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Ave Covid, morituri te salutant (9)

Den Spruch vom Ave der Morituri zitierten wir beim letzten Mal, als wir uns gemeinsam in den langsamen, für uns Patienten reservierten rechten Aufzug des Dialysezentrums zwängten, um in den ersten Stock in die dort gelegene Ausweichetage zu fahren. Den linken, schnellen Aufzug nahm Madame Goldschuhchen mit ihrem Rollstuhl und ihrem Transportfahrer in Beschlag. Widerrechtlich, da ein Schild des Hausmeisters die Benutzung dieses Aufzugs für Dialysepatienten ausdrücklich untersagt. Vermutlich aus hygienischen Gründen. Weil er uns zu schnell an die Dialysemaschinen befördern könnte, dagegen wohl kaum.

Wir anderen von unserem Frühaufstehergrüppchen, jedenfalls wir Übriggebliebenen, also der so gut wie vollkommen taube Herr Lustig, unsere gemütliche, aber auch etwas schüchterne (noch nicht so lange dazugehörende) Latina, der wie immer als fröhlicher Wandersmann verkleidete Mister Hongkong, die lebensfrohe, trotz ihrer unübersehbaren körperlichen Wehwehchen meist Heiterkeit ausstrahlende Miss Tanzpüppchen und der Autor dieser Zeilen, passten gerade noch so in den wirklich lahmen, ruckelnden Zweiter-Klasse-Aufzug und zockelten nach oben – nicht eben bang, aber doch gespannt, was uns an Neuigkeiten, veränderten Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen angesichts der weltweiten Pandemiegefahren speziell in unserer Dialysestation erwarten würde. Wir standen dicht an dicht, keiner trug irgendeine Schutzmaske (die entsprechende Richtlinie kam erst zwei Wochen später), kein Gesundheitsminister war unter uns, auch kein Ministerpräsident oder sonst wie Hochoffizieller, grad nur unser Grüppchen von nierenkranken übrig gebliebenen Frühaufstehern.

Übriggebliebene sind wir als Grüppchen, das sich dreimal die Woche zwischen Viertel nach sechs und Viertel vor sieben im Parterrefoyer vor der Tür zu den Hallen des Dialysezentrums trifft, um noch einen kleinen Plausch zu halten, bevor für uns Patienten die Pforte zu den Räumen unserer Lebensrettungseinrichtung von einem Pfleger oder einer Krankenschwester von innen geöffnet wird, um uns einzulassen. Uns Übriggebliebene, die wir uns so nennen dürfen, weil wir im letzten halben Jahr unerwartet dezimiert worden sind, drei Abgänge aus unserer kleinen Frühmorgengemeinschaft zu verzeichnen hatten.

Zum einen hat uns Mister Eintracht verlassen, der umtriebige kleine, ein wenig kugelbäuchige, lustige ehemalige Gastwirt, der uns mit seiner Hesse-Joe ähnlichen Geschwätzigkeit allmorgendlich unaufgefordert bespaßt (wie man das neupädagogisch-deutsch nennt) und allen im Laufe der Monate und Jahre ihre jeweiligen Titel verpasst hatte. Wie Mr. Hongkong für den Mann aus Hongkong. Oder Nummer 2 für den etwas distinguiert wirkenden älteren Herrn, der uns schon vor vier Jahren verlassen hat; für Mister Eintracht deswegen Mister Nummer 2, weil das die Zahl am Kleiderspind war, in den Nummer 2 morgens beim Umkleiden seine Jacke hängte. Oder Mister Saarland, Mister Eintracht gemäß der passende Titel für den Mitpatienten aus dem südwestlichen Bundesland. Das allerdings auch erst, nachdem ihm klargemacht worden war, dass der Titel Mister Saarbrücken ebenso wenig jedem Saarländer behage wie ihm als Frankfurter und Hesse der Titel Mister Wiesbaden, bloß weil das die Hauptstadt von Hessen ist.

Mister Eintracht höchstselbst hat uns vor ein paar Wochen verlassen, weil er endlich eine Niere gespendet bekam, auf die er seit Jahren ungeduldig gewartet hatte. Sein Abgang ist insofern eher ein erfreuliches Ereignis gewesen zu Anfang des Jahres. Die beiden anderen Abgänge hingegen, Frau Hermeskeil und zuletzt auch noch Lilly, unsere kleine, tapfere Lilly, waren ein echter Verlust. Wir alle schauen noch immer ganz traurig, wenn wir auf die beiden zu sprechen kommen, was wir deswegen eher selten tun.

Damit, dass einzelne unserer Mitpatienten im Laufe der Jahre trotz lebensrettender Dialysebehandlung doch irgendwann an dem einen oder anderen ihrer diversen, zum Teil unheilbaren körperlichen Gebrechen sterben, sind wir alle vertraut, Aber reden, das tun wir trotzdem nicht gern darüber. Todgeweiht, aber lustig, ist die Devise. Nicht unbedingt einfach durchzuhalten, aber hilfreich in der Situation, in der wir uns alle seit Jahren befinden.

Humor sei es, so sagt es sich leichthin, wenn man trotzdem lacht. Humorist ist, wer das tatsächlich glaubt.

(21. April 2020)

Ave Covid morituri te salutant

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