Читать книгу Die Normalität des Absurden - Heinz Schneider - Страница 20
ОглавлениеVerlobungsanzug zur Jugendweihe
Die Motive meiner Teilnahme an der Jugendweihe waren weder edel noch hehr – Grund war der Wunsch nach einem Anzug für meinen Bruder, der sich verloben wollte. Außer zwei englischen Uniformen aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft besaß er keinerlei dafür brauchbare Oberbekleidung.
Zur Konfirmation erhielt damals jeder Teilnehmer in Dömitz einen Bezugsschein für einen Anzug. Für mich als katholisches Flüchtlingskind kam so eine Unterstützung nicht infrage, da für das gleiche Alter eine analoge katholische Feier nicht anstand und meine Mutter trotz intensiver Bemühungen keinen entsprechenden Bezugsschein für mich erhalten konnte.
Folglich beschloss der Familienrat, dass ich mich an der im März stattfindenden Jugendweihe mit kurzer Hose zu beteiligen hätte, damit die Stadtoberen an meiner frostigen Reaktion erkennen sollten, dass ich ebenfalls dringend einen Anzug benötigte. Die Rechnung ging auf, denn meine Mutter erhielt nach meiner Teilnahme prompt die Berechtigung für den Bezug eines Anzuges. Mein Bruder konnte sich einen neuen Zellwollanzug kaufen und ich hatte meine Schuldigkeit getan. Als Gegenleistung erhielt ich seine beiden warmen britischen Militäruniformen aus reiner englischer Wolle, die mir bis in die neunte Klasse wertvolle Dienste leisteten. Damit hatte sich die Jugendweihe für unsere Familie als wertvolle Bereicherung erwiesen.
Wie verlief die Jugendweihe 1948? Wir waren fünf männliche Teilnehmer unter vermutlich 130 Gleichaltrigen aus Dömitz und der näheren Umgebung. Eine Vorbereitung auf diese Feierstunde gab es nicht. Die anderen Beteiligten aus den nahe gelegenen Dörfern waren mir unbekannt. In der Schule wurde über das Ereignis nicht gesprochen. Es gab einen kleinen Dömitzer Chor und einen Festredner, der eine gute und völlig unpolitische atheistische Rede hielt, in der die künftige und offenbar bald erwartete Einheit Deutschlands viel Raum erhielt, das Wort „Sozialismus“ aber nicht vorkam. Die Organisation lag in den Händen der Ortsgruppe der Dömitzer SED, die vom Genossen Konrad Meier geleitet wurde. Jeder Teilnehmer erhielt ein Buch und einen Spruch, der für das künftige Leben von Bedeutung sein sollte. Mein Buchtitel lautete: „1933-1945. Wie konnte es geschehen?“ Auf dem Titelbild befand sich eine mitteleuropäische Landkarte mit Deutschland im Zentrum. Markierungen zeigten es in den Grenzen von 1937.
Der Autor war Max Fechner (1897-1973), ein bekannter sozialdemokratischer Politiker, der als späterer SED-Funktionär von Oktober 1949 bis Juli 1953 der erste Justizminister der DDR war. Er verteidigte nach dem 17. Juni 1953 im „Neuen Deutschland“ das Streikrecht der Arbeiter und wurde als „Feind des Staates und der Partei“ verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Drei Jahre später wurde er rehabilitiert, bekam aber keine vergleichbare Funktion mehr.
Mein Spruch lautete: „Die Zeit braucht Deine Hände, halte Dich nicht fern.“ Dabei handelte es sich um ein Zitat des Berliner Arbeiterdichters Walter Dehmel (1903-1960). Nach der Feier, die ca. 90 Minuten dauerte, war die Festlichkeit zu Ende.