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Um die richtigen Fragen zu finden, kam mir manchmal auch der Zufall zu Hilfe. So erfuhr ich anlässlich eines Streits von der zyklischen Geschichtsvorstellung der Ältesten, die sowohl ihre Lebenszeit als auch ihre Geschichte zu einem Kreislauf bogen, in dem sich die Ereignisse wiederholten. In der Literatur, die ich zur Vorbereitung gelesen hatte, war von dieser Geschichtsauffassung keine Rede; ich hätte also nicht danach fragen können. Zufällig, bei einer Unterhaltung einiger Ältester, erfuhr ich von ihrer Erwartung, dass die Europäer wieder ins Land kommen und die Regierung übernehmen würden. Ich fragte vorsichtig nach, und es stellte sich heraus, dass ich richtig verstanden hatte. Die Großmutter eines der Anwesenden hatte die Rückkehr der Europäer und damit die Wiederkehr der Kolonialzeit prophezeit. Mit dem schlechten Gewissen der Ethnografin, die um die Verstrickung von Kolonialismus und Ethnologie weiß, protestierte ich heftig und versuchte zu erklären, dass die Europäer kein Interesse daran hätten, Kenia erneut zu kolonialisieren. Mit meinem Einspruch machte ich mich unbeliebt; die Ältesten ärgerten sich. Einer von ihnen wies mich scharf zurecht und sagte, ich wisse gar nichts, bei ihnen in den Tugenbergen würden die Ereignisse nicht nur einmal geschehen, sondern zweimal, dreimal, viele Male. Darauf begann ich, mich für ihre Vorstellung von Zeit und Geschichte zu interessieren.

Die Bewohner der Tugenberge teilten ein zyklisches Altersklassensystem mit ihren Nachbarn, das nicht nur als Integrationsmaschine für die Aufnahme von Fremden diente, sondern auch wesentlich ihre Zeit- und Geschichtsvorstellung bestimmte. Das Altersklassensystem lieferte ihnen die Kategorien, ihre Gesellschaft und Geschichte zu denken. In den Tugenbergen gab es acht Altersklassen mit je einem eigenen Namen. Altersklassen sind soziale Gruppen, die Männer und Frauen hierarchisch gliedern und den Fluss der Zeit markieren. Mit der Initiation in eine der acht Altersklassen verordneten die Ältesten, »denen die Welt gehört«, die »soziale Geburt« von jungen Frauen und Männern unterschiedlichen Alters; als »Gleichaltrige« durchliefen sie dann zusammen die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus. Nach etwa 100 Jahren, wenn alle Ältesten einer Altersklasse gestorben waren, wurden die Jungen, ihre Urenkel, in die verwaiste Altersklasse initiiert, und ein neuer Zyklus begann.

Gleichnamigen Altersklassen wurden gemeinsame Eigenschaften zugesprochen, zum Beispiel besonders friedfertig oder kriegerisch zu sein. Diese Eigenschaften wiederholten sich, wenn die entsprechende Altersklasse im nächsten Zyklus die Macht übernahm. Gleichzeitig wurden die jungen Mitglieder einer Altersklasse als Wiederkehr der alten angesehen. Und die Ältesten erwarteten, dass auch die Ereignisse, die zur Zeit der »Herrschaft« einer bestimmten Altersklasse stattgefunden hatten, sich im neuen Kreislauf wiederholen würden. In gewisser Weise geschah das auch, weil die Ältesten sie nach dem ihnen überlieferten Muster interpretierten und danach handelten.

Doch kannten sie auch eine Möglichkeit, dem Zwang der Wiederholung zu entgehen. Aingwo erklärte mir, dass die Ältesten auf otin – »Tradition«, »Vergangenheit« oder »Geschichte« – schlagen, so wie sie nach einem schlechten Traum auf eine Ziegenhaut zu schlagen pflegen, um durch den Lärm die Gedanken an den Traum zu vertreiben. Als im 19. Jahrhundert die Krieger der Altersklasse Maina eine katastrophale Niederlage erlitten, entschlossen sich die Ältesten listig, diese Altersklasse abzuschaffen, um eine Wiederholung der Katastrophe im nächsten Zyklus zu verhindern. Ihre Maßnahme hatte Erfolg, die Katastrophe blieb aus. Seither gibt es statt acht nur noch sieben Altersklassen.

Auch die Kolonialzeit wurde in die zyklische Geschichtsvorstellung integriert. Die »Entdeckung« der Europäer und der Beginn der Kolonialzeit fanden statt, als die Altersklasse Kaplelach an die Macht kam. Mir wurde erzählt, dass die ersten Begegnungen mit den Fremden ein Schock waren, aber keine Katastrophe. Denn die Ältesten nahmen die Ankunft der Europäer für die Wiederkehr der Sirikwa, einem geheimnisvollen Volk, das vor Hunderten von Jahren in die Tugenberge gekommen war. Die Sirikwa hatten Rinder und Eisen mitgebracht und waren nach einigen Generationen wieder verschwunden. Und genauso verschwanden auch die Europäer, die zweiten Sirikwa, Anfang der 1960er-Jahre. Doch, so sagte Sigriarok, habe sich mit dem Verschwinden der Europäer nicht viel verändert. Tatsächlich bezeichneten die Ältesten, wie bereits erwähnt, die postkoloniale kenianische Regierung mit demselben Namen wie die Europäer: chumbek. Offensichtlich war ihnen die eigene nationale Regierung genauso fremd wie die Europäer.

