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1978 besuchte ich die Tugenberge zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Kenia die Unabhängigkeit erlangt. Jomo Kenyatta, ein Ethnologe, der bei Malinowski in London studiert und promoviert hatte, wurde Präsident, und sein Vize Daniel arap Moi stammte, was ich erst später erfuhr, aus den Tugenbergen. Es herrschte (noch) eine optimistische Grundstimmung, die von der Hoffnung auf Modernisierung und Entwicklung (für alle) getragen war.

Den damaligen Standards einer »Rettungsethnologie« entsprechend war ich jedoch weniger an einer afrikanischen Moderne interessiert als an ihrem Gegenbild, an vom Kolonialismus möglichst unberührten Traditionen. Ich hatte mir deshalb eine Gegend im Norden der Tugenberge ausgesucht, wo die Bewohner »noch wie ihre Väter lebten«. In dem Dorf Bartabwa ließ ich mich nieder und begann meine ethnografische Arbeit, ahnungslos und ziemlich ignorant.

Bartabwa war zwar eine koloniale Gründung und diente als Handels- und Verwaltungszentrum, aber die Mehrzahl der Bevölkerung lebte weiter entfernt in verstreuten, kreisrunden Gehöften in den Bergen. Bartabwa bestand aus einer staubigen, nicht asphaltierten Straße mit tiefen Löchern und Rinnen, die Ende der 1950er-Jahre fertiggestellt worden war und sich in der Regenzeit in eine kaum befahrbare Rutschbahn verwandelte. Zu beiden Seiten der Straße standen »moderne« rechteckige Holzhäuser mit Wellblechdach, die an Orte im Wilden Westen erinnerten. Einige der Holzhäuser beherbergten kleine Geschäfte, die Batterien, Taschenlampen, Salz, Zigaretten, Kerzen, Seife – vor allem das Waschmittel Omo – und diverse Konservenbüchsen verkauften. Da die Kundschaft mit wenigen Ausnahmen sehr arm war, wurden Zigaretten einzeln oder sogar halbiert verkauft. Andere Häuser dienten als kleine Bars, die Bier, Tee, Chapati und Bohneneintopf, Kartoffeln und Maisbrei anboten. Es gab auch einen Marktplatz, auf dem Frauen aus der Umgebung zweimal pro Woche Gemüse, Früchte und fertiggekochte Speisen verkauften. In einem der Häuser hatte der einzige wohlbeleibte Mensch in Bartabwa, nämlich der Häuptling, sein Büro. Außerdem gab es eine Maismühle, eine Grundschule und eine Krankenstation.

Zwei Monate nach meiner Ankunft starb Kenyatta, und Daniel arap Moi übernahm die Macht. Damit wurden die Bewohner der Tugenberge »the President’s people«. Viel Geld floss plötzlich in die Region, und eine rasante Entwicklung fand statt. Vor allem der Süden wurde durch eine elegante moderne Asphaltstraße, auf der allerdings weniger Autos als vielmehr Ziegen verkehrten, mit Nakuru, der nächstgrößeren Stadt, verbunden. In Kabarnet, der Distrikthauptstadt am Fuße der Tugenberge, entstanden in Windeseile drei antiken Tempeln nachempfundene pompöse Gebäude: eine Post, ein Supermarkt und eine Schule, die den Rest des Ortes umso erbärmlicher aussehen ließen.

Der neue Präsident Daniel arap Moi stammte aus einem Dorf mit Namen Kabartonjo, das etwa in der Mitte der sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Tugenberge liegt. Hier war er geboren, und bis hierhin führte die asphaltierte Straße, keinen Schritt weiter. Die Bewohner des Nordens, so auch die aus Bartabwa, blieben von der neuen Straße, den Strömen des Geldes und den beschleunigten Entwicklungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Sie mussten als immer noch »Arme«, »Primitive«, »Unterentwickelte« und »Zurückgebliebene« für ein verachtetes Gegenbild in einem Nationalstaat herhalten, der »Fortschritt« und »Entwicklung« propagierte. Neben die räumliche Differenz trat eine zeitliche. Obwohl die Bewohner des Nordens gleichzeitig mit denen im Süden existierten und beide den gleichen Raum, die Tugenberge, teilten, wurden sie in ein »Vorher« und ein »Noch-Nicht« gezwungen. Mit der Verzeitlichung des Gegenbildes entstand eine Dynamik der Negation, der Herabsetzung und Ausgrenzung, die letztlich – vor dem Hintergrund des Versprechens auf Modernisierung und Fortschritt – auf Aufhebung zielte. So wiederholte und bestätigte sich die Zweiteilung der Welt in sogenannte entwickelte und unterentwickelte Regionen hier noch einmal – in Verzerrung und Abhängigkeit.

Die Bewohner von Bartabwa nahmen das sehr wohl zur Kenntnis. Als einige Jahre später eine schlimme Dürre sie heimsuchte und die Regierung keine Hilfe schickte, nannten sie die Hungersnot »nyayo«. Nyayo war der Slogan, den der neue Präsident nach seiner Machtübernahme ausgegeben hatte und der für seine »Philosophie des Friedens, der Liebe und Einheit« stand. Doch der Präsident und seine Anhänger betrieben in den folgenden Jahren nicht nur eine brutale »Politik des vollen Bauches«, der Korruption und des Raubes, sondern auch – um an der Macht zu bleiben – eine verstärkte Politisierung und sogar Militarisierung von Ethnizität, die in den 1990er-Jahren zu gewalttätigen ethnischen »Säuberungen« führten. Dabei sollten Bewohner der Tugenberge sowohl zu Tätern als auch zu Opfern werden.

Es ist kein Zufall, dass die Bewohner Bartabwas in den 1980er-Jahren die eigene nationale Regierung als »chumbek« bezeichneten, eigentlich eine Bezeichnung für Europäer, die Kenia und die Tugenberge kolonialisiert hatten. Offensichtlich sahen sie keine Veranlassung, die Zeit der Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung als vergangen zu betrachten. Trotz des Wechsels der Herrschenden war die Kolonialzeit für sie nicht beendet. Das »post-« in postkolonial erkannten sie nicht an.

Menschwerdung eines Affen

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