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Land am Südpol!

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James Cook hat auf seiner Weltreise um die Antarktis Südgeorgien, das Paradies der See-Elefanten und Pelzrobben, für England in Besitz genommen, obgleich kein Zweifel besteht, dass ein Spanier Antonio de la Roché mit zwei Kauffahrteischiffen, die aus Hamburg stammten, aber nicht unter dessen Flagge fuhren, diese Insel 1675 entdeckte und ein spanisches Handelsschiff „Leon“ sie 1756 wiederfand. Was soll Cooks reiches Vaterland, dem die sonnige Südsee so viel Herrlichkeiten beschert, mit einer Insel, die mehr einem jener Eisbergriesen aus dem Innern der Antarktis ähnelt als einem Festland? Niemand kann ja geringschätziger darüber urteilen als Cook selbst! „Südgeorgien“, erklärt er, „widerlegt die landläufige Meinung, dass jeder Teil der Erde, der wildeste und kälteste nicht ausgenommen, Menschen zum Aufenthalt dienen könne. Schon der Sommer ist hier sehr kalt, der Winter aber würde ein menschliches Wesen unfehlbar töten. Den Handel kann nichts verlocken, sich bis zu diesen Breiten vorzuwagen. Der blaugraue Schiefer von Südgeorgien enthält keine Metalle, und See-Elefanten und See-Löwen, deren Tran einen Handelsartikel bildet, findet man an den südlichen Küsten Amerikas viel häufiger. Sollte der Walfischfang am Nordpol dereinst abnehmen, dann brauchte man auch diese Tiere nicht bei Südgeorgien zu suchen.“ Wie sehr überschätzt Cook den Reichtum der Welt! Auffallender noch: wie sehr unterschätzt dieser grosse Entdecker die Tatkraft und Zähigkeit der menschlichen Rasse und ihrer Haupttriebfedern Habsucht und Not! Und wie drastisch hat ihn die Geschichte widerlegt! Sofort nach Bekanntwerden des Cookschen Berichtes werden in England und Amerika Jagdschiffe ausgerüstet, um See-Elefanten und Pelzrobben zu jagen. Die Ausbeuter wirtschaften so gründlich, dass um 1820 die Küsten Südgeorgiens schon als verödet gelten. Die Pelzrobben kommen nicht mehr recht auf, nur die See-Elefanten erholen sich. Später wird Südgeorgien ein Mittelpunkt des Walfanges, den der um die Südpolforschung verdiente Kapitän Carl Anton Larsen organisiert. Auf den Tussokgraswiesen einiger seiner Täler äsen Renntiere, die Larsen 1908 aus seiner norwegischen Heimat mit Erfolg dort eingeführt hat. 1919 zählt Südgeorgien schon 1000 Einwohner, und heute ist die Fangschifferstation Grytviken an der Kochtopfbucht eine kleine Stadt mit behaglichen Klubräumen und einem Kino in der Kirche, die derselbe Larsen hat erbauen lassen. Die Kälte tötet die Menschen nicht mehr, wie Cook seine Zeitgenossen glauben machen möchte. Oder will er mit seiner Warnung nur dem zu befürchtenden Schicksal der Insel vorbeugen oder wenigstens fremde Nationen abschrecken, solange England selbst mit Amerika, Australien und der Südsee kolonial überbeschäftigt ist?

