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Ave Covid, morituri te salutant (10)

Nach drei Wochen totalem Shutdown mit allgemeiner Kontaktsperre, Abstandsgebot und häuslicher Quarantäne samt Homeoffice spricht man und streitet man nun über Erleichterungen und Wiederanspringen des Wirtschaftslebens. Die kleinen Läden sollen wieder aufmachen dürfen, Gesichtsmasken werden erst empfohlen und, sobald wieder lieferbar, sogar Pflicht, und allenthalben erhebt sich die Forderung, neben der Wiederaufnahme der Arbeit in den Fabriken und Büros nun wenigstens die Schulen und die Kindertagesstätten unter Auflagen Schritt für Schritt stundenweise zu öffnen, um auch die Eltern der besonders unter häuslicher Quarantäne leidenden Kinder etwas zu entlasten.

Wobei die warnenden Stimmen, solche „Liberalisierungen“ könnten eine zweite Ansteckungswelle auslösen, nicht zu überhören sind. Die vorzeitige Aufhebung der offensichtlich in Hinsicht auf eine Bremsung der Ansteckungszahlen effektiven Separierungs- und allgemeinen Quarantänemaßnahmen könnte alle bisherigen Anstrengungen konterkarieren und ihre Erfolge letztlich aufheben. Selbst die Bundeskanzlerin profiliert sich als oberste Mahnerin der Nation: vorschnelle, vermeintliche „Befreiungs“strategien seien eher skeptisch zu betrachten. Nur allzu rasch könnten sich in einer zweiten Ansteckungswelle daraus Zustände wie in Oberitalien, Nordost-Frankreich, Spanien oder New York entwickeln, von wo die schockierenden Bilder stammten von Leichentransporten und überfüllten Intensivstationen mit Krankenbetten auf den Fluren. In den Medien gezeigte Bilder von Strecken in weiße Tücher gewickelter Corona-Toter aus diesen „Krisengebieten“, ähnlich den Strecken geschossener Wildtiere, die nach einer erfolgreichen Treibjagd auf Hasen, Rehe und Hirsche von den begeisterten Jägern stolz ihrem Publikum präsentiert werden, wolle man hierzulande nicht erleben müssen. Bislang habe man doch erfolgreich eine Überlastung der Intensivstationen in den Krankenhäusern vermeiden können.

Tatsächlich gab die im Vergleich zu anderen Ländern verblüffend niedrig Quote an den Folgen der Corona-Pandemie Gestorbener in Bezug auf die Zahl der Infizierten ausgerechnet in der Bundesrepublik Deutschland Anlass zu einer nachdenklichen Diskussion während einer unserer wöchentlichen Skype-Konferenzen. Unsere wegen der allgemeinen Kneipenschließung verunmöglichten Donnerstagstreffs mit Spätschoppen-Weinprobe bei unserem Lieblingswirt Franz im früheren Livingstonschen Pferdestall in Frankfurts Westend waren in den letzten Wochen ins Internet verlegt worden – Fortschritt muss eben sein, ganz gleich, wohin er auch schreiten mag. Hauptsache fort, Sinn und Zweck Nebensache, quasi Kollateralschaden – auch noch ein Thema der Corona-Folgendiskussion.

Die Frage also, warum ausgerechnet in Bezug zu den offiziell gemeldeten Infizierten in Deutschland die Anzahl der an Corona Gestorbenen so viel niedriger sei als beispielweise in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und den USA, rief zunächst die üblichen Erklärungsmuster auf, zum Beispiel wie die unterschiedliche Zahl von Testverfahren überhaupt oder die Mutmaßung, es könne einfach an der unterschiedlichen Qualität der jeweiligen Gesundheitssysteme liegen. Nach mäandernder Diskussion kam es dann an irgendeinem Punkt zu der zunächst verblüffenden These, es könne auch an der für die Deutschen typischen Präzision, ihrer technischen Perfektion liegen. Nicht von ungefähr sei die DIN, die Deutsche Industrienorm, hier in diesem Lande erfunden worden.

Was denn genau diese deutsche Gründlichkeit bedeute, wie sie zu erklären sei, da gingen die Erklärungen weit auseinander. Der Einwurf, sie könne man auch – im Gegensatz zu einer positiven Beurteilung – als Genauigkeit oder akkurate Penibilität mit preußischem Kadavergehorsam in Verbindung bringen, und der Verweis auf Ordnungsfanatismus und pathologischen, ordnungsbesessenen Zwangscharakter erfuhr energischen Widerspruch. Bei der industriellen Massenvernichtung von Menschenleben, diesen Tötungsfabriken in Auschwitz, sei der deutsche Untertanengeist nicht als zureichende Erklärung ins Feld zu führen, sondern tatsächlich sei der Verweis auf technische Perfektion, und damit die erwähnte Präzision, schon eher ein treffendes, erhellendes Erklärungsmuster. Man denke nur an Eichmann, der in seinem Prozess in Israel noch davon geschwärmt habe, wie reibungslos und effektiv die Eisenbahntransporte in die Vernichtungslager funktioniert hätten, wie pünktlich sie abgefahren und wie genau ausgearbeitet ihre Fahrpläne gewesen seien.

Und so hat die Debatte über die Corona-Krise es geschafft, den Spannungsbogen der Diskussion deutscher Intellektueller in die ganze Breite zu spannen zwischen Deutscher Industrienorm (DIN) einerseits und Massenvernichtung in Auschwitz andererseits. Da war sie wieder – die (typisch?) deutsche Bi-Polarität zwischen Genie und Wahnsinn. In Gefahr und großer Not – wächst da zusammen, was zusammengehört?

(28. April 2020)

Ave Covid morituri te salutant

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