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Unsere „Aussiedlung“

Im August oder September 1945 hatten sudetendeutsche Antifaschisten bei den tschechischen Behörden und dem aus Roßbach im Sudetenland stammenden und aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrten Freund meines Vaters Rudolf Dölling (* 1902, † 1975) erwirkt, dass sudetendeutsche Kommunisten keine weiße Armbinde mehr zu tragen brauchten, bessere Lebensmittelkarten (sogenannte Tschechkarten) erhielten und auch ihre Kinder in eine tschechische Schule schicken durften. Gleiche Bedingungen erreichten auch die Sozialdemokraten.

Statt der Armbinde trug ich jetzt am linken Revers meiner Jacke ein rotes Nummernschild mit einer vierstelligen Zahl in Weiß. In Ermangelung tschechischer Sprachkenntnisse hatten wir jedoch zu den neuen Machthabern keinerlei Kontakt. Aus dem ehemaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“, wie die restliche Tschechei nach dem 15.3.1939 offiziell geheißen hatte, waren gleich nach Kriegsende zwei nach dort geflüchtete Geschwister meines Vaters mit ihren Angehörigen nach Rodisfort zurückgekehrt, darunter mein Onkel Wenzel Schneider, der früher einmal Ortsvorsteher in Rodisfort gewesen war, und Tante Milly, die vor dem Krieg den Onkel Franz Lebr, einen tschechischen Gerichts- oder Justizangestellten aus Karlsbad, geheiratet hatte. 1938 hatten ihn die Nationalsozialisten einige Monate in Zwickau inhaftiert, ohne dass ich bis heute die wahren Gründe kenne. Da wir jetzt im gleichen Haus wohnten, hatten wir nach dem Krieg sicher einen gewissen Schutz vor etwaigen tschechischen Zugriffen. Sie kümmerten sich in aufopferungsvoller Weise um meine hochbetagten Großeltern und konnten immerhin verhindern, dass sie im hohen Alter unsere schöne Heimat noch verlassen mussten und aus Rodisfort vertrieben wurden.

Mutter fand Arbeit in der ehemaligen Zwirnfabrik Willy Melzer in Wickwitz, die jetzt dem tschechischen Staat gehörte. Da wir unser Fahrrad gleich nach Kriegsende abgeben mussten, legte sie täglich den weiten Weg zu Fuß zurück. Das von ihr verdiente Geld reichte zum Lebensunterhalt gerade aus, sodass wir eine eigentliche Not in dieser Zeit nicht erlebten.

Ich besuchte die sechste Klasse der tschechischen Schule, die nur einen einzigen Lehrer, Pan Koloros, hatte, der sich als ein wahrhaft guter Mensch erwies und redlich bemühte, uns wenigen deutschen Schülern die tschechische Sprache beizubringen, ohne dass er auch nur ein einziges deutsches Wort mit uns sprach oder sprechen durfte. Die Vermittlung der uns völlig fremden Sprache war ihm relativ gut gelungen. Er lehrte uns mindestens zwei Dutzend melodisch schön klingende tschechische Volkslieder, von denen ich einige noch heute in der Originalsprache beherrsche, ohne sie allerdings zu verstehen. Im Sommer 1946 beherrschten wir den Stoff der sechsten Klasse. Ein Zeugnis erhielten wir jedoch nicht. Zu den tschechischen Mitschülern, die in immer größerer Zahl in die ehemalige Rodisforter Dorfschule aufgenommen wurden, hatten wir hingegen keinerlei persönlichen Kontakt.

Irgendwann – vermutlich im Sommer 1945 – musste die gesamte gehfähige deutsche Bevölkerung in Karlsbad eine Ausstellung besuchen, in der uns anhand schrecklicher Bilder aus den Konzentrationslagern die Gräuel der Nationalsozialisten demonstriert wurden. Wer nicht in diese Ausstellung ging, sollte künftig keine Lebensmittelkarten erhalten. Da wir den Weg zu Fuß bewältigen mussten, denn Deutsche durften zu dieser Zeit einen Bus nicht benutzen, erschienen mir der Hin- und Rückweg von ca. 24 Kilometern über Haid und Dallwitz ziemlich lang.

