Читать книгу Ave Covid morituri te salutant - Heipe Weiss - Страница 10
ОглавлениеAve Covid, morituri te salutant (6)
Trotz genereller Ausgangsperre haben wir das Osterwochenende in unserer Datscha im Saarland verbracht, in dem kleinen Reihenhaus mit großem, dahinterliegendem Garten, dem zweistöckigen Acht-Zimmer-Häuschen, das als überkommenes Erbe vom einst beachtlich großen Bauernhof des Großvaters übrig geblieben ist. Trotz der angekündigten Polizeikontrollen zur Verhinderung von Wochenendurlauben haben wir die Reise aus der Metropole Frankfurt am Main ins heimelige Nordsaarland gewagt, ausgerüstet für die Rückkehr mit Passierscheinen des Arbeitgebers einerseits und des Dialysezentrums andererseits, darauf vertrauend, zur (wöchentlich) geplanten Heimreise vom Arbeits- respektive Pflegeort im Rhein-Main-Gebiet zu unserem ersten Wohnsitz im Vorland des Hunsrücks berechtigt zu sein.
Dort bei Kaiserwetter im sonnendurchfluteten Garten hinterm Haus auf der Hollywood-Schaukel zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren lässt einen in Gedanken zu Tolstois Krieg und Frieden schweifen, in dem die Familien – ähnlich wie wir aus der coronabedrohten Großstadt – mit Kutschen, Kind und Kegel aus dem brennenden Moskau fliehen und auf die Landgüter ihrer Verwandten in den Weiten des ländlichen Russland ausweichen, um dort das friedliche Leben zu genießen und beschauliche Tage zu verbringen, weit ab von der Weltgeschichte und den mit ihr verbundenen schrecklichen Geschehnissen. Zwar fällt für uns die Möglichkeit, in den angrenzenden Wäldern mit Halali hallo auf die Jagd zu gehen, verständlicherweise flach, doch genießen wir die ungewöhnliche Ruhe und den Frieden hier auf dem Land. Selbst vor dem Haus auf der Durchgangsstraße fehlt der sonst übliche Wochenendausflugsverkehrslärm, nicht einmal das von Frühlings- und Sommersonnenwochenenden gewohnte Röhren der Pulks schwerer mehrzylindrischer Motorräder ist zu hören, die gleichsam als „knatterndes Dutzend“ viertelstündlich von Ausflugsziel zu Kurvenstrecke und weiter zum nächsten Ausflugsziel rasen.
Die zahlreichen Polizeikontrollen waren vor allem rund um die wenigen Naherholungsgebiete im Saarland angekündigt, das sich im Rundfunk selbst emphatisch als „das schönste Bundesland der Welt“ tituliert, wie an den beiden Badeseen im Vorderhunsrück, dem Stausee der Bos im Bostal und der durch den Dammbau für die Umgehungsstraße aufgestauten, unter Wasser gesetzten Wiese im Nachbarort, der sich seitdem stolz Losheim am See nennt. Die Parkplätze dort sind sicherheitshalber gesperrt, das Brauhausrestaurant am Ufer der etwas größeren, hüfthohen Regenpfütze, die See genannt wird, ist ohnehin geschlossen. Wir selbst haben weder bei der Hin- noch bei der Rückfahrt irgendwelche Verkehrskontrollen passiert, und am oklahomablauen Frühlingshimmel sind keine Hubschrauber (wie dem Hörensagen nach in Heidelberg, du feine, oder Frankfurt am Main auf der Jagd nach Versammlungsverbotsmissachtern, ja, Kontaktsucher-Tätern) zu sehen, geschweige denn zu hören. Nur die vielen Singvögel zwitschern lauter und vielstimmiger als sonst. Wenn man darauf verzichtet, den Fernseher einzuschalten, und auch den Blick auf die „News“-Spalten des Smartphones verschmäht, verschwinden Hysterie und Aufgeregtheit der Epidemien- und Ausgangssperrenwelt weit, weit, weit hinterm Horizont.
Nur die am Gartenrand zum Nachbargespräch sich einfindenden Familienmitglieder aus den beiden angrenzenden Häusern des Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Drei-Bauernhof-Ensembles wissen zu berichten, erst gestern habe man im Ort eine Gruppe von acht oder neun unverbesserlichen Zusammenstehenden „ufflöse“ müssen. Aber sonst hielten sich alle im Dorf an die Versammlungsverbote. Selbst im Supermarkt in der Nachbargemeinde sei gut einkaufen, jedenfalls an Werktagen, die Woche über, gähnende Leere in den sonst überfüllten Verkaufsräumen, nur die Kleider- und Sonstiges-Regalreihen seien mit Absperrbändern als unzugänglich gekennzeichnet. Lebensmittel hingegen gebe es in Hülle und Fülle, auch Klopapier oder Küchenrollen – kein Problem, alles da.
