Читать книгу Ave Covid morituri te salutant - Heipe Weiss - Страница 19
ОглавлениеAve Covid, morituri te salutant (14)
Für den heutigen Samstag, so hieß es gestern im Tivi, werden wieder in den großen Städten sogenannte Hygienedemonstrationen erwartet. Seltsam. Wird da für oder gegen Hygiene demonstriert?
„Hygiene“, laut Wikipedia, „oder Gesundheitspflege sollen Krankheiten verhüten sowie die Gesundheit erhalten und festigen.“
Das Hygienesystem unseres Dialysezentrums jedenfalls war bisher in der Corona-„Krise“ durchaus erfolgreich. Wenngleich auch bei den ersten Schritten zu Anfang der Bedrohungsphase eher zaghaft. Zunächst wurden wir gebeten, uns in der Folgezeit selbst mit von zu Hause mitgebrachten Brötchen und Getränken für das Frühstück zu versorgen, da man angesichts der Gefahrenlage darauf verzichten werde, uns nach den ersten beiden Dialysestunden mit schmackhaften Ei-Mayonnaise- oder Mozzarella-Tomaten-Sandwiches und Tee, Kaffee und/oder Mineralwasser als Frühstücksgarnitur zu verwöhnen – aus rein hygienischen Beweggründen.
Da war ich gerade von einem Wochenendtrip aus Madrid zurückgekehrt, wo ich im dortigen Dialysezentrum mit einem neuartigen pistolenähnlichen Fiebermessgerät – Messung drei Zentimeter vor der Stirn – und von der gesamten Belegschaft in Quarantänemänteln, Handschuhe und Gesichtsmasken inklusive, aber überaus freundlich empfangen wurde. Dort gab es zur Frühstückspause zwei Mini-Pepitos, schmackhafte, fingerförmige Biskuitstangen. Insgesamt schien man ausschließlich bei mir, dem aus Deutschland zugereisten Gastdialysanten, ein gewisses Ansteckungsrisiko zu vermuten, da die Lage in Madrid selbst als wenig beunruhigend eingeschätzt wurde, gerade mal vier Infizierte sollte es geben, hieß es im Fernsehen, keine Gefahr in der Millionenstadt. Anders als in Oberitalien, wo die Krankenhäuser überfüllt waren wegen der Après-Ski-Angesteckten aus Ischgl.
Unsere Vermieterin und Freundin zu Hause, selbst Endsiebzigerin, hatte sich nicht abschrecken lassen von den ersten Nachrichten über das Risikogebiet Tirol und war am selben Wochenende zu einer Wanderung mit Freundinnen dorthin aufgebrochen. Sie wolle gar nicht Ski fahren, hatte sie mir gesagt, als ich meinte, ein Problem könne es geben, wenn sie am Skilift in der Schlange mit vielen möglicherweise Angesteckten lange warten müsste. Sie wolle ja nur wandern, da gebe es keine Ansteckungsgefahr.
Vier Tage später kam sie vorzeitig zurück, und hatte dabei noch Glück, denn zwei Tage später wurde die Grenze komplett geschlossen, und sie hätte gar nicht wieder nach Deutschland einreisen können. Auf jeden Fall musste sie danach 14 Tage in Quarantäne, in der Wohnung über uns, und ich brachte ihr dreimal die Woche Brötchen vom Bäcker mit. (Was ein Glück, in den folgenden Wochen der verschärften Lockdown-Situation hat sie sich revanchiert, und jetzt bringt sie mir im Gegenzug mehrmals in der Woche ein Baguette mit.)
Genau genommen war damit für mich als mehrfach Hochgefährdeten die Corona-Gefahr in Luftlinie gerade mal drei Meter (nach oben) entfernt, aber nach 14 Tagen war die Sache vorbei, Entwarnung. Derweil hatte sich das zuvor als harmlos eingeschätzte Madrid zu einem Hochrisikoherd entwickelt. Gut, auch ich hatte da bereits die gut zwei Wochen Quarantäne, ohne es zu wissen und ohne Ansteckung, hinter mir.
Allerdings hatte mir in Madrid bereits geschwant, dass sich in dieser Stadt eine ansteckende Krankheit rasant zu einer Katastrophe entwickeln müsste, so sehr war die Atmosphäre die einer einzigen, gewaltigen Fiesta: in der Innenstadt kaum ein Stehplatz auf den Gassen und Plätzen, alles auf den Beinen, die Tapas-Bars und Restaurants alle bis auf den letzten Platz gefüllt, die Stimmung die eines permanenten Volksfestes. Die Stadt brummte, die Stimmung erinnerte mich beispielsweise an ähnliche Tage im Quartier Latin in Paris in den Sommermonaten der Jahre vor 1968 oder die Zeit in Prag 1980 oder Sommerabende später in Amsterdam, mit Musik und fröhlichen Menschen allüberall auf den Straßen und Plätzen.
