Читать книгу Ave Covid morituri te salutant - Heipe Weiss - Страница 21
ОглавлениеAve Covid, morituri te salutant (16)
Die erste und zweite Ableitung, Zins- und Zinseszinsrechnungen, all so ein mathematischer Bullshit. Was
gewöhnlich zählt, sind die kleinen Dinge. Hier in der nordsaarländischen Kreisstadt bekommt man zur Frühstückspause wie in Vor-Corona-Zeiten Tee und Wasser serviert, dazu vier halbe Brötchen, mit Salami, Wurstscheiben und zwei Sorten Scheibenkäse. Nichts Berühmtes, aber sättigend. Getreu dem Motto des geborenen Saarländers: „Hauptsach’, gut gess!“
Dafür sind die allgemeinen Hygienemaßnahmen im Vergleich zu Frankfurt eher nachlässig. Zwar trägt man auch hier als Patient wie als Pflegepersonal oder Arzt ganz selbstverständlich Mund- und Nasenschutz, doch Desinfektionsspray zur freien Verfügung an Ein- und Ausgang der Station fehlt – wie schon immer.
Die Taxifahrerin hält mir ostentativ die Beifahrertür auf, als sie mich abholt, und ist etwas verschnupft, dass ich (im Gegensatz zu ihr mit Maske) darauf bestehe, hinten einzusteigen. Eine Auflage meines Dialysezen-trums in Frankfurt, erläutere ich ihr, und damit ist sie halbwegs zufrieden, na ja, die Städter, war ja nicht anders zu erwarten.
Man fühlt sich jetzt von Corona nicht mehr sonderlich bedroht, hier im Nordsaarland. Die alarmierenden Ansteckungszahlen der letzten Wochen betrafen fast nur die Altenheime. In den letzten Tagen gab es gerade mal vier Neuansteckungen im gesamten Bundesland.
Das erinnert mich fatal an die schon beschriebene aufgesetzte Gelassenheit in Madrid, zwei Wochen bevor es zur katastrophenartigen Eskalation bei den Krankenzahlen und Todesfällen kam. Aber auch in Spanien wird schon wieder gelockert, und hier in der Provinz glaubt man nicht an irgendeine kommende zweite Welle.
Meine blonde Schönheit von Ärztin in der Frankfurter Dialysestation war da schon ängstlicher. Sie mache sich ernstlich Sorgen um mich, hatte sie am letzten Nachmittag vor meiner Abreise in den Urlaub im Saarland nochmals dringlich auf mich eingeredet. Wenn ich beim Spazierengehen mit meiner Frau zufällig auf Bekannte träfe, das könne ja mal vorkommen, ich wider Erwarten gar Kontakt hätte mit jemand Infiziertem, dann solle ich anrufen. Man habe für mich sofort einen Quarantäneplatz in ihrer Klinik, wo ich dann auch dialysieren könne.
Sie ist offensichtlich zuständig für die eigens eingerichtete Infektionsdialysestation im Parterre, wo sie gleich zu Beginn des Akut-Werdens der Pandemiegefahr morgens überraschend zu uns im Vorraum Wartenden aus der Türe gekommen war. Erst hatte sie Herrn Lustig nach drinnen komplimentiert, um ein wenig später das Tanzpüppchen, kaum dass es aus dem Wagen ihres sie herfahrenden Ehemannes gestiegen war, gleich an der Tür abzufangen und nach hinten zum Ausgang im Hof zu begleiten – und dann ward Püppchen drei Wochen lang nicht mehr gesehen.
Etwa eine Stunde später war die blonde Ärztin seitlich an mein Bett oben in der ersten Etage gekommen, um mir im Flüsterton zu signalisieren, ein Mitpatient habe sich leider angesteckt, deshalb müsse man besondere Desinfektionsmaßnahmen ergreifen, weshalb mögli-
cherweise meine Dialysezeit von viereinhalb auf nur noch vier Stunden reduziert werden müsse. Sogleich wurde sie aber von einer der beiden mit dem Meine-Nadel-in-den-linken-Arm-Piksen zwecks In- und Exfusion meines zu waschendes Blutes beschäftigten Pflegerinnen darauf aufmerksam gemacht, dass sich besagter Zwischenfall im Nachbarsaal ereignet habe. Worauf sie sich entschuldigte und meinte, ich solle alles vergessen, es sei so weit alles in Ordnung und es bleibe so, wie es war.
