Читать книгу Sturm auf den Südpol. Abenteuer und Heldentum der Südpolfahrer - Heinrich Hubert Houben - Страница 15
Kapitän Ross geht auf fahrt
ОглавлениеDie englischen Kolonien Australiens scheinen das Sprungbrett nach dem Südpol werden zu wollen. Bon Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens an der Mündung des Derwent, bricht die französische Expedition zu ihrer zweiten Polarfahrt auf, die nordamerikanische von Sydney, der Hauptstadt von Neusüdwales. Mitte August 1840 läuft auch die lang erwartete englische Expedition unter Kapitän James Ross in den Derwent ein. Sie besteht aus zwei Schiffen, die einen das Schicksal geradezu herausfordernden Namen führen: „Erebus“ und „Terror“ — Unterwelt und Schrecken, denn sie haben früher als Bombenwerfer zur englischen Kriegsmarine gehört und diesen Namen Ehre gemacht. „Erebus“ hat 370 Tonnen, „Terror“ 340; beide sind schwer gebaut und für den Kampf mit dem Eis noch verstärkt, mit Kupferpanzer versehen und bis in jeden Winkel hinein sorgfältigst eingerichtet und ausgerüstet. Führer des „Terror“ ist Kapitän F. R. M. Crozier. Unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern ist ein junger Botaniker namens Joseph Dalton Hooker, der sich als Unterchirurg auf dem „Erebus“ hat verpflichten lassen, um die Fahrt mitmachen zu können und sein berühmtes Buch „Flora antarctica“ zu schreiben. Er ist wohl der einzige jener Generation, dem es vergönnt ist, die Entdeckungsgeschichte der Antarktis noch bis zu Shackletons Südpolfahrt mitzuerleben; er starb 1910 im Alter von dreiundneunzig Jahren.
Die Expedition hat seit ihrer Abreise von Margate am 30. September 1839 bereits eine grosse wissenschaftliche Arbeit geleistet; sie erstreckt sich auf Meereskunde, Geologie, Meteorologie, Naturwissenschaft usw. und wird vom ersten Tage an mit musterhafter Gründlichkeit und Genauigkeit durchgeführt. Im Mittelpunkt aber steht das Studium der erdmagnetischen Phänomene, dem Ross selbst mit wahrer Leidenschaft obliegt. Stündlich wird die Richtung der Magnetnadel registriert. Mit besonderer Spannung sieht Ross der Fahrt über den Äquator entgegen, den geographischen wie vor allem den magnetischen, die sich beide wie zwei in spitzem Winkel gekreuzte Reifen um die Erde legen. Ein grosser Vorteil ist es dabei, dass stets gleichzeitig auf zwei Schiffen die notwendigen Beobachtungen gemacht werden können, und Punkt 1 Uhr nachmittags teilt man sich durch Signale die täglichen Ergebnisse mit. „Um den magnetischen Äquator im rechten Winkel zu passieren“, berichtet Ross, „steuerten wir so gerade nach Süden, wie der Wind es nur gestattete, und fanden bei unsern Beobachtungen der allmählichen Abnahme der Inklination (des Winkels, den die Nadel eines senkrecht aufgestellten Kompasses mit einer waagerechten Ebene bildet) eine so schnelle Veränderung vor, dass sie sich mit grosser Genauigkeit bestimmen liess; so genau, dass das Signal unserer Ankunft auf dem magnetischen Äquator, wo die Nadeln, im Gleichgewicht zwischen dem nördlichen und südlichen magnetischen System, eine vollkommen horizontale Lage annahmen, auf beiden Schiffen im selben Augenblick gezeigt wurde. Nichts konnte zufriedenstellender sein als die vollkommene Übereinstimmung unserer Beobachtungen bei einer so wichtigen Angelegenheit; auch musste es für mich von mehr als gewöhnlichem Interesse sein, die Nadel in dieser Lage zu erblicken, da ich sie einige Jahre vorher am nördlichen magnetischen Pol in vollkommen senkrechter Stellung gesehen hatte, und gewiss war uns, als wir den Südpol der Nadel sich unter den Horizont neigen sahen, die Hoffnung zu verzeihen, dass wir sie in nicht zu ferner Zeit am südlichen magnetischen Pol der Erde in ähnlicher Stellung erblicken würden.“
