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Schulzeit im Egerland

Die Schule bereitete mir keine Schwierigkeiten. In der Volksschule erhielt ich fast nur gute und sehr gute Noten und unser schon etwas betagter Oberlehrer Josef Fischer, der in seinen jungen Jahren auch meinen Vater unterrichtet hatte, erwartete von meiner Mutter, dass sie mich nach dem Abschluss der vierten Klasse im Gymnasium in Karlsbad anmeldete. Als er ihr seinen Vorschlag unterbreitete, wollte Mutter zunächst nicht, dass ich das Gymnasium besuche. Sie war von ihren Eltern zu Bescheidenheit, Demut und Untertänigkeit erzogen worden und offenbar der Ansicht, es gezieme sich nicht, dass ein Arbeiterkind eine höhere Schulbildung besitzen müsse, obwohl sie sich andererseits stets über meine guten Noten gefreut hatte. Vielleicht wollte sie mich aber auch wegen der häufigen, in den Nachrichten gemeldeten Bombenangriffe einfach nur in ihrer Nähe haben. Schließlich setzte sich mein Oberlehrer durch und ich bestand eine entsprechende Aufnahmeprüfung an der Oberschule für Jungen in Karlsbad, die ich ab 1. September 1944 besuchte.


Klassenfoto 1942 in Rodisfort, Heinz Schneider in zweiter Reihe rechts, unterhalb der Klassenlehrerin, Frau Grund

Leider wurde der Unterricht durch den ersten schweren Bombenangriff, der am 12. September 1944 Karlsbad schwer erschüttert hatte, für einige Zeit unterbrochen. Etwa zwanzig Meter neben unserem Schulgebäude, das mit einem roten Kreuz auf dem Dach versehenen worden war, weil die oberen Räume zeitweilig auch als Lazarett genutzt wurden, war eine britische, 750 kg schwere Sprengbombe eingeschlagen. Die Sprengbombe hatte einen großen Trichter in die Tepel und die parallel zu ihr verlaufende Straße gerissen und nicht nur alle Fenster unseres sehr schönen Schulgebäudes zerstört, sondern auch die Uhr zum Stehen gebracht. Das Sprudelsalzwerk, das „Haus Egerland“, Teile der Markthalle und des Hauptbahnhofs, die Hauptpost, die zweite Volksschule und die Sparkasse in Fischern waren ebenfalls getroffen worden.

In Karlsbad gab es mehr als fünfzig Tote und viele Verletzte. Uns Schülern war aber bis auf den großen Schreck und einigen Kratzern im Gesicht nichts Ernsthaftes passiert. So konnten wir den Luftschutzraum am frühen Nachmittag verlassen, obwohl es an diesem Tag keine „Entwarnung“ gab, denn offenbar war das System der Luftschutzsirenen nicht mehr intakt. Da der Bus nach Rodisfort neben der Markthalle einen Volltreffer erhalten hatte, sodass von ihm und seinem Fahrer buchstäblich nichts mehr übrig war, musste ich die sechzehn Kilometer auf der Straße an der Eger nach Rodisfort zu Fuß zurücklegen. Erst am Abend kam ich zu Hause an und wurde von meiner besorgten und dann überglücklichen Mutter in die Arme genommen. Nie wieder betrat ich in der Folgezeit einen Luftschutzkeller, in dem man praktisch eingesperrt war und bei einem Angriff keine Möglichkeiten besaß, dem Geschehen irgendwie auszuweichen und zu entkommen. Schon beim Voralarm flüchtete ich in ein nicht weit entferntes Waldgebiet in Drahowitz und verließ dasselbe erst nach einem langen Sirenendauerton, der die Entwarnung verkündete.