Dass man sich vorsehen müsse – wir halten fast fünf Meter Abstand, vom Gartenweg über die Beete hinweg zur Nachbargartengrenze –, sei schon wichtig. Alle drei Häuser haben Fälle von Hochgefährdeten im Haus, wegen Multimorbidität; wegen Dialysepflicht hier, generell jedoch wegen der über Siebzigjährigen in allen drei Häusern. Der unmittelbare Nachbar, der kurz nach seinem ersten Schlaganfall das Glück hatte, seine Krankenpflegerin heiraten zu dürfen, ist laut ihrer Aussage froh, wieder zurück zu sein aus der Reha, wohin er nach seinem fünften Schlaganfall musste. Denn in den Pflege- und Altersheimen im Saarland tobt die Corona-Seuche, Hotspots, wie man auf Neu-Corona-Deutsch sagt. Hier zu Hause hat er nur die üblichen Kopfschmerzen, und auf die Straße traut er sich eh nicht. Im übernächsten Haus leidet die Oma unter den Folgen der Chemotherapie, der sie sich wegen Krebs unterziehen musste. Und das, nachdem sie sich nun seit ein paar Jahren abgequält hat mit der äußerst schwierigen und psychisch belastenden Pflege der dementen, im hohen Alter zur kratzbürstigen, schlecht gelaunten Furie gewandelten Uroma, sie, die ihr Lebtag lang vorher ein Engel und ein Ausbund an Geduld und Sanftmut war. Drei Häuser nebeneinander, drei, vier oder fünf Morituri auf engem, nachbarschaftlichem Grund. Anlass genug, mit Außenstehenden möglichst keinen Kontakt aufzunehmen. Währenddessen muss der aufgeweckte fünfjährige Urenkel von der Familie zurückgerufen werden, weil er sich neugierig dem Dialysepflichtigen nähert, um zu fragen, was der denn da mache mit dem kleinen Holzfeuer, das die Glut für den „Schwenker“, wie man im Saarland den Grill nennt, hergeben soll.
Von diesem Nachbarschafts-Shorttalk (Schwätzchen, „majen“ auf Moselfränkisch) abgesehen vergeht das Wochenende mit Gartenarbeit in der Sonne, Freude über die erstmals seit drei Jahren wunderhübsch aufblühende Kamelienpflanze, Genugtuung darüber, dass im kleinen Teich nach Spülung mit frischem Wasser die Algentrübung schwindet und sich herausstellt, dass in diesem Winter alle elf roten, gelben, weiß-roten und blaugrünen Zierfische das tagelange Zufrieren der Teichoberfläche problemlos überlebt haben. Überleben, da machen sie uns Corona-Bedrohten etwas vor.
Gut, dieses Jahr müssen wir nicht nach Yutz bei Thionville (ehemals zu Kaisers Zeiten noch Diedenhofen) in den bricolage (Baumarkt) fahren, um die drei oder vier Winteropfer an Teichgold- durch winzige Jungfische zu ersetzen, die man dort erstehen und in mit Wasser gefüllten, durchsichtigen Plastiktütchen zurück ins Saarland verbringen kann. Das ginge auch gar nicht, da wegen Corona die Grenzen am Dreiländereck dicht sind, ausgerechnet bei Schengen, dem Ort, der nach dem gleichnamigen Abkommen benannt ist, bloß weil es dort auf einer kleinen betonierten, schiffförmigen Insel mitten im Moselstrom beschlossen, verkündet und besiegelt worden ist, vor Jahr und Tag.
Was die EU wert ist, erweist sich jetzt angesichts der Krise. Es ist schlimmer als früher, als hier noch risikoreich zwischen Luxemburg, dem Saarland und Frankreich hin und her geschmuggelt werden musste und sich an den Grenzschranken Wochenende für Wochenende lange Schlangen bildeten. Heute läuft gar nichts mehr. Kein kleiner Grenzverkehr. La France Nord-est, wie der Zusammenschluss von Elsass, Lothringen und Champagne neuerdings heißt, ist Corona-Hochrisikogebiet mit strenger Ausgangssperre. (Wie es den französischen Cousinen und ihren ebenso betagten Gatten wohl geht? Letztes Jahresende hat man sich noch Grußkarten zukommen lassen.) Und auch Luxemburg hat die Grenzen dichtgemacht. Also kein Ausflug nach Schengen, um dort billig zu tanken, italienischen Espresso zum halben Preis im Vergleich zu Deutschland zu erstehen oder billige Zigaretten gleich stangenweise zum Herüberschmuggeln ins Saarland. Aber wer raucht auch jetzt noch, wo das Rauchen als eine Ursache für COPD (chronisch obstruktive Lungenkrankheit) gilt und damit auch für einen schlimmen (möglicherweise letalen – tödlichen) Verlauf der COVID-19-Lungenentzündung verantwortlich gemacht wird?
Auch der Ausflug nach dem auf der anderen Moselseite liegenden kleinen Ort Sierck-les-Bains mit der wunderschönen mittelalterlichen Burganlage hoch überm Fluss und dem französischen Mousquetaires-Supermarkt entfällt, wo man sich sonst immer die neueste Ausgabe von Charlie Hebdo besorgen oder neben verschiedenen Käsesorten von Chèvre bis Camembert vor allem die kleinen Apéro-Käsewürfelchen von La vache qui rit kaufen kann. Die dienen dann als Nachschub für die kleine Freude am frühen Morgen dreimal die Woche vor der Dialysesitzung, beim kurzen Treffen der ersten Patienten in der Vorhalle vor dem Eingang des Dialysezen-trums, wo man vor dem Öffnen der Tür noch ein kleines Schwätzchen hält und sich gegenseitig erfreut mit an sich verbotenen Kleinigkeiten, die man sonst als Dialysepatient nicht essen darf, zum Beispiel Bananen, Süßigkeiten oder eben Schmelzkäse. Jetzt, kurz vor der Dialyse, kann man sich diesen kleinen Genuss gegenseitig gönnen und sich ebenso gegenseitig ein wenig sein jeweiliges Leid klagen.
Als Morituri unter sich, versteht sich.
(14. April 2020)