Zwischen all den fröhlichen Menschen in Madrid kam ich mir als mich vor einer Corona-Ansteckung fürchtender bundesdeutscher Tourist ein wenig albern vor, wenn ich zum Beispiel zögerte, mich beim Treppauf- und
-absteigen als ob der Strapazen mühselig Keuchender mit der Hand am Geländer festzuhalten, das Tausende andere vor mir angefasst hatten. Im Fernsehen hatten die Experten in den stündlichen Nachrichten für meine Begriffe ein bisschen zu viel darüber geredet, dass angesichts der vier Infizierten für Madrid keine Gefahr bestehe, um mit ihren Unbedenklichkeitserklärungen wirklich glaubhaft zu wirken.
Wie sich dann später herausstellte, hatte ein Spiel der Champions League zwischen der Mannschaft des spanischen FC Valencia und den Fußballern aus Bergamo in Oberitalien dazu geführt, dass das bis dahin ahnungslose Madrid zum zweiten katastrophenartigen Hotspot der Pandemie avancierte – mit einem hoffnungslos überforderten Krankenhaussystem, jeder Menge Corona-Toten und einem wochenlangen totalen Lockdown. Vorbei das ganze fröhliche südländische Volksfest, Ende der immerwährenden, grandiosen Fiesta. Stattdessen sang man jetzt abends auf den Balkonen der zu Quarantänefestungen gewandelten Wohnungen und applaudierte Abend für Abend dankbar den aufopferungsvollen medizinischen Pflegekräften, die sich bis zur Erschöpfung um die vielen schwer an COVID-19 Erkrankten kümmerten.
Kein Grund für mich, etwa Freude darüber zu empfinden, dass ich mit meiner Prognose recht behalten hatte, Madrid müsse für eine Ansteckungsepidemie geradezu extrem anfällig sein.
Stattdessen war ich wie meine Mitpatienten im heimischen Dialysezentrum schockiert angesichts der Bilder von überfüllten Intensivstationen in Oberitalien oder Madrid (oder später New York). Wir waren ausnahmslos dankbar für alle Empfehlungen und Vorsichtsmaßnahmen, die von unserer Dialyseeinrichtung getroffen wurden, hielten ab sofort Morgen für Morgen bei unseren Vordialysetreffen gehorsamst einen gut zwei und mehr Meter weiten Abstand untereinander, verzichteten hinfort auf das gegenseitige Anreichen von Süßigkeiten oder Käsewürfeln oder Bananen und sonstigem verbotenem Schleckerkram und zogen auch, sobald sie uns empfohlen (und auch ausgehändigt) wurden, eifrig unsere Gesichtsmasken vor Mund und Nase, ohne zu murren. Oder fast ohne zu murren.
Goldschuhchen beispielsweise schnarrte zunächst empört, als ich mich weigerte, in die von ihr angereichte Bonbontüte zu greifen, ich solle mich nicht so anstellen, „oder hab’ isch vielleicht die Krätz?“ Aber dann hatte sie doch ein Einsehen und verzichtete zunächst ein paar Tage auf ihr Süßigkeitenangebot.
Doch für ein kleines Schwätzchen am frühen Morgen ließ sie sich in ihrem Rollstuhl bis zum gebührenden Zwei-Meter-Abstand dann allmorgendlich vor uns hinschieben, uns auf den vier Stühlen (mit zwei Meter Abstand untereinander) Sitzenden, um ein bisschen zu jammern. Dass man kaum Luft bekomme durch diese blöden Masken. Dass sie so gut wie gar nicht geschlafen habe, die Nacht zuvor. Aus lauter Sorge, und dann sei sie raus auf den Balkon gefahren, wegen der frischen Luft, aber das habe auch nichts genutzt, dauernd diese Angst, und das Grübeln. Sie sei völlig fertig, sagte sie. Wir hatten vollstes Verständnis für sie, ging es uns selbst doch kaum besser.
Und dann fuhren wir, wie jeden Dialysemorgen inzwischen, alle brav einzeln im Aufzug, obwohl das natürlich eine ganze Weile länger brauchte, hinauf in den ersten Stock, wo dort im kleineren, fensterlosen und deshalb ziemlich stickigen Vorraum jetzt immer das Begrüßungskommando der Dialysestation im Quarantänelook auf uns wartet.
Im Raumfahreranzug, mit Plexiglas-Gesichtshaube, extralangen Plastikmänteln, durchsichtigen Latexhandschuhen. Wie Marsmenschen ausgerüstet mit Dokumentenbrettchen und Abfrageformularen für die einzelnen Patientenakten und der modernen kontaktlosen Fiebermesspistole, die sie uns vor die Stirn halten. Und dann abfragen, ob wir besondere Symptome haben oder unerlaubte Kontakte hatten. Falls nicht, dann dürfen wir hinein ins Zentrum, zum Wiegen und Umziehen, und uns unsere Betten zurechtmachen, auf denen wir darauf warten, per doppelten Nadelstich in den mit einem Shunt-Blutzugang bewehrten Arm an die Blutwäschemaschine angeschlossen zu werden, für viereinhalb Stunden – und das alles nur, um unser bisschen Leben zu retten.
(23. Mai 2020)