Die Verfolgung des magnetischen Äquators bringt die beiden Schiffe am 17. Dezember zur Felseninsel Trinidad hinunter, nicht weit mehr von der Küste Südamerikas. Von da steuern sie nun gegen den Passatwind nach St. Helena hinüber, was bis dahin kaum jemals ein Segelschiff versucht hat. Am 31. Januar 1840 gehen sie endlich auf der Reede von St. Helena vor Anker. Hier wird das erste permanente magnetische Observatorium der englischen Kolonien errichtet; die dazu nötige Ausrüstung, Instrumente usw. bringt Ross mit. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, einen geeigneten Platz ausfindig zu machen und die Instrumente auf etwaige örtliche magnetische Einflüsse entsprechend einzustellen. In der Nähe eines Hauses, das ehemals für den Kaiser Napoleon gebaut, aber nie von ihm bewohnt wurde, findet sich ein passendes Grundstück, und mit Hilfe der englischen Regierungsbehörden werden die Pacht- und Bauverträge in wenigen Tagen geschlossen. Ein Leutnant und drei Gehilfen bleiben zur Bedienung der Apparate zurück; der Instruktion des Kommandanten gemäss haben sie so bald wie irgend möglich mit ihrer Arbeit zu beginnen, um schon während der Weiterfahrt der Expedition Vergleichs- und Kontrollzahlen zu sammeln. Das zweite Observatorium wird in der Simonsbucht am Kap der Guten Hoffnung angelegt. Von da fährt Ross um das Kap herum nach Osten und sichtet am 21. April die Südspitze der Prinz-Eduard-Inseln, während Kapitän Crozier mit dem „Terror“ die Nordküsten entlangsegelt. Bei den Crozet-Inseln wollen sich beide Schiffe wieder treffen; dort muss Ross vor Anker gehen, um einer Gesellschaft Robbenfänger Wintervorräte zu übergeben, um deren Mitnahme ihn ein Kaufmann in Kapstadt gebeten hat. Ob sich die Leute auf der Possessionsinsel oder auf der Ostinsel befinden, weiss ihr Brotherr nicht, und da Sturm, Regen und Nebel die Arbeit des Steuermanns ausserordentlich erschweren, dauert es mehrere Tage, ehe es gelingt, sich zwischen den Klippen und Untiefen des ganz unbekannten Fahrwassers den felsigen Küsten dieser Eilande zu nähern und durch Kanonenschüsse und andere Signale die Robbenjäger in ihrem Schlupfwinkel auf der Possessionsinsel ausfindig zu machen. Die Begegnung mit diesen halb verwilderten Seeleuten ist selbst für einen Mann wie Ross, der jahrelang unter den Eskimos der Arktis gelebt hat, ein so ungewöhnlicher Eindruck, dass er sie in seinem Tagebuch mit einer bei ihm höchst seltenen Ausführlichkeit schildert:
