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Ave Covid, moribundi te salutant (3)

Wir lagen vor Madagaskar

und hatten die Pest an Bord.

In den Kesseln, da faulte das Wasser,

und täglich ging einer über Bord.

Die gegenwärtige Situation allgemeiner Lähmung angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie ist nicht so einzigartig, wie sie uns Zeitgenossen zunächst erscheinen mag. Die Denkpause, die uns der weitgehende Shutdown fast aller wirtschaftlichen Aktivität und das Stillhalten in der staatlich verordneten häuslichen Quarantäne gnädigerweise vergönnt, legt nahe, über vergleichbare historische Ereignisse nachzudenken. Der französische Präsident Macron, der wegen seiner Kriegsrhetorik –„Nous sommes en guerre“ – vielfach der Übertreibung bezichtigt wird, hat in gewisser Hinsicht gar nicht so unrecht.

Die allgemeine Mobilmachung zu Beginn großer Kriege hat zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht mit der gegenwärtigen Lage einiges gemeinsam – auch wenn es eher nach einer Demobilisierung aussieht, bedeutet die massenhafte häusliche Quarantäne doch, dass ein Großteil der in der Wirtschaft Beschäftigten ausfällt; Produktion, Handel und Dienstleitungen kommen in weiten Bereichen zum Stillstand. So wie die Autoindustrie, die zurzeit kaum Fahrzeuge verkaufen kann, ihre Produktion auf die Herstellung von Atemgeräten und Gesichtsmasken umzustellen beginnt, wird generell in Kriegszeiten auf die Produktion von Granaten und Kanonen umgerüstet, und ähnlich wie jetzt die zuvor unter Arbeitsverbot gestellten Asylbewerber und noch nicht anerkannten Kriegsflüchtlinge bei den unter Hilfsarbeitermangel leidenden Bauern als Helfer in der Spargelernte einspringen müssen, sind im Ersten und Zweiten Weltkrieg plötzlich die Frauen gefragt gewesen, die in den Waffenfabriken an die Fließbänder mussten.

Klar, bei der Corona-Pandemie wird es nicht darauf ankommen, dass sich die zur Armee einberufenen Männer mit der Waffe in der Hand um das Massakrieren anderer Soldaten „verdient“ machen sollen, um anschließend als „Helden der Nation“ gefeiert zu werden. Heldenhaft, da sind sich alle einig, ist zurzeit der Einsatz des Medizinpersonals, und zwar bei der Rettung von Menschenleben, was einen Unterschied ums Ganze macht. Ähnlich wie im Kriegsfall ist allerdings die allgemeine Furcht, und zwar so gut wie aller, um ihr eigenes Leben, oder wenigstens um das ihrer Angehörigen.

Wenn wir also nach ähnlichen gesellschaftlichen Befindlichkeiten in der Vergangenheit suchen, müssen wir nicht bloß an Seuchenjahre wie die Zeiten der Spanischen Grippe um 1919 oder die Kinderlähmungsepidemie in den fünfziger Jahren denken. Auf der Suche nach Beschreibungen dieser Befindlichkeiten angesichts einer allgemeinen tödlichen Bedrohung müssen wir nicht auf Camus’ Pest, das Dekameron, die Maske des roten Todes von Edgar Allan Poe, Thomas Manns Zauberberg oder ähnliche Literatur zurückgreifen, wir werden auch in der reichlichen Literatur fündig, die in den zwanziger und den fünfziger Jahren versuchte, die „Kriegserfahrungen“, wie man das beschönigend nannte, halbwegs literarisch zu verarbeiten.

Albert Camus’ Roman Die Pest von 1946/47 kann man als realistischen Report lesen über die Quarantäne einer ganzen Stadt, des algerischen Oran, über eine anscheinend endlos dauernde, wahllos und zahllos die Menschen dieser Stadt hinraffende Seuche. Zwischen den Zeilen dieses Romans jedoch drängt sich dem Leser unwillkürlich eine Ahnung davon auf, dass es dem Autor dabei mehr um die Verarbeitung der gerade erst überstandenen Phase der Besetzung Frankreichs durch mordwütige deutsche Truppen geht und das Lebensgefühl, das die Lage der französischen Intellektuellen in dieser Zeit bestimmt, die in der Résistance engagiert sind und praktisch Tag für Tag um ihr Leben fürchten müssen, weil sie damit rechnen, dass es morgens um fünf bei ihnen klingelt und es nicht der Milchmann ist.

Die Philosophie dieser Zeit ist denn auch nicht unerwartet der Existentialismus, der im Hauptwerk seines Erfinders, Martin Heidegger, mit dem leicht größenwahnsinnig anmutenden Titel Sein und Zeit mit der Behauptung beginnt, die Hauptfrage, vor der sich alle drückten, sei die nach dem bevorstehenden Tod. Eine Sicht der Welt, die allerdings verständlich ist, wenn man bedenkt, dass die Generation der zwanziger Jahre ihre Jugend in den Schützengräben vor Verdun verbracht hat. Täglich den eigenen Tod vor Augen.

„Nous sommes en guerre“, sagt der französische Präsident. Und beschreibt damit recht präzise die Angststarre, die unsere Gesellschaft zurzeit angesichts der Corona-Pandemie erfasst hat. Und vergisst dabei, dass die tatsächlich akut vom Sterben infolge der Seuche bedrohten Bevölkerungsgruppen, also die über Achtzigjährigen und die an mehrfachen Vorerkrankungen Leidenden, sich auch ohne die derzeitige Bedrohung durch Corona schon lange in diesem Zustand befinden, gewissermaßen „Tote auf Abruf“ zu sein.

Das, so dekretiert es der Existentialismus, sei generell die „Condition humaine“. Eine Auffassung vom Leben, die sich als posttraumatische Wahnidee, nach den Schrecken und Grausamkeiten des Massensterbens und -tötens, als bleibende Verrücktheit der Überlebenden der Kriegsschlächtereien durchaus verstehen lässt. Aber übernehmen müssen wir diese pessimistische Sicht auf die Welt und unser Leben wahrlich nicht, und das macht auch den Unterschied aus zwischen verstehen und Verständnis zeigen.

Wie gehen wir mit der sogenannten Corona-Krise um? Was kommt danach? Wir werden über den Tod der an der Corona-Seuche sterbenden Morituri trauern müssen, auch wenn wir wissen, dass sie ohnehin, auch ohne Seuche, in den nächsten drei Jahrzehnten gestorben wären. Und wir sie in diesen zehn, zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr werden verlieren können, da sie ja dann längst tot sind. Aber über die sinkenden Sterberaten der nächsten Jahrzehnte, darüber redet verständlicherweise in der gegenwärtigen Situation niemand – wozu auch?

(2. April 2020)

Ave Covid morituri te salutant

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