ältesten wie ein roter Faden, auch in den Begrüßungsformeln und in den Tischsitten kam es zum Ausdruck. Mit der Frage: »Was essen die Großmütter heute?«, begrüßten sich ältere Frauen. Darauf gab es keine Antwort; es war eine rein rhetorische Frage, ein Gruß, der ins Leere lief.7
Ich war als Nachkriegskind von meinen Eltern, die mir viel vom Hunger im Krieg und in den ersten Jahren danach erzählt hatten, dazu erzogen worden, Nahrung zu schätzen und aufzuessen, was auf den Teller kam. Als der Häuptling mich in Bartabwa das erste Mal zum Essen einlud – es gab Hirsebrei und Gemüse –, servierte seine Frau mir und den übrigen Gästen den Brei auf je einem Teller; ich aß meinen Teller leer. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass alle anderen die Hälfte oder mindestens ein Drittel des Essens auf dem Teller liegen ließen und deutlich durch Rülpsen kundtaten, dass sie rundum gesättigt waren. Mir dagegen bot die Hausfrau noch einen Nachschlag an, den ich höflich ablehnte, weil ich satt war.
Später erklärte mir Kipsang, dass ich einen Fauxpas begangen hatte. In den Tugenbergen verlangen die Tischsitten, dass man niemals aufisst, was auf dem Teller liegt, weil das den Eindruck erweckt, man sei nicht satt geworden und wolle mehr. Außerdem gehören die Reste auf dem Teller der Hausfrau und den Kindern, die sie nach den Gästen essen. Weil ich meinen Teller geleert hatte, hatte ich mich wie ein Fresssack benommen und, schlimmer noch, den Anteil der Hausfrau und der Kinder aufgegessen.
Ich schämte mich sehr, bat Naftali, mich zu entschuldigen, und brachte der Frau des Häuptlings bei unserem nächsten Treffen einen Korb gefüllt mit Mais- und Hirsemehl mit. Ich lernte, dass in den Tugenbergen, gerade weil dort der Hunger oft so groß war, vor allem eines die Tischsitten bestimmte: Mäßigung. Niemals darf ein Hungriger zeigen, dass er hungrig ist, und Gefräßigkeit ist der Inbegriff schlechten Benehmens. Seither habe ich keinen Teller mehr völlig leer essen können.
Nach meiner Einführung in die Tischsitten beschlossen die Ältesten, mir auch Verwandtschaft zu geben. Weil ich bereits verheiratet war, konnte ich nicht über eine Heiratsallianz integriert werden; deshalb gaben sie mir eine Mutter mit Namen Kopcherutoi, eine hoch angesehene weise Frau, die den Status eines Mannes, eines Bullen und rituellen Ältesten, besaß. Sie war bereits Urgroßmutter und trug einen Gürtel, der mit vier Reihen Kaurimuscheln geschmückt war. Jede Reihe stand für eine Generation von Nachkommen. Ich zog zu ihr auf den Berg Rimo und schlug mein Zelt neben ihrer Hütte auf. Wieder erhielt ich einen neuen Namen. Man nannte mich jetzt die »kleine Kopcherutoi«.
Weil Kopcherutoi meine Mutter geworden war, gehörte ich nun dem Teriki-Clan an und mein Totem war der Elefant. Mit einem Schlag hatte ich zahlreiche Verwandte und war in ein Netz aus Freund- und Feindschaften eingebunden. Als ich meine neue Verwandtschaft zu einem Fest einlud und Maisbier braute – was von der kenianischen Regierung verboten war, in den Tugenbergen aber überall getan wurde –, sagten Kopcherutoi und ihr Bruder Sigriarok: »Sie gibt uns zu essen, sie liebt uns!«
Tatsächlich wurde meine Teilnahme an offiziell verbotenen Bierfesten von den meisten Bewohnern Bartabwas mit einer gewissen Genugtuung gesehen. Gegen den Häuptling, der das staatlich verordnete Arbeitsethos durchsetzen sollte – aber so tat, als wisse er nichts von den morgendlichen Saufereien –, verbündete ich mich mit der anderen Seite, den Alten und den Habenichtsen. Wie ich später herausfand, war der Häuptling nicht sehr angesehen. Nicht umsonst war er die einzige Person in Bartabwa, die über eine beachtliche Leibesfülle verfügte. In der lokal geltenden, sehr einsichtigen Logik galt derjenige, der fett und reich war, als einer, der es den anderen weggenommen haben musste. Ich denke heute, dass meine Teilnahme an den eigentlich verbotenen Bierfesten dazu beigetragen hat, das Wohlwollen und Vertrauen der Ältesten zu gewinnen. Doch war damit der Affe als Teil meiner Person nicht völlig verschwunden. Er blitzte immer wieder in den Witzen auf, die die Ältesten erzählten. Als ich zusammen mit einer jungen Frau die Maisfelder bewachte, um Affen und Vögel vom Fressen der Ernte abzuhalten, habe mein äffisches Wesen die Affen so erschreckt, dass sie schnell wegliefen, erzählte Sigriarok, und alle anwesenden Verwandten schüttelten sich vor Lachen.