„Nachdem wir uns am nächsten Morgen wieder dem Lande genähert und die Amerikabucht zu Gesicht bekamen, sahen wir die Leute am Strande ihr Boot aussetzen. Mr. Hickley, ihr Anführer, kam an Bord; er und seine Bootsmannschaft sahen mehr aus wie Eskimos als wie zivilisierte Wesen, waren aber noch weit schmutziger, als ich je Menschen gesehen habe. Ihre Kleider waren buchstäblich in Tran getränkt und rochen abscheulich; sie trugen Stiefel aus Pinguinfellen mit nach inwendig gekehrten Federn; sie sagten uns, das Wetter sei so stürmisch gewesen, dass sie gestern zum erstenmal seit fünf Wochen ein Boot hätten aussetzen können; sie hatten daher noch sehr wenig See-Elefanten gefangen und waren verdriesslich, dass sie den Winter nicht nach der Schweineinsel ziehen sollten; die Schweine seien auf dieser Insel so zahlreich, dass man kaum vor ihnen ans Land kommen könne. Seitdem Kapitän Distance 1834 die ersten dieser Tiere dort aussetzte, haben sie sich in weniger als sechs Jahren ungeheuer vermehrt, obgleich die Robbenfänger jährlich eine Menge der Tiere schlachten. Auf der Possessionsinsel hat ein amerikanisches Schiff vor mehreren Jahren einige Ziegen zurückgelassen, die bei dem langen groben Gras, das dort häufig ist, gut gedeihen und unter dem Schutz der Robbenfänger noch nicht verwildert sind. Die Gesellschaft bestand aus elf Mann, von denen einer seit drei Jahren auf der Insel war; sie schienen gar nicht den Wunsch zu haben, nach dem Kap zurückzukehren, und waren vollkommen mit ihrem Los zufrieden, da sie Überfluss an Lebensmitteln hatten. Sie essen die Zunge, die Flossen und andere Körperteile des See-Elefanten; daneben fangen sie in Massen einen Klippfisch, wahrscheinlich eine Art Notothenia, von der Grösse eines kleinen Schellfisches, mit sehr dickem Kopf, und trocknen ihn auf den Felsen. Von den Eiern der Seevögel sammeln sie in der Brutzeit ganze Boote voll; besonders die des Albatros, die meist über ein Pfund schwer sind, sollen vortrefflich schmecken. Die Jungen dieses Vogels frisch aus dem Nest sind nach Versicherung der Leute eine wahre Delikatesse; aber mit den Gewohnheiten der Eskimos mögen sie auch deren Geschmack angenommen haben. Der Boden dieser Inseln ist durchaus fruchtbar, aber es ist den Leuten nie eingefallen, Kartoffeln oder anderes Gemüse anzupflanzen, die gewiss hier fortkommen würden, denn die Temperatur ist nie sehr niedrig. Ein See auf dem Gipfel der roten Klippe ist so reich an Wildenten, dass zu diesem Zweck abgerichtete Hunde so viel davon fangen, wie man nur haben will. Einen Lageplan der Insel hatten die Leute nicht, und ihre Angaben über deren Beschaffenheit waren sehr unsicher und ungenügend. Sie soll 20 Meilen lang und 10 breit sein; auf der Ostseite sind drei Buchten, in denen Schiffe vor Anker gehen können, aber die Westküste ist wegen der schweren Dünung, die beständig gegen den Strand rollt, ganz unzugänglich. Vor einiger Zeit ging auch ein dieser Gesellschaft gehöriges Boot beim See-Elefanten-Fang mit der ganzen Mannschaft zugrunde.“
Ohne den „Terror“ gesehen zu haben, geht Ross am 30. April nach den Kerguelen-Inseln weiter, wo er, von heftigen Stürmen verfolgt, am 12. Mai eintrifft; einen Tag später langt auch das Begleitschiff an. Hier bleibt die Expedition zweieinhalb Monate. Auf dem flachen Strand im Hintergrund des Weihnachtshafens an der Nordküste werden zwei Hütten für Offiziere und Mannschaft und ein Observatorium errichtet, und während die Physiker ihre Instrumente bedienen, untersuchen die Naturwissenschaftler die jetzt so kärgliche Flora dieser Inseln; ehemals waren sie reich mit Wald bedeckt, den ein vulkanischer Ausbruch völlig vernichtet hat. Schon seit Cooks Besuch im Jahre 1776 sind die Fossilien von Kerguelen berühmt; man entdeckte dort versteinerte Bäume von über zwei Meter Dicke. „Einige Stücke“, sagt Ross, „schienen noch so frisch zu sein, dass man sich erst durch Berührung und genaueste Besichtigung überzeugen musste, dass sie versteinert waren; sie fanden sich in jedem Stadium der Versteinerung vor, von der Steinkohle an, die ganz gut brannte, bis zur Härte eines Kiesels, der Glas ritzt. Eine mehrere Fuss dicke Schieferschicht, die über einigen dieser versteinerten Bäume lag, hat wahrscheinlich ihre Verkohlung verhindert, als die flüssige Lava über sie wegströmte.“
