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Ein Segelrekord zu Goethes Zeit

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Als Marie Antoinette, die Königin von Frankreich, im Temple zu Paris ihrer Hinrichtung entgegenharrt, betäubt sie das Grauen vor der nahen Zukunft durch Lesen der Reisebeschreibungen des englischen Seefahrers James Cook. Seit den Tagen des Kolumbus hat kein Entdecker die Kenntnis des Weltinhalts so unerhört bereichert wie dieser grosse Meeresbezwinger; wo immer noch schwarze Finsternis über weiten Wassern brütete, er hat sie gelichtet, und eine Unzahl von Küsten und Inseln verdankt ihm ihr erstes Erscheinen auf den Erdkarten. Er hat der englischen Kolonialmacht unermessliche Ziele gesteckt; mit der von ihm angeregten Verbrecherkolonie in Botanybai beginnt die englische Besiedlung Australiens; er hat seinem Vaterland die Märchenwelt der Südsee geistig erobert, denn er begnügt sich nicht damit, die zum erstenmal gesehenen Länder zu umfahren und ihre Küsten mit grösster Genauigheit kartographisch aufzunehmen; er setzt den Fuss auf jedes unbekannte Ufer, dringt ins Innere ein, ist als Forscher ebenso genial wie als Kapitän und entwirft von all diesen neuen Weltteilen und ihren noch im Urzustand befindlichen Bewohnern nach gründlichem Studium ihrer Natur und Kultur farbenprächtige Bilder, die alle Leser in dem schon überkultivierten Europa in einen Rausch der Begeisterung versetzen, denn Rückkehr zur primitiven Natur des Urmenschen ist seit dem Wirken ihres Evangelisten Jean Jacques Rousseau die allgemeine, wenn auch nicht allzu ernst genommene Losung. Als Seefahrer ist Cook ein Bahnbrecher allergrössten Formats; mit seinen dürftigen Holzschiffen dreimal die Welt umsegelnd, hat er in zehn Jahren Strecken durchmessen, die sich nur in astronomischen Zahlen ausdrücken lassen; man berechnet sie auf mehr als den siebenfachen Umkreis der Erde, auf 280000 Kilometer — das sind drei Viertel der Entfernung des Mondes von unserm Erdball! Cooks Name ist den Zeitgenossen Goethes geläufiger als unserer Gegenwart die Namen Shackleton und Amundsen. Schiller rät 1798 dem Dichter von „Hermann und Dorothea“, den Weltentdecker Cook zum Stoff seines nächsten Epos zu wählen, nachdem schon ein anderer deutscher Schriftsteller, der sich den Rang eines Klassikers der Reiseschilderung erwirbt, dem Lebenswerk des grossen Engländers die verdiente Bewunderung in Deutschland gesichert hat, denn die kümmerliche Tagespresse von damals schafft noch keine Helden. An Cooks zweiter, epochemachender Weltumsegelung 1772—1775 nimmt der deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster teil; Cooks Begleiter auf der ersten Reise, der Londoner Millionär Sir Joseph Banks, vier Jahrzehnte Präsident der „Königlichen Societät“ für Wissenschaft, und der schwedische Naturforscher Daniel Solander, Bibliothekar am Britischen Museum, haben sich für eine Wiederholung dieses höchst unkomfortablen Abenteuers bedankt; Forster nimmt seinen achtzehnjährigen Sohn Georg mit, und dieser übernimmt die Aufgabe, die ursprünglich seinem Vater zugedacht war, aber dann von der englischen Regierung aus kleinlicher Eifersucht verwehrt wird: er beschreibt diese an Mannigfaltigkeit und Grösse der Erlebnisse einzigartige Entdeckungsreise nach eigenen Eindrücken, dem Tagebuch seines Vaters und den Aufzeichnungen Cooks selbst in einem Erstlingsbuch „Eine Reise um die Welt“, das ihn schnell zu einem der meistgelesenen Schriftsteller Deutschlands macht und keinem Geringeren als Alexander von Humboldt die Anregung zu seinen berühmten Forschungsreisen gibt. Dieses Werk Georg Forsters ist gleichsam das erste Kapitel der Memoiren des Südpols.

Cook ist weder Sir noch Lord noch Admiral; als ihn am 14. Februar 1779 Eingeborene der Insel Hawai hinterrücks erdolchen, zählt er einundfünfzig Jahre; er hat es nur zum Kapitän der englischen Flotte gebracht — sehr viel für einen armen Bauernjungen, der, mit dreizehn Jahren Knecht eines Kohlenschiffers, die dornenbesäete Laufbahn eines Seemanns von der untersten Stufe an emporklimmen muss. Seine Hände erzählen von dieser bittern Lehrzeit: mehrere Finger sind verstümmelt, und zeitlebens bleibt er bedürfnislos wie der niedrigste Matrose unter seinem Kommando: auf seinen Kapitänstisch kommt immer die Mannschaftskost. Unter leichtfertigen Jugendkameraden gilt er als Streber, er braucht jeden Pfennig zu seiner Fortbildung; Nautik, Mathematik und Astronomie sind seine alles übrige verdrängende Leidenschaft. Englands Krieg gegen die französischen Kolonien in Amerika eröffnet ihm den Eintritt in die englische Marine; er zeichnet sich aus. Nach achtzehn Jahren hat er die am schwersten zugängliche erste Plattform erstiegen, er ist Obersteuermann und Schiffsmeister. Seine Karten von den Küsten Kanadas und Neu-Fundlands erregen bei der Admiralität Aufsehen. Sie ernennt ihn 1768 zum Leutnant und zum Befehlshaber der „Endeavour“ (Bestrebung), eines ehemaligen Kohlenschiffs, das am 3. Juni 1769 von der Südseeinsel Tahiti aus den Vorübergang des Planeten Venus vor der Sonne zu beobachten hat, was für Berechnung der Sonnenentfernung, des astronomischen Grundmasses, von höchster Bedeutung ist. Auf dieser ersten Weltreise umfährt er Neuseeland, entdeckt die Ost- und Nordküste Australiens (die Umsegelung der Nordküste schon 1606 durch den Spanier Torres ist völlig unbekannt geblieben) und bewährt sich als ein so glänzender Schiffs- und Expeditionsführer, dass ihm, kaum heimgekehrt, eine zweite, grössere Aufgabe gestellt wird, die ihn selbst schon auf der ersten Reise lebhaft beschäftigt.

Als er auf dem Wege nach Tahiti die ungefährlichere Magellanstrasse rechts liegen lässt, um das seiner Stürme wegen berüchtigte Kap Hoorn zu erproben, macht er einen grossen Bogen bis zum 60. Breitengrad hinunter; aber von dem sagenhaften Südland, das immer noch in den Köpfen der Geographen und Seefahrer spukt und sich auf den Landkarten behauptet, zeigt sich nirgends eine Spur, ebenso wenig von drohenden Eismassen, denen andere Schiffe hier nur mit Mühe entgangen sein sollen; das Wetter ist im Gegenteil den ganzen März 1769 dortherum so still, dass die Naturforscher der Expedition im kleinen Boot Jagd auf Seevögel machen dürfen. Als Cook dann durch Umsegelung Neuseelands bewiesen hat, dass auch diese grosse Insel in keinerlei Zusammenhang mit einem Südkontinent steht, möchte er am liebsten stracks in den antarktischen Winter hineinfahren, um dieses Land zu suchen, muss sich aber von seinen Begleitern überzeugen lassen, dass ihr gebrechliches Schiff der zu befürchtenden Eisfahrt unmöglich gewachsen ist. Jetzt aber verlangt die englische Admiralität eine endgültige Antwort auf die Frage, was es mit dem Südland, nach dem die Franzosen neuerdings wieder so eifrig forschen, auf sich habe, und keiner wird diese Antwort besser geben können als Kommander (noch nicht Kapitän!) James Cook, der Todesverachtung und eiserne Ausdauer mit einer kaum je dagewesenen Umsicht, Geschicklichkeit und Sicherheit in Handhabung aller nautischen Instrumente verbindet. Am 13. Juli 1772 verlässt er mit zwei ungepanzerten Holzschiffen „Resolution“ (Entschlossenheit) und „Adventure“ (Wagestück), das erste 462 Tonnen mit 112, das zweite 336 Tonnen mit 81 Mann Besatzung, den Hafen von Plymouth und segelt am 22. November von Kapstadt aus nach Süden. Sein Auftrag ist, zunächst das von dem Franzosen Bouvet gesichtete Land aufs genaueste zu erforschen und, wenn es nicht auffindbar oder nur eine Insel ist, weiter nach Süden vordringend auf dem höchstmöglichen Breitengrad den Pol zu umsegeln, im übrigen ganz nach eigenem Ermessen zu handeln.

Sturm auf den Südpol. Abenteuer und Heldentum der Südpolfahrer

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