Der Unterricht machte Spaß, wurde aber durch häufigen Fliegeralarm meist schon in den späten Vormittagsstunden vorzeitig beendet. Wir lernten Englisch, wovon ich in meinem späteren Leben große Vorteile hatte, und im Biologieunterricht die sogenannte Rassenkunde der Nazis. Danach gab es vier deutsche Rassen mit unterschiedlicher Wertigkeit. Besonders „wertvoll“ waren Menschen mit blauen Augen, blonden Haaren und einem länglichen Gesichtsschädel. Von Juden erfuhren wir nichts. Russen und Polen galten generell als „Untermenschen“. Unser Deutschlehrer, der einen Doktortitel besaß, erklärte uns den Demokratiebegriff, wobei er durchaus moderne Ansichten vertrat und kein Blatt vor den Mund nahm. Erstaunlicherweise nahm niemand Anstoß daran. In der Beurteilung wurde ich, wie erwähnt, als „noch etwas scheu, kritisch“ bezeichnet. Ich bin der Ansicht, dass diese Einschätzung auf mich zutrifft, auch heute noch. Besonders meine Eigenschaft, Kritik zu üben, machte mir in der zweiten deutschen Diktatur mitunter arg zu schaffen. Gott sei Dank war ich „noch etwas scheu“. Diese Zurückhaltung war in der DDR im Gegensatz zu einer freien Gesellschaft eher ein Vorteil als ein Hindernis, denn dadurch hielt sich eine auch öffentlich geäußerte Kritik meist in den erlaubten Grenzen.

Vom Vater erhielten wir zahlreiche Feldpostbriefe. Er hatte die Feldpostnummer 30826 und kam nach dem Überfall auf die Sowjetunion noch im Jahre 1941 als Angehöriger eines Pionierersatzbataillons der 6. Armee an die Ostfront. 1941 wurde er zum Gefreiten und ein Jahr später zum Obergefreiten befördert. Auf dem Vormarsch nach Stalingrad wurde er 1942 bei Kalatsch verwundet und berichtete darüber im anschließenden Genesungsurlaub schier Unglaubliches.

Er war durch einen Schuss aus dem Lauf eines deutschen Feldwebels aus Zwickau rücklings niedergestreckt worden. Dieser hatte eine Gasmaske vor den Schützengraben geworfen und Vater befohlen, dieselbe zurückzuholen. Indem er diesen Befehl ausführte und den Schützengraben verließ, erhielt er, sich vorwärts bewegend, einen glatten Lungendurchschuss von hinten, rechts, direkt neben dem Herzen. Als Beweis brachte er seine perforierte Erkennungsmarke mit, deren Schussöffnung eindeutig nach vorne verbogen war. Dem war offenbar ein politischer Streit vorausgegangen. Vater hatte sich für sowjetische Zivildienstbeschäftigte eingesetzt, die unter fast sklavenhaften Bedingungen ihre Tätigkeit in der Regimentsküche verrichten mussten. Er setzte sich wohl lautstark für eine menschliche Behandlung dieser entsetzlich unterernährten Beschäftigten ein. Dabei wurde ihm vermutlich eine Sympathie für die Kommunisten unterstellt, sicher nicht ganz zu Unrecht.

Vater war damals achtunddreißig Jahre alt, ziemlich gesund und überlebte trotz großen Blutverlusts die Verletzung. Während seine Truppe nur kurze Zeit später in ihr Verderben nach Stalingrad weiterzog, wurde er Stunden später von Sanitätern gerettet und gelangte nach kurzem Aufenthalt in frontnahen Lazaretten in ein Lazarett in Sagan in Niederschlesien und später in Wien. Von dort kam er zum Genesungsurlaub nach Hause. Als er wieder an die Ostfront zurückmusste, war seine Truppe im Stalingrader Kessel bereits eingeschlossen worden. Kein Bekannter kehrte je zurück. Auch der Feldwebel aus Zwickau war verschollen und war selbst nach Kriegsende nicht wiederzufinden. Vater erhielt das Verwundetenabzeichen in Bronze und die Ostmedaille, seine einzigen Auszeichnungen im Krieg. Und wir freuten uns, dass er nicht wie seine Kameraden in Stalingrad eingeschlossen worden war.