Am 20. Juli geht die Fahrt weiter. Das Observatorium auf Kerguelen-Land hat Ross wieder abreissen lassen. Am 12. August kommt Australien (Neuholland) in Sicht, und nach einem dreitägigen Orkan, der die beiden Schiffe abermals voneinander trennt, läuft der „Erebus“ am 15. in den Hafen von Hobart oder Hobarttown, wie die Hauptstadt Tasmaniens damals heisst, ein; der „Terror“ ist schon früher angelangt. Die Vorbereitungen zum Bau eines dritten permanenten Observatoriums sind durch die Vorsorge der englischen Regierung und des Gouverneurs John Franklin so weit gediehen, dass mit Hilfe von 200 Strafgefangenen das Haus in neun Tagen fertig dasteht.
In Hobart aber erwartet den Führer der Expedition eine verdriessliche Überraschung. Das eigentliche Ziel seiner Fahrt ist der magnetische Südpol, der nach der Berechnung von Gauss ungefähr auf dem Meridian von Sydney, dem 150. Grad östlicher Länge und auf 73° südlicher Breite zu suchen ist. Ross erfährt jetzt, dass vor einem halben Jahr die französische Expedition unter d’Urville und die amerikanische unter Wilkes im australischen Viertel des Südpolargebietes Erkundungsfahrten gemacht und dort bisher unbekannte Küsten gefunden haben, von denen wenigstens d’Urvilles Adélie-Land eine unbestreitbare Entdeckung ist. Auch er empfindet das als einen Einbruch in eine englische Domäne, denn dass seine Expedition das gleiche Ziel haben musste, konnte den beiden Konkurrenten nicht unbekannt sein. Schon ihr Nationalstolz, meint er, hätte es ihnen verbieten müssen, gerade den Weg zu nehmen, auf den ihn sein Auftrag verwies; der Stolz Englands, das bisher bei seinen Entdeckungen im Norden und Süden stets vorangegangen sei, dulde es natürlich nicht, einer andern Nation nachzutreten. Da die Instruktionen der britischen Admiralität dem Führer der Expedition bei unvorhergesehenen Ereignissen freie Hand lassen, entschliesst sich Ross sogleich, zunächst jede Berührung mit dem von den beiden befahrenen Gebiet zu vermeiden, auf einem weit östlicheren Meridian nach Süden vorzudringen und, wenn möglich, den magnetischen Südpol von dorther zu erreichen. Auf diesem Meridian Neuseelands hat er zwar auch einen Vorgänger in Balleny, aber das ist ein Engländer, von dessen Erfolgen er glücklicherweise kurz vor seiner Abreise gehört hat, und dieser 170. Längengrad empfiehlt sich schon deshalb, weil auf ihm Balleny im Polarsommer 1839 bis 69°s. Br. offenes Meer gefunden hat. Wie glücklich dieser Entschluss ist, zeigt sein ungeahnter Erfolg; das vorwiegend wissenschaftliche Arbeitsprogramm der englischen Expedition erweitert sich zu einer epochemachenden Entdeckungsreise, und da Ross sich nun ganz der östlichen Seite der Antarktis zuwendet, betritt er den Schauplatz, den der Herzog von Sussex in seinem Brief an Alexander von Humboldt vom Juli 1836 der damals beschlossenen Expedition ursprünglich angewiesen hatte.