Auch seine eindringliche Warnung vor dem Polarlande, an dessen Existenz er doch glaubt, klingt ein wenig verdächtig! Er schildert es in den schwärzesten Farben: „Man muss den dichten Nebeln, den Schneestürmen, der durchdringenden Kälte und all den Gefahren trotzen, die nur irgend die Schiffahrt bedrohen können. Die Küsten, deren Aussehen weit schrecklicher ist, als sich jemand vorstellen kann, erhöhen diese Gefahren noch. Dieses Land ist von der Natur dazu verdammt, nie die Wärme eines Sonnenstrahls zu fühlen und für ewig unter Schnee und Eis verborgen zu bleiben. Die Häfen, die man da finden mag, sind sämtlich mit Eis von bedeutender Dicke angefüllt, und sollte einer so weit offen sein, um ein Schiff hereinzulassen, so würde es dort für ewig festgehalten werden oder nur in eine Eisinsel eingefroren wieder herauskommen. So sind schon die Länder, die wir entdeckt haben (Südgeorgien und Sandwichland); wie mögen dann wohl erst jene sein, die noch weiter gegen Süden liegen? Man muss ja vernünftigerweise annehmen, dass wir noch die besten, weil nördlichsten, gesehen haben. Sollte aber jemand den festen Willen und die Ausdauer haben, diesen Punkt durch ein weiteres Vordringen aufzuklären, so werde ich ihn um den Ruhm dieser Entdeckung nicht beneiden, aber ich bin so kühn, zu erklären, dass die Welt keinen Nutzen davon haben wird.“ Und dann entschlüpft ihm das viel zitierte, stolze Wort: „Die Gefahr eines weiteren Vordringens an dieser Küste ist so gross, dass ich dreist behaupte: kein Mensch wird sich jemals weiter vorwagen, als ich es tat, und die Länder um den Südpol werden für immer unentdeckt und unerforscht bleiben!“

Cook hat durch seine Umseglung der Antarktis gleichsam eine Schlinge um dieses Land gelegt — will er die übrige Welt veranlassen, diesen Zauberkreis zu respektieren und England hier nie in die Quere zu kommen, bis es selbst Zeit gewinnt, an die Aufhellung dieses Teils der Erdoberfläche zu gehen? Der Erfolg seiner abschreckenden Warnung ist jedenfalls unbestreitbar. Die Wal- und Robbenjäger halten sich an die Inseln, die ausserhalb des südlichen Polarkreises schon bekannt sind oder auf ihren Beutezügen neu gefunden werden. Eine Entdeckungsexpedition aber lässt sich länger als vier Jahrzehnte nicht mehr jenseits des 60. Breitengrades sehen. Erst 1819 kommt der Zar Alexander I. von Russland auf den Gedanken, die vielen Unternehmungen, durch die er dem russischen Handel Weltgeltung zu verschaffen weiss, durch zwei wissenschaftliche Expeditionen zu krönen: die eine soll das nördliche, die andere das südliche Polarmeer aufsuchen. Am 25. März 1819 befiehlt er die Ausrüstung der nötigen Schiffe und ernennt zwei Monate später zum Führer der Südexpedition den Kapitän Fabian Gottlieb von Bellingshausen, der schon die erste russische Weltumseglung unter Krusenstern 1803—1806 mitgemacht hat. Als dieser vom Schwarzen Meer, wo er eine Korvette befehligt, in Kronstadt eintrifft, warten auf ihn im dortigen Hafen zwei bereits völlig segelfertige Schiffe: „Wostok“ (der Osten), eine mit 20 Kanonen bestückte Korvette von 70 Meter Länge mit 117, und das 530 Tonnen fassende Transportschiff „Mirny“ (der Friedfertige) mit 72 Mann Besatzung. An Bord des „Wostok“ sind der Astronom Iwan Simanow und der Maler Pawel Michailow; zwei deutschen Naturforschern, Mertens in Halle und Gustav Kunze in Leipzig, die mitreisen sollen, lässt man nicht Zeit, sich angemessen auszurüsten, sie lehnen daher ab; Ersatz ist in der Eile nicht zu beschaffen, also muss es ohne Naturforscher gehen. Befehlshaber des „Mirny“ ist Leutnant Michail Lazarew, der ebenfalls schon einmal die Welt umsegelte auf einem Schiff der russisch-amerikanischen Handelskompagnie; vorher war er vier Jahre in englischen Diensten.

Die beiden aus Kiefernholz gebauten Fahrzeuge sehen nicht gerade wie Eisbrecher aus, werden an ihren Unterwasserteilen noch schnell mit Kupferplatten verstärkt und lichten am 16. Juli die Anker, zunächst nach England, wo Bellingshausen die neusten Instrumente und Karten einkauft. Am 4. Dezember segeln sie von Rio de Janeiro nach Südgeorgien, das am 27. in Sicht kommt. Bellingshausen nimmt die von Cook nicht befahrene Südküste der Insel sorgfältig auf und findet vor ihrer Mitte ein kleines, hohes Felseneiland, das er nach dem Leutnant des „Mirny“ Annenkovinsel nennt. Auf der Weiterfahrt nach Osten entdeckt er drei andere kleine Inseln, die er dem russischen Marineminister zu Ehren Traversey-Inseln tauft; die eine von ihnen ist vulkanisch, dicke Schwefeldämpfe stossen aus dem Kraterberg empor; am 4. Januar 1820 landet ein Boot ohne Schwierigkeit an ihrem ganz schneefreien Strand; seine Bewohner, Unmassen Pinguine, sehen zum erstenmal Menschen und sind nur mit Stossen und Schlagen aus dem Weg zu bringen. Am 8. Januar erreicht Bellingshausen Cooks Sandwichland, das er mit grosser Genauigkeit kartographiert; es ist kein Festlandzipfel, sondern ein Archipel von neun Inseln.

Von da steuert Bellingshausen, rings von Treibeis und Eisbergen umgeben, nach Osten. Seine Aufgabe ist eine Umsegelung der Antarktis nach Cooks Vorbild. Das Experiment ist einmal gelungen, seine Wiederholung verliert daher den Reiz unerhörter Neuheit und Kühnheit. Der Nachfolger weiss schon, was er zu erwarten hat; er knüpft an die Ergebnisse des Vorgängers an; sein Ehrgeiz aber muss sein, sie zu verbessern. Bellingshausen soll die Meeresstriche untersuchen, wo noch niemand vor ihm war — niemand? In diesen Breiten ist das kein anderer als Cook, der mehrmals grosse Bogen nach Norden gemacht hat. Bellingshausen sucht daher möglichst überall südlicher durchzukommen als sein Vorgänger, und die Eisverhältnisse erlauben ihm das. Hat Cook nur 115 Längengrade innerhalb des 60. Breitengrads durchsegelt — der Russe übertrumpft ihn mit 243; 46 davon legt er sogar innerhalb des Polarkreises (66° 30′) zurück, was Cook nur bei 18 gelang. Bellingshausen dringt nicht nur drei-, sondern sechsmal über den Polarkreis vor und kommt gleich in den ersten Wochen seiner Fahrt am 2. Februar 1820 bis 69° 25′ und am 17. und 18. bis 69° 6′, beim drittenmal aber, am 26. Februar, nur bis 66° 53′ auf 40° 55′ ö. L., fast demselben Meridian, auf dem Cook am 17. Januar 1773 vor einer hohen Eismauer auf 67° 17′ s. Br. umkehren musste. Dadurch, dass Bellingshausen sich südlicher halten kann, kürzt er seinen Weg ab; den Gürtel, den Cook um die Antarktis legte, zieht er straffer an, damit schrumpft das schon so bescheiden gewordene, immer noch unsichtbare Südland abermals zusammen. Der russische Forscher übersommert nur einmal in Australien und der Südsee (vom 11. April bis 12. November 1820) und ist pünktlich in zwei Jahren wieder in Kronstadt, obgleich der „Mirny“ durch seinen grossen Tiefgang ein schlechter Segler ist. Seine höchste südliche Breite erreicht Bellingshausen im zweiten Abschnitt seiner Fahrt, am 22. Januar 1821 auf 92° 19′ w. L., wo er bis 69° 53′ vordringt; 14 Grad westlich davon betrachtete Cook am 30. Januar 1774 auf 71° 10′ s. Br. so nachdenklich die gebirgsartig aufsteigende Eislandschaft. So hohe Breite gewinnt Bellingshausen nirgends, dafür aber entdeckt er die ersten unzweifelhaften Landküsten innerhalb des Polarkreises, und dieser Erfolg sichert seiner Expedition ihre bleibende Bedeutung, mehr als die 27 Inseln, die er auf seiner 87 000 Kilometer langen Weltreise ausserhalb der antarktischen Zone fand; das mächtige Zarenreich legt auf so winzige und ferne Kolonien keinen Wert. Als er von seinem südlichsten Punkt, dem Treibeis ausweichend, nach Nordwesten segelt, zeigt sich am Horizont ein kleiner, schwarzer Fleck, und als die Sonne aus den Wolken tritt, steht da eine hohe Felseninsel, mit Ausnahme einiger schroffen Abhänge ganz mit Schnee bedeckt, aber von so undurchdringlichem Eis umgeben, dass die Schiffe nur bis auf 20 Kilometer herankönnen. Sie erhält den Namen Peters I., des Begründers der russischen Marine, und da Bellingshausen mehr Land in der Nähe vermutet, segelt er auf dem Breitengrad dieser Insel (68° 57′) noch ein Stück nach Osten. Seine Hoffnung geht über Erwarten in Erfüllung. Am Morgen des 29. Januar wird ein hohes Kap gesichtet, dessen gebirgiges Ufer sich nach Südwesten ausdehnt; hier und da brechen Felsen durch, im übrigen ist es ganz mit Schnee bedeckt. Ungeheure Eismassen verhindern auch hier jede Annäherung, und ob es Insel oder Festland ist, bleibt ungeklärt, da aber schneefreie Felsspitzen noch weit im Hintergrund erkennbar sind — es ist der hellste und schönste Tag, den die Expedition in südlichen Breiten erlebt —, gilt Alexanderland, wie sein Entdecker es benennt, fast ein Jahrhundert lang als der zuerst gesehene Ausläufer eines antarktischen Festlandes, dessen Existenz damit erwiesen ist. Seine weitere Erforschung wird nun das grosse Ziel der Südpolfahrer.

