Читать книгу Ave Covid morituri te salutant - Heipe Weiss - Страница 12
ОглавлениеAve Covid, morituri te salutant (8)
Kaum macht man eine einfache, hoch spekulative Milchmädchenrechnung auf, kommt auch schon heftiger Widerspruch. Da ist nicht nur das Argument, es solle doch korrekter und genderentsprechend Milchmännchenrechnung heißen. Dies unter anderem auch deshalb, weil die Milchmänner im Verdacht Panik verursachender paranoider Tendenzen stünden, da sie schizoiderweise oft, wenn es morgens um fünf bei ihnen klingelt, nicht wüssten, ob sie nicht doch selbst es waren, die den Klingelknopf betätigt haben.
Nein, es werden tatsächlich ernst zu nehmende Argumente ins Feld geführt. Zum Beispiel, dass jeder gegenwärtigen Prognose in Sachen Pandemie (als Wort viel eleganter als der Zungenbrecher Epidemie) die wissenschaftlicher Überprüfung zugrunde zu legende empirische Basis völlig abgehe, mangels ausreichend breit angelegter Tests – wofür, ebenso wie für den eklatanten Schutzmaskenmangel, die fehlenden Testmaterialien und der dafür zuständige (und im Prinzip als Allererstes schleunigst aus seinem Amt zu entlassende) Gesundheitsminister verantwortlich seien.
Wenn man nicht einmal wisse, wie viele Einwohner eines Landes sich an einer Krankheit angesteckt hätten, könne man auch keinerlei Aussagen darüber treffen, wie viel Prozent nun tatsächlich erkrankt oder gar an dieser Krankheit gestorben seien beziehungsweise in naher Zukunft daran sterben könnten. Alle Hochrechnungen stünden mithin im Verdacht unverantwortlicher Panikmache, und Angst machen verschlimmere jede gesellschaftliche Situation, sei sogar für ernsthaft gefährdete Gruppen unter Umständen selbst ein Grund für die Erhöhung von Letalitätsrisiken.
Überzeugend wirkt vor allem das Argument, die Hochrechnung der jährlichen Sterbezahl von einer Million betagter oder mehrfach vorerkrankter Personen auf die Gesamtzahl der Generation der über 65-Jährigen (gegenwärtig etwa 17 Millionen) enthalte einen gewaltigen Denkfehler. Wer es geschafft habe, die Altersschwelle von acht Jahrzehnten lebendig zu überschreiten, sei damit doch schon der lebende Beweis dafür, zu den resilienten Teilen der Bevölkerung zu gehören. Resilienz, noch so eine Vokabel, die derzeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ins Milchmännchen-Deutsch übersetzt könnte man es möglicherweise anschaulich als Stehaufmännchen-Kapazität bezