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Flammen über dem Schnee

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Länger als eine Woche sind „Erebus“ und „Terror“ eine wehrlose Beute der Stürme, die aus allen Himmelsrichtungen blasen. Regen, Schnee und Nebel sind ihre steten Begleiter. Um nicht gegen die gefährliche Küste des neuentdeckten Landes im Westen gedrängt zu werden, müssen sie so weit wie möglich nach Osten ausweichen, ohne das Fahrwasser dort zu kennen; sicher fühlen sie sich nur, wenn sie mit kleinsten Segeln auf hohen Wellen schaukeln, dann sind Untiefen, Packeis oder nahes Land nicht zu fürchten. So dauernd schweres Wetter hat Ross hier nicht mehr erwartet, und dieser zähe Kampf um jeden Kilometer vorwärts ist langwierig und ermüdend. Der Polarsommer ist kurz, jeder Tag kostbar. Aber über die Breite der Possessionsinsel scheinen die Schiffe nicht hinauskommen zu sollen. Was sie an einem Tag gewinnen, geht durch einen Sturm aus Süden in wenig Stunden wieder verloren. Am 16. Januar kreuzen sie immer noch auf 72° 12′, und abermals treiben sie nach Norden zurück. Nur selten zerreisst der Vorhang von Schnee und Nebel; dann öffnet sich im blendenden Glanz der Sonne eine Szenerie, die an Grossartigkeit alles übertrifft, was Ross und seine Begleiter je gesehen oder geträumt haben; immer neue Schneegebirge tauchen am südwestlichen Horizont auf; einmal, an einem stillen Abend nach stürmischem Tag, stehen ihre weiss leuchtenden Gipfel vor dem dunkelblauen Himmel wie in unermesslicher Höhe über der grauen Wolkenschicht, die den untern Teil der Gebirge verhüllt. Ein andermal liegt da, wo soeben noch ein Eisberg schwamm, eine mit Erde und Steinen bedeckte Insel — kein Zweifel, der Eisberg ist umgekippt und zeigt nun die Seite, die ihn ehemals mit festem Lande verband; bei genauer Beobachtung ist noch ein leichtes Schwanken der rätselhaften Masse bemerkbar, sonst wäre das eigenartige Naturschauspiel nicht zu erklären. Bei Windstille, die ebenso unwillkommen ist und ebenso plötzlich auftritt wie ein Sturm aus Süden, werden fleissig Tief seelotungen gemacht, und das Schleppnetz fördert eine Unmasse Mollusken und andere wirbellose Tiere herauf, die Nahrung der Walfische, die hier sehr zahlreich sind. Die Mannigfaltigkeit animalischen Lebens im Meerwasser ist demnach hier unten nicht geringer als anderwärts. Der merkwürdigste Fund sind mehrere schöne Exemplare lebender Korallen, die aus 500 Meter Tiefe heraufgeholt werden; bisher waren Naturforscher und Geologen überzeugt, dass Korallentierchen nur wenige Meter unter der Oberfläche des Wassers existieren können. Und unter den wirbellosen Tieren, die das Schleppnetz ausschüttet, sind mehrere Arten, die als Bewohner der Nordpolarzone gut bekannt sind — eine Feststellung von ausserordentlicher wissenschaftlicher Bedeutung, denn Weichtiere halten nur einen Temperaturunterschied von wenigen Graden aus, und wenn man annehmen will, dass sie aus dem Nordpolarmeer in das Südpolarmeer eingewandert sind, müssen sie in einer Meerestiefe von etwa 4000 Meter ihren Weg durch die heisse Zone gefunden haben. Bisher aber bestreitet die Naturwissenschaft, dass so gebrechliche und empfindliche Geschöpfe in solcher Tiefe leben können.

Am 19. Januar schwellt endlich wieder ein mässiger Nordwind die Segel. Auf der Höhe der Coulman-Insel (Ross tauft sie so nach seinem Schwiegervater) wird zum erstenmal ein hoher spitzer Berg gesichtet, der mit dem Ätna eine überraschende Ähnlichkeit hat; zu Ehren des damaligen Premierministers von England erhält er den Namen Mount Melbourne. Und um Mittag des 22. Januar darf Ross den wohlverdienten Triumph buchen, dass er den Rekord seines Landsmanns Weddell, der am 20. Februar 1823 von der entgegengesetzten Seite aus bis 74° 15′ vorgedrungen ist, mit 74° 20′ geschlagen hat, was am Abend mit einer Extraration Grog von der Schiffsmannschaft gebührend gefeiert wird. Aber alle Versuche, sich der Küste des Victoria-Landes zu nähern, bleiben vergeblich; nirgends zeigt sich eine Bucht, die tief in das Bergland hineinführte und einen sichern Platz zum Überwintern böte; obendrein zieht ein viele Kilometer breiter Strom von Packeis die Küste herauf nach Norden, der die Schiffe mit fortreissen würde. Messungen am 26. Januar ergeben, dass der magnetische Südpol nur noch etwa 300 Kilometer entfernt sein kann. Vielleicht ist in einer oder zwei Wochen das Packeis abgezogen; dann lässt sich eher an die Küste herankommen. Einstweilen also weiter nach Süden!

Am 27. halten die Schiffe auf eine Insel zu, die nach Sir John Franklin, dem Gouverneur von Tasmanien, benannt wird. Mit einem Walboot gelingt es Ross, trotz der schweren Brandung an Land zu springen, aber von den Offizieren, die ihm, nachdem ein Tau hinübergeworfen ist, folgen, wäre einer um ein Haar zwischen der Felsküste und dem schweren Boot zerquetscht worden. Ein paar Gesteinsproben werden zusammengerafft, auch dieses Stück Land feierlich in Besitz genommen, dann springen alle schleunigst wieder ins Boot und kommen bis auf die Haut durchnässt und halb erfroren bei den Schiffen an. Von Vegetation zeigte die Insel keine Spur, ebensowenig wie die Possessionsinsel, woraus Ross schliesst, dass die Antarktis keinerlei Pflanzenleben besitze.

Die Ereignisse des folgenden Tages bilden den Höhepunkt der englischen Entdeckungsfahrt, und die Schilderung, die Ross selbst von ihnen gibt, ist ein entdeckungsgeschichtliches Dokument ersten Ranges, das in seinem ursprünglichen Wortlaut wiedergegeben zu werden verdient: „Mit gutem Wind und bei klarem Wetter steuerten wir südlich nach einem Lande, das wir seit gestern mittag in Sicht hatten und dem wir den Namen ‚Die hohe Insel‘ beilegten; es erwies sich aber als ein Berg von 4000 Meter Höhe, der Rauch und Feuer spie; zuerst sah der Rauch wie eine Schneewolke aus, aber als wir näher kamen, zeigte sich bald sein wahrer Charakter. Die Entdeckung eines tätigen Vulkans unter so südlicher Breite ist gewiss von ausserordentlicher geologischer Bedeutung und kann auf die physische Beschaffenheit unseres ganzen Planeten einiges Licht werfen. Ich nannte ihn Erebus, und ein erloschener Vulkan, östlich von ihm und 3300 Meter hoch, erhielt den Namen Terror. Das östliche Kap am Fusse des Terror nannte ich nach meinem Freunde und Kollegen Kap Crozier und das westliche Vorgebirge, den Ausläufer des Erebus, nach meinem ersten Leutnant Kap Bird. Diese beiden Vorgebirge bilden die einzigen auffälligen Spitzen der Küste, da die Bucht zwischen ihnen von unbeträchtlicher Tiefe ist. Eine davorliegende niedrige Insel, die schon am Morgen in Sicht war, wurde Beaufort-Insel benannt.

