Читать книгу Die Normalität des Absurden - Heinz Schneider - Страница 18
ОглавлениеDie Familie 1945-1949
Im April 1945 kam Vater nach einem erneuten Genesungsurlaub nach abgeklungener Furunkulose am Rücken an die Westfront und wurde in Weiden von den Amerikanern gefangen genommen. In der Nähe von Bad Kreuznach wurde er auf den Rheinwiesen interniert, einem damals berüchtigten Kriegsgefangenenlager, erhielt von den US-Truppen fast nichts zu essen und wog schließlich nur noch 42 kg. Sein übliches Gewicht hatte 75 kg betragen. Viele seiner Kameraden waren an Typhus, Ruhr und extremer Unterernährung erkrankt und starben. Zum Glück wurde er bald von den Franzosen übernommen, kam zu einem südfranzösischen Weinbauern und erholte sich prächtig. Offenbar war er dort sehr beliebt, denn im Jahre 1948, kurz nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, bekamen wir Formulare für eine Einreise und Umsiedlung nach Frankreich übersandt. Sein Patron schätzte ihn sehr und wollte unsere ganze Familie nach Frankreich holen, sodass wir dem Hunger in der Sowjetischen Besatzungszone hätten entkommen können. Wir wollten aber nicht in ein fremdes Land, denn die erst kurz zurückliegende Fremdherrschaft in der Nachkriegs-Tschechoslowakei hatten wir nicht in allerbester Erinnerung behalten und uns in Dömitz schon ganz gut eingelebt.
Mutter war im Krieg fast regelmäßig in die Rodisforter Kirche gegangen und hatte ihren auch in Dömitz fortgesetzten Kirchgang erst beendet, als Vater im April 1948 aus Frankreich nach Dömitz entlassen worden war. Dort trat er sofort der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei, der die Mutter bereits seit Ende 1946 angehört hatte, und glaubte an eine sehr gute Zukunft aller arbeitenden Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone, aus der am 7. Oktober 1949 nach vorheriger Gründung der Bundesrepublik der zweite deutsche Nachkriegsstaat, die DDR, entstand, in der es künftig keinerlei Ausbeutung durch Kapitalisten und Großgrundbesitzer mehr geben sollte. Er hoffte, dass dieser neue Staat als sinnvolle deutsche Nachkriegsalternative eine positive Ausstrahlung auch auf die Werktätigen in der Bundesrepublik haben würde und sich die dortigen Arbeiter aufgrund der Vorbildwirkung der neuen Republik eines Tages ebenfalls für einen ähnlichen Weg frei entscheiden würden, sodass in Zukunft ein neues, blühendes und besseres Gesamtdeutschland entstehen könnte.
Es herrschte nach dem verlorenen Krieg auch im Osten eine allgemeine Aufbruchstimmung. Schließlich glaubten wir wie viele andere auch an eine, wenn auch zunächst imaginäre, bessere Zukunft, für die es sich zu lernen und arbeiten lohnte. Vater vermutete, dass er viele seiner Ideale in dem neuen Staat verwirklichen könnte. Er freute sich darüber, dass mein Bruder Rudi an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Rostock, die damals noch „Vorstudienanstalt“ hieß, das Abitur erwarb und sich auf ein Studium an einer Hochschule oder Universität vorbereiten konnte, ein unentgeltliches, nicht rückzahlungspflichtiges monatliches Stipendium erhielt und gute Leistungen erzielte. Auch ich konnte in Dömitz ab 1949 die örtliche Oberschule besuchen und bekam als Arbeiterkind sogar eine finanzielle monatliche Beihilfe in Höhe von 35 bis 45 Mark, die ich durch Einnahmen beim wöchentlich zweimaligen Aufstellen von Kegeln der Kegelbahn des Köhn´schen Gesellschaftshauses regelmäßig aufstockte und selbstverständlich in voller Höhe zu Hause abgab. Meine Schwester Gerti musste sich an Vater, an den sie sich überhaupt nicht erinnern konnte, erst wieder gewöhnen. Auch sie wies in der Grundschule gute Leistungen auf, durfte aber nach Vaters Rückkehr am katholischen Religionsunterricht nicht mehr teilnehmen. Religion war für ihn, wie es vermutlich Karl Marx einst formuliert hatte, nichts anderes als „Opium für das Volk“. An ein Weiterleben nach dem Tode glaubte er nicht. Wenn es einen echten, guten Gott gäbe, wie hätte er dann die Schrecken und unsagbaren Verbrechen des letzten Krieges zulassen können?
Ich las in der Oberschule ein Buch des sowjetischen Wissenschaftlers A. I. Oparin über „Die Entstehung des Lebens auf der Erde“ und hatte zu dieser Zeit ernsthafte Zweifel an der Schöpfungsgeschichte des Menschen aus dem 1. Buch Mose des Alten Testaments. Dennoch konnte ich mich trotz einiger Bedenken niemals entschließen, aus der katholischen Kirche auszutreten. Vater war mir gegenüber tolerant und verlangte auch niemals einen entsprechenden Schritt.
Bald erkannte er, dass es auch in dem neuen Staat Ungerechtigkeiten gab und sich nicht alles so entwickelte, wie er es ursprünglich gerne gewollt hatte. Doch im Vergleich mit der BRD schnitt die DDR nach seiner Ansicht deutlich besser ab, wenn wir auch im Osten durch hohe Reparationsleistungen an die Sowjetunion gegenüber dem Westen Deutschlands ökonomisch arg benachteiligt waren, sodass viele Menschen den neuen Staat bald in Richtung Westen verließen. Er sah ein, dass wir als ein deutscher Teilstaat zu einer Wiedergutmachung besonders gegen Polen und die Sowjetunion verpflichtet waren, hatte er doch die schweren Schäden, welche die Wehrmacht besonders der polnischen und russischen Bevölkerung zugefügt hatte, im Krieg selbst erlebt.
Mir missfiel sehr, dass aus Dömitz und Umgebung zahlreiche völlig unbescholtene Familien im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“1 aus dem Sperrgebiet der Zonengrenze nach Zentralmecklenburg ausgewiesen wurden, wie die Familie meines Freundes Peter Nimptsch. Ich meinte, dass man so nicht mit der eigenen Bevölkerung umspringen kann, und entwickelte meine ersten Bedenken, die sich später bis zu einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber den neuen SED-Machthabern steigerten, die jegliche Kritik brutal unterdrückten und stets nach dem Prinzip handelten: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Damit waren auch für mich bestimmte Schwierigkeiten in meinem künftigen Leben vorauszusehen.
1 Die Aktion „Ungeziefer“ war die erste Zwangsaussiedlung von Personen, die im fünf Kilometer breiten Sperrgebiet an der Westgrenze der DDR lebten. Aus Dömitz wurden Anfang Juni 1952 offenbar 37 „unsichere Elemente“ in den Kreis Güstrow deportiert. In der gesamten DDR wurden lt. Bennewitz und Potratz (Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze) 8.369 Personen gegen ihren Willen in das Innere der Republik umgesiedelt.