Ich erschreckte nicht nur Affen, sondern auch kleine Kinder. Mir fiel auf, dass sie bei meinem Anblick zu weinen und zu schreien begannen. Anfangs nahm ich das nicht persönlich, sondern sagte mir, die Kleinen hätten wohl Hunger oder Bauchweh. Doch dann erklärten mir zwei Frauen, ich sähe mit meinem wilden Haar – ich trug es lang und offen, eine Frisur, mit der ich eigentlich sehr zufrieden war – wie ein Monster aus der Wildnis aus, besonders wenn der Wind mein Haar bewege. Die Kinder, so sagten sie, schrien, weil mein Anblick so schrecklich sei. Ich musste feststellen, dass ich für die Bewohner der Tugenberge offensichtlich eine fremdkulturelle Zumutung war. Frauen trugen dort das Haar sehr kurz; allein in liminalen Phasen, während der Initiation oder nach einem Todesfall, ließen sie es wachsen.
Die beiden Frauen setzten mich auf einen Stuhl, und unter allgemeinem Zuspruch und Gelächter flochten sie mein Haar in zwei feste Zöpfe. Ich erlitt diese Demontage, unterwarf mich dem mir fremden Schönheitsideal und versuchte von nun an, mein Haar zu bändigen. Und tatsächlich hörten die Kinder auf zu schreien, wenn sie mich sahen. Gleichzeitig erfuhr ich aber auch, dass einige Eltern mich zur Disziplinierung einsetzten. Wenn die Kinder etwas Verbotenes getan hatten, drohten sie: »Mama Henry kommt und frisst dich!« Ich diente also als kannibalischer Kinderschreck. In der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, die ich verschlungen hatte, beschrieben westliche Reisende Afrikaner mit Vorliebe als Kannibalen, die andere Afrikaner, aber auch Europäer, gerne in großen Töpfen kochten, um sie dann zu verspeisen. Nun wurde ich zur Belustigung der Erwachsenen und zum Schrecken der Kinder zu einem solchen Kannibalen erklärt. Ich sah mich gefangen in der komplizierten Wechselseitigkeit der Perspektiven und den sich ins Unendliche spiegelnden Bildern von Alterität.
Ich musste auch zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur mein Haar, sondern meine ganze Person als hässlich empfunden wurde. Aus Sicht der meisten Bewohner der Tugenberge war ich viel zu dünn, mir fehlten die körperlichen Rundungen, die eine Frau schön und begehrenswert machen. Weil sich dort Reichtum und Wohlbefinden direkt in Fettleibigkeit und Körperfülle manifestieren – ein Ideal, das aufgrund von Armut und Hunger nur selten erreicht wurde –, erschien ich als armseliges, bedauernswertes Geschöpf. Auch war meine Nase zu groß. Meine Haut, so erklärte mir Kopcherutoi, sei viel zu durchsichtig und lasse nicht nur die Adern sehen, in denen das Blut fließt, sondern auch das rohe Fleisch. Sie schüttelte sich und lachte. Ich war offensichtlich auf eine obszöne Weise transparent, nackter als nackt und ließ Dinge sehen, die besser verhüllt blieben. Auch meine sich ändernde Hautfarbe, die nach einem Sonnenbrand von knallrot zu braunrot und dann zu bräunlich wechselte, gab Anlass zu Kommentaren und Witzen, die meine Eitelkeit verletzten und mein Selbstbild nicht unbedingt stärkten. Überhaupt verfügten meine sehr genau hinsehenden Beobachter über einen erstaunlichen Interpretationsreichtum, der den meinen bei Weitem übertraf und (leider) mit ihm nicht deckungsgleich war. Doch gerade weil ich ihren ästhetischen Vorstellungen so wenig entsprach und ihnen – zumindest anfangs – so fremd war, griffen sie auf ihre Regeln der Höflichkeit und Gastfreundschaft zurück, die mir über lange Zeiträume hinweg zu vergessen gestatteten, wie sie mich sahen. Ihre Wahrheitsliebe erlaubte ihnen nicht, mir (falsche) Komplimente zu machen. Aber wenn es genug zu essen gab, schoben mir die Frauen manchmal kleine Fleischstücke extra zu, damit ich »fett und ansehnlich« würde.
Obwohl ich gegen das Bild, das sie von mir hatten, letztlich nicht ankam, gewöhnten sich meine Verwandten, Nachbarn und vor allem die Kinder im Verlauf meiner Aufenthalte langsam an mich – und ich mich an sie. Ich passte mich an, veränderte mich in ihre Richtung und verlor wenigstens teilweise meinen exotischen Ausstellungswert. Meine vorsichtigen Vorstöße, mein Selbstbild ein Stück weit zurückzugewinnen, indem ich zum Beispiel das Haar wieder ein wenig offener trug und auf die Zöpfe verzichtete, wurden kommentarlos hingenommen.