Um 4 Uhr nachmittags warf der Vulkan Erebus ungewöhnlich viel Rauch und Feuer aus und bot einen höchst grossartigen Anblick. Bei jedem Ausbruch wurde eine dichte Rauchwolke mit grosser Gewalt emporgetrieben und stieg als eine Säule von 500 bis 600 Meter über dem Krater in die Höhe, wo sich ihr oberer Teil zuerst kondensierte und als Nebel und Schnee herabfiel. Allmählich verschwand sie, um nach einer halben Stunde von einer neuen Rauchwolke ersetzt zu werden. Doch waren die Zwischenräume zwischen den Ausbrüchen unregelmässig. Der Durchmesser der Rauchsäule war unserer Schätzung nach 70 bis 90 Meter; so oft sich der Rauch verzog, war die rote Glut, die die Mündung des Kraters füllte, deutlich zu sehen; einige Offiziere glaubten Lavaströme zu erblicken, die den Abhang des Berges herabflossen, bis sie sich unter dem Schnee, der etwa 70 Meter unterhalb des Kraters anfing, verloren. Der Vulkan Terror war viel freier von Schnee, besonders auf seiner Ostseite, wo sich viele kleine, kegelförmige, kraterähnliche Hügel befanden, die jedenfalls früher tätige Vulkane waren; zwei sehr auffällige Spitzen dieser Art bemerkten wir in der Nähe von Kap Crozier. Das Land zwischen Kap Crozier und Kap Bird, über dem sich die beiden Vulkane Erebus und Terror erhoben, erschien uns von unserer gegenwärtigen Stelle aus als eine Insel; aber das feste Eis, das uns nicht erlaubte, westlich von Kap Bird vorzudringen, gestattete uns vorderhand nicht, das mit Sicherheit festzustellen.

Wir befanden uns an diesem Nachmittag auf 76° 6′ südlicher Breite und 168° 11′ östlicher Länge. Wie die Inklination der Magnetnadel bewies, waren wir schon sehr weit südlich vom magnetischen Pol, ohne dass sich eine Möglichkeit zeigte, sich ihm zu nähern, denn das Landeis vereinigte sich nicht weit von uns im Westen mit der Westspitze der vermeinten ‚hohen Insel‘, die sich später als ein Teil des festen Landes erwiesa). Als wir uns mit allen Leesegeln dem Lande näherten, bemerkten wir eine niedrige weisse Linie, die sich von seiner äussersten östlichen Spitze, so weit das Auge reichte, nach Osten erstreckte. Diese Linie sah überaus merkwürdig aus, sie wurde allmählich höher und entpuppte sich, als wir näher kamen, als eine senkrechte Eismauer von 50 bis 60 Meter Meereshöhe, oben vollkommen eben und nach der Seeseite hin ohne Spalten und Vorsprünge. Was dahinter war, liess sich nicht einmal erraten; denn da dieser Wall viel höher war als unsere Mastspitze, konnten wir nichts sehen als die Gipfel einer hohen Bergkette, die sich bis zum 79. Breitengrad nach Süden erstreckte. Dieses Gebirge, das südlichste bis jetzt von mir entdeckte Land, nannte ich nach dem Kapitän Sir William Edward Parry, in dankbarer Erinnerung der mir erwiesenen Ehre, dass er dem nördlichsten bekannten Lande meinen Namen beilegte, und noch mehr in Anerkennung der Aufmunterung, des Beistandes und der Freundschaft, die er mir während der vielen Jahre, die ich unter diesem Manne gedient habe, erwiesen hat. Ob das Parry-Gebirge sich wieder ostwärts wendet und die Basis bildet, an der diese merkwürdige Eismasse festhängt, muss späteren Seefahrern zu bestimmen überlassen bleiben. Wenn sich weiter im Süden Land befindet, so muss es sehr entfernt sein oder eine viel geringere Höhe haben als die übrigen Teile der Küste, sonst hätte es sich über dem Walle zeigen müssen.

Ein solches Hindernis zu finden, war für uns eine sehr verdriessliche Enttäuschung, denn wir hatten bereits im Geiste den 80. Grad weit hinter uns und sogar für den Fall einer zufälligen Trennung der beiden Schiffe voneinander dort ein Zusammentreffen verabredet. Das Hindernis war jedoch der Art, dass uns über den weiter einzuschlagenden Weg keine Wahl übrigblieb, denn man könnte mit ebensoviel Aussicht auf Erfolg versuchen, durch die Klippen von Dover zu segeln, wie durch diese Eismauer. Als wir noch 7 bis 9 Kilometer von ihr entfernt waren, wandten wir uns daher nach Osten, um ihre Ausdehnung zu ermitteln, und nicht ohne einige Hoffnung, doch noch etwas weiter südlich vordringen zu können.“

Mit diesen schmucklosen und doch so eindringlichen Worten hat der grosse Entdecker James Ross zum erstenmal den Schauplatz umrissen, der für die Erforschung der Antarktis und für die Eroberung des Südpols von klassischer Bedeutung geworden ist.

Sturm auf den Südpol. Abenteuer und Heldentum der Südpolfahrer

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