Tanzpüppchen, die wie erwähnt nach drei Wochen fröhlich „genesen“ wieder aufgetaucht war, erzählte dann, dass sie von ihrem Mitpatienten angesteckt und deshalb zwei Wochen unten auf der Quarantäne-Etage behandelt worden sei. Und wo sie schon mal dabei war, hatte sie sich gleich anschließend in der Klinik zwei üble Warzen an den Händen wegschneiden und sich einen neuen Shunt-Blutzugang am linken Arm legen lassen (eine nicht unkomplizierte Operation). Daher ihre auffälligen Verbände, also nichts Schlimmes, alles wieder in Ordnung, hurra, sie sei, wie gesagt, geheilt und jetzt immun. Das Leben sei schön.
Auch Herr Lustig war schon nach nur zwei Tagen wie üblich bei unserem Wartegrüppchen im Vorraum und fragte mich, ob ich auch getestet worden sei. Bei ihm, der im gleichen Dialysesaal wie Tanzpüppchen und der Infizierte behandelt wurde, war der Test negativ ausgefallen. Wir anderen, aus den übrigen Behandlungsräumen, waren gar nicht erst getestet worden, weil wir keine Symptome aufwiesen oder jedenfalls nicht vorzuweisen hatten.
Wir hatten lediglich einen Informationszettel mit Verhaltensregeln ausgehändigt bekommen samt einer Mund- und Nasenschutzmaske, darunter auch die Anweisung an unsere Transporthelfer und Taxifahrer, dass ab sofort keine Sammeltransporte mehr zulässig seien, wir, in Morituri 5 war bereits davon die Rede, als einzeln zu transportierende Fahrgäste hinten im Taxi Platz nehmen sollten und selbstverständlich Fahrer wie Patient Schutzmasken zu tragen hätten. Fortan wurde ich morgens ein paar Minuten früher abgeholt, damit unser Taxifahrer (Rückwärts-Marathonläufer im Nebenberuf) anschließend auch noch Herrn Lustig zeitig zur Station bringen konnte.
Drum sitze ich nun dreimal die Woche von zwanzig nach sechs bis kurz vor Viertel vor sieben alleine im Vorraum herum. Bis dann nach und nach Tanzpüppchen, Mister Hongkong, dann Mutti Latina (die sich brav mit fünf Metern Abstand schweigsam an der gegenüberliegenden Wand aufstellt und schließlich als Erste über die Treppe nach oben verschwindet) und endlich Frau Goldschühchen mit ihrem Rollstuhlschieber auftauchen. Während wir uns noch ein paar wenige Minuten austauschen, über die schlaflos verbrachte letzte Nacht oder das neueste Gerücht und ähnliche, ganz wichtige Belanglosigkeiten, rauscht meist die Mürrische mit dem gehorsamen Rollstuhlbeweger schnurstracks an uns vorbei in den schnellen linken Fahrstuhl und verschwindet grußlos nach oben.
Wir andern lassen uns Zeit, wollen alle (immer nur eine Person im Fahrstuhl) nicht zu früh in den oberen Vorraum, wo der Marsmensch vom Empfangskomitee mit seiner Fiebermesspistole und seinem Fragebogen auf uns wartet, in dem Miefraum, der weder Fenster noch offene Türen hat und in dem die Luft kaum zum Aushalten ist. Und da sich für uns erst pünktlich um Viertel vor sieben die Pforte zu unseren Behandlungssälen öffnet, bilden sich dort Schlangen von Wartenden, wegen des Miefs und der Enge kommt da aber kaum ein Gespräch auf. Alle wollen nur rasch rein, auf die Waage, dann umziehen, das Bett richten und ab in die Federn, noch eine Mütze Schlaf holen. Bevor die Schwestern mit den Punktier-Piksern unsern Shunt-Arm doppelt anfixen – vier oder viereinhalb Stunden Blutwäsche. Dialysealltag, dreimal die Woche.
Die blonde Ärztin, die sich so besorgt gezeigt hat ob meines Dialyseurlaubs im Saarland trotz Corona-Zeiten, ist nun seit schon 20 Jahren bei der Nephrologieabteilung der Klinik meine besondere Bezugsperson, seit ich damals zum ersten Mal dort aufgelaufen bin, wegen der alarmierenden Nierenwerte, die sich ergeben hatten, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ich insulinpflichtig zuckerkrank war. Aber das ist eine andere Geschichte.
(26. Mai 2020)