Mein Bruder Rudi hatte inzwischen die Wirtschaftsschule in Karlsbad erfolgreich absolviert. Im Rahmen des sogenannten „Reichsarbeitsdienstes“ gelangte er nach Südost-Österreich, erfror sich in Kärnten die Füße und kam nach seiner Rückkehr – offenbar im Rahmen einer vormilitärischen Ausbildung – auf die dänische Insel Bornholm. In der Hitlerjugend (HJ) war er zuletzt zum Jungzugführer aufgestiegen. Irgendwelche Nazigrößen legten ihm 1945 nahe, doch freiwillig zur Waffen-SS zu gehen. Das wurde ihm vom Vater, der sich wegen einer Furunkulose erneut zu einem Genesungsurlaub zu Hause befand und regelmäßig zur militärärztlichen Behandlung nach Karlsbad fahren musste, strikt untersagt. Nachdem Vater Ende März 1945 wieder als kriegsverwendungsfähig befunden wurde und meine praktisch veranlagte Mutter in Erwartung des baldigen Kriegsendes den Heilungsprozess verzögern wollte, indem sie Zwiebelstücke und Salz in die Inzisionswunden eingebracht hatte, bewirkte diese Prozedur eher das Gegenteil, denn die Verletzung heilte schneller als erwartet und Vater wurde an die Westfront verlegt. Rudi meldete sich als Kriegsfreiwilliger zur Marine und wurde – noch nicht siebzehnjährig – am 16. April 1945 vom Wehrkreiskommando Karlsbad eingezogen. Mit der Deutschen Reichsbahn gelangte er über das zerstörte Dresden und die Hauptstadt Berlin bis nach Greifswald-Ladebow, seinem Einsatzort, wo sich für uns in der Heimat zunächst seine Spur verlor. Auch von Vater hatten wir nach dem Ende des Genesungsurlaubs nichts mehr gehört.

An der grauen Mauer, die das Gartengrundstück von der vorbeiführenden Straße trennte, konnte man einige Tage vor Kriegsende zwei Durchhalteparolen in großer, weißer Schrift lesen, die lauteten: „Räder müssen rollen für den Sieg“ und „Sieg oder Sibirien“.

Dass wir Deutschen den Krieg verlieren könnten, glaubte ich nicht, denn unsere Techniker hatten ja wahre Wunderwaffen, wie die V-1, V-2, Panzerfaust, den ersten Düsenjäger und den Einmann-Torpedo, entwickelt und die in der Kriegswirtschaft Beschäftigten hatten sie der Wehrmacht auch zur Verfügung gestellt. So glaubte ich als damals Elfjähriger bis zuletzt an ein Wunder auf dem Kriegsschauplatz. Nur so ist meine völlig schizophrene Antwort auf die freudige Mitteilung meiner Mutter vom Kriegsende am 8. Mai zu erklären: „Na und – haben wir ihn (den Krieg) gewonnen?“ Dennoch kann ich mich an eine zielgerichtete nationalsozialistische Erziehung in der Schule, bis auf den Biologieunterricht, wirklich nicht erinnern. Und der aus Köln stammende Dechant Beys, unser Dorfpfarrer, war keinesfalls ein Hitler-Befürworter. Auch das Deutsche Jungvolk (DJ) bestimmte unseren Alltag nicht.

Das Gebiet um Karlsbad war bis zum Kriegsende nicht von fremden Truppen besetzt worden, es herrschte „Ordnung“. Die Ansprüche auf Lebensmittel, die man laut Lebensmittelkarten beziehen konnte, wurden vollständig abgedeckt. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verkaufte sogar in großen Mengen billig Wein, blaugrauen Militärstoff der Luftwaffe und neue Filzstiefel. Mein Onkel (Himmel) Pepp, der in Rodisfort Vorsitzender der NSDAP gewesen war, kümmerte sich in seiner braunen Uniform um die zahlreichen Flüchtlinge, die mit ihren Trecks aus Niederschlesien bis zu uns gelangt waren und stets in westliche Richtung weiterzogen. Auch in der Wehrmacht, die bei uns zuletzt vom legendären Generalfeldmarschall Schörner geführt worden war, schienen aus meiner Perspektive Ordnung und Disziplin zu herrschen. So erlebte ich das unmittelbare Kriegsende zunächst nicht als die „Befreiung“ von etwas Schrecklichem durch die gegnerischen Soldaten. Erst später erkannte ich das große Unrecht, das die Nationalsozialisten der Welt, aber auch unserem Volk angetan hatten.

Die Normalität des Absurden

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