Bellingshausens Reise endet mit einer Überraschung. Er hat im Port Jackson (Sydney) erfahren, dass ein englischer Kapitän namens Smith im Jahre 1819 zwischen dem 62. und 63. Grad s. B. und nur 10 Längengrade von Alexanderland entfernt eine Kette unbekannter Inseln gefunden hat. Die will er sich etwas näher ansehen; sie könnten mit dem eben entdeckten Festland zusammenhängen; jedenfalls lässt ihre kartographische Bearbeitung noch einiges zu wünschen übrig; sein Weg führt ihn sowieso da vorbei, denn er will seine Fahrt bei Südgeorgien, wo er sie begonnen hat, abschliessen; das Flaggschiff „Wostok“ ist in einem so baufälligen Zustand, dass er froh sein kann, wenn er damit glücklich nach Hause kommt. Am 5. Februar sichtet er im Nordosten eine Gruppe von Inseln. Sind es die kürzlich von Kapitän Smith entdeckten oder andere, noch ganz unbekannte? Er fährt auf sie zu, in der Absicht, sie zu kartieren, da verschwindet das ganze Bild hinter einem plötzlich niederfallenden Nebel. Als nach einer Weile der Nebelvorhang ebenso plötzlich zerreisst, liegt ganz nahe bei den Russenschiffen ein fremdes Fahrzeug, so schmuck und sauber, als hätte es eben erst den Heimathafen verlassen! An seinem Mast geht sogleich die Flagge hoch, der Union-Jack; Bellingshausen antwortet mit der russischen Flagge und schickt ein Boot hinüber, den Kapitän des amerikanischen Einmasters um einen Besuch an Bord des „Wostok“ zu bitten. Kapitän Palmer, so heisst der Fremde, folgt der Einladung, und Bellingshausen erfährt zu seiner nicht eben freudigen Überraschung: das hier sind wirklich die Süd-Shetland-Inseln, aber an jeder dieser Inseln wimmelt es schon von Fangschiffen, gleich im nächsten Hafen, an der Deceptionsinsel, liegen ihrer acht aus England und Amerika, ihre Beute ist ungeheuer, einige haben schon eine Ladung von 60 000 Fellen. Palmer selbst kommt soeben mit seiner Schaluppe „Hero“ von einer Erkundungsfahrt geradeaus nach Süden zurück, er hat da unten ein neues gebirgiges, ganz mit Eis und Schnee bedecktes Land gesehen, zweifellos ein Stück des antarktischen Kontinents; vom Ankerplatz an der Deceptionsinsel aus könne Bellingshausen die Berglinien dieses Festlands mit blossen Augen erkennen; diese Küste sei übrigens noch viel unwirtlicher als die Inseln hier herum, eine Landung an ihrer hohen Eismauer sei selbst im Sommer unmöglich; Seeleoparden gebe es dort in Menge, aber leider keine Pelzrobben. Bellingshausen ist, ohne von dieser schnellen Entwicklung innerhalb des letzten Jahres etwas ahnen zu können, mitten in die neuesten Jagdgründe der internationalen Robbenschlächter hineingeraten.

Sturm auf den Südpol. Abenteuer und Heldentum der Südpolfahrer

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