Aingwo erzählte, dass er erschrak, als er den ersten Europäer sah. Er hielt ihn für einen Ahnengeist. Der Europäer war weiß wie Salz, und man konnte das Blut sehen, das in den Adern durch seinen Körper floss. Noch mehr aber fürchtete sich Aingwo vor dessen Gewehr. Auch war der Europäer so fett, dass er annahm, dieser esse nicht nur Hirse, sondern auch Menschen.

Andere Älteste erzählten, dass die Europäer während der Kolonialzeit kreuz und quer durch ihre Berge zogen und dass sie einen großen Reichtum an Lebensmitteln besaßen. Doch sie tauschten nur selten. Sie gingen nicht auf die Jagd, und obwohl sie keine Frauen dabeihatten, weigerten sie sich – so beschwerten sich die Ältesten –, Frauen aus den Tugenbergen zu heiraten und über diese Allianz in die Gemeinschaft der Tugen aufgenommen zu werden. Man hielt sie für Spione, die das Land auskundschafteten, um später Verwandte nachzuholen und das Land zu stehlen. Wie mich, so nannten sie auch die Europäer, die lange vor mir bei ihnen aufgetaucht waren, »Affen«, weil sie aus der Wildnis kamen, herumzogen und keine Häuser bewohnten. Und sie nannten einige Europäer auch »Kannibalen«, »die Leute vom Haus mit dem großen Topf«. Es tröstete mich ein wenig, dass ich die Bezeichnung Affe (und Kannibale) nicht mehr nur persönlich nehmen musste.

Als ich 1978 in die Tugenberge kam, stand die Initiation der Altersklasse Kaplelach bevor. Sie war an der Macht gewesen, als die Kolonialzeit begann. Es ist möglich, dass die Ältesten auch in meiner Anwesenheit ein Zeichen dafür sahen, dass die Europäer wiederkommen würden.

Während die Tugen im Norden nur selten direkten Kontakt mit Europäern hatten, bestimmte die Nähe zu den weißen Siedlern, die in der Umgebung von Nakuru auf Farmen lebten, wesentlich die Geschichte im Süden. Die Ethnografie, die die nördlichen Tugen von den Europäern während der Kolonialzeit entwarfen, zeichnet denn auch ein sehr viel positiveres Bild als das der südlichen, die häufig zu brutaler Zwangsarbeit, Trägerdiensten und Straßenbau herangezogen wurden und als Squatter auf den Farmen der Siedler arbeiten mussten. Tatsächlich erinnerten sich die Bewohner der nördlichen Tugenberge an die Kolonialzeit als eine Zeit des Friedens. In vorkolonialer Zeit hatten die Pokot ihnen immer wieder Rinder gestohlen und sie aus den besseren Weidegebieten verdrängt. Als die Kolonialverwaltung 1916 die Grenze zwischen Pokot und Tugen festlegte, gewannen sie einen Teil ihres Weidelandes zurück. Auch gelang es der Kolonialverwaltung – im Gegensatz zur postkolonialen Regierung –, sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Auf lokaler Ebene erlebten die Kolonialisierten den Kolonialismus also höchst unterschiedlich, im Süden der Tugenberge als äußerst gewalttätig und ausbeuterisch, im Norden als eher friedlich. Erst in postkolonialer Zeit wurden den Bewohnern von Bartabwa die Rinder wieder von den benachbarten Pokot gestohlen.

Ich war nicht die erste Ethnologin, die die Tugenberge besuchte.9 Doch keiner der anderen Forscher fand in den Berichten der Ältesten von Bartabwa Erwähnung, wahrscheinlich weil sie sich weiter im Süden aufgehalten hatten. Aingwo erzählte jedoch von europäischen Geografen, die in die Berge kamen und das Land vermaßen. Sie befahlen, dicke Eisenblöcke auszugraben, die von den Sirikwa stammten. Oder sie schauten auf den Boden und sagten: »Da liegt ein Elefant.« Dann gruben sie seine Knochen und Elfenbeinzähne aus.

Es scheint, als hätten die Europäer während der Kolonialzeit die nördlichen Bewohner der Tugenberge nicht besonders beeindruckt. Einen Anlass, eine differenzierte Ethnografie der Europäer zu entwerfen, hat es wohl nicht gegeben. Überhaupt war das Interesse der Ältesten für ihre (koloniale) Geschichte gering. Wenn ich Aingwo fragte, wann dieses oder jenes Ereignis stattgefunden habe, lächelte er und sagte, das sei nicht wichtig, weil die Ereignisse sich sowieso wiederholten. Auch die Kolonialzeit war nicht einmalig, sie war bereits die Wiederholung der Begegnung mit Fremden, den Sirikwa, und die Ältesten rechneten damit, dass sie sich auch in Zukunft wiederholen würde. Sie erkannten jedoch auch, dass ihre Geschichte nicht in einem Kreislauf der immer gleichen Ereignisse aufging. So sahen sie durchaus Unterschiede zum Beispiel zwischen Sirikwa und Europäern. Und sie stellten fest, dass seit der Ankunft der Europäer die verlässliche Verbindung von Überlieferung und Prophezeiung, von Tradition und Erwartung, gestört war. Denn auch sie mussten erfahren, dass sich die Zukunft immer mehr aus dem Kreislauf des scheinbar Gleichen löste und in eine eher neue Ereignisse produzierende Zeit entfloh, die sich nicht mehr so einfach mit der vergangenen gleichsetzen ließ. Der vergangene Zyklus, den sie erinnerten, wurde von zu vielen unkontrollierbaren Einflüssen gestört und nahm Richtungen, die nicht ihren Erwartungen entsprachen. Auch sie mussten feststellen, dass eine einfache Umkehrung des Blicks von der Vergangenheit in die Zukunft nicht mehr gelang.

Menschwerdung eines Affen

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