Im September 1946 erfolgte unsere Aussiedlung, wobei wir als Antifaschisten sogar unsere Möbel mitnehmen durften und zu unserer großen Überraschung den künftigen Wohnsitz zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone selbst wählen konnten. Da der Vater ein überzeugter Kommunist war, bevorzugten wir selbstverständlich die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, was aber zur langfristigen Trennung von unseren in Bayern lebenden Verwandten führte und aus heutiger Sicht sicher eine falsche Entscheidung gewesen war, denn die meisten Verwandten haben wir nie mehr gesehen. So landeten wir nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe des Ludwigsluster Bahnhofs schließlich in Dömitz an der Elbe, einer bis auf die beiden Elbbrücken unzerstörten Mecklenburger Kleinstadt. Trotz der den Mecklenburgern allgemein sicher zu Unrecht zugesprochenen Sturheit wurden wir freundlich und ohne Vorurteile aufgenommen und schlugen als Kinder schnell Wurzeln.

In der Festung Dömitz wurde uns in dem Haus, in dem 107 Jahre zuvor der berühmte niederdeutsche Dichter Fritz Reuter (*1810, † 1874) wegen angeblicher Majestätsbeleidigung zunächst zum Tode verurteilt worden war und nach Begnadigung mehrere Jahre Festungshaft verbüßte, ein Zimmer von circa zwölf Quadratmetern mit Ofen zugewiesen, das für die Mutter und uns zwei Kinder mit unseren damals geringen Bedürfnissen zunächst ausreichte. Der größte Teil der Festungsbewohner, darunter drei mit uns eingezogene Familien Eisenkolb, Grund und Kraus/Donner aus Rodisfort, stammte ebenfalls aus dem Sudetenland, und wir fühlten uns in der neuen Umgebung bald wie zu Hause. Ganz allmählich lernten wir Kinder auch etwas Plattdeutsch, denn es gab auch einige echte betagte Mecklenburger, die Hochdeutsch nur unvollkommen verstanden. Und unseren schönen egerländischen Dialekt haben wir Kinder ganz allmählich vergessen, obwohl die Eltern mit uns nicht „nach der Schrift“ sprachen. Schade!

Und dann geschah ein wahres Wunder: Der Erste, der am nächsten Morgen an unsere Wohnungstür klopfte, war unser Rudi. Er war inzwischen ca. fünf Zentimeter größer geworden und als ein stattlicher Mann von 18 Jahren aus einer englischen Dienstgruppeneinheit in Pinneberg in britischer Uniform zu unseren nach Oberbayern ausgesiedelten Verwandten geflohen. Dort hatte er bei einem Großbauern gearbeitet, unsere neue Adresse erfahren und war dann über die grüne Grenze nach Dömitz gelangt, wo er von einigen Russen sogar in militärischer Weise begrüßt worden war. Sie hatten ihn in seiner Uniform für einen Verbündeten gehalten. Wir waren überglücklich.

Leider fehlte noch unser Vater. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes hatten wir jedoch erfahren, dass er lebte und sich in französischer Kriegsgefangenschaft im Südwesten Frankreichs in Lot-et-Garonne befand. Die Franzosen und die Briten behandelten ihre deutschen Kriegsgefangenen offenbar im Allgemeinen besser als die anderen Alliierten, so war zu hören. Somit hofften wir, dass wir bald wieder alle vereint sein würden. Doch bis dahin vergingen besonders für meine Mutter noch sehr lange achtzehn Monate, während meine Schwester Gerti (sieben Jahre) ihren Vater nicht mehr kannte und ihn daher auch nicht vermisste. Mir fehlte er schon, denn ich hatte ihn und seine interessanten Geschichten, wie den „Schinderhannes“, in allerbester Erinnerung. Als ein echtes Rodisforter Urgestein konnte er sehr gut mit jungen Menschen umgehen und war auch in seinem späteren Leben stets von Kindern umgeben. Einige meiner späteren Mitschüler mochten ihn sehr, schätzten seine Gegenwart und seine unterhaltsamen Gespräche.

Rudi fand eine Arbeit als Zivilangestellter bei den sowjetischen Truppen in Dömitz und sorgte mit seinen neuen Mecklenburger Freunden dafür, dass wir genügend zu essen hatten. Zeitweise schmuggelte er Alkolat, ein stark alkoholhaltiges Getränk, auf den Schwarzmarkt nach Hamburg und brachte uns von dort gelbes Maisbrot mit, welches krümelig war und leicht zerfiel, aber sehr gut schmeckte. 1947 oder 1948 wurde in Dömitz jedoch der Torwart Klatt als erster illegaler Grenzgänger von den Russen auf der Elbe erschossen, sodass der Schmuggel am Grenzfluss zur englischen Zone sehr gefährlich wurde und allmählich unterblieb.

Die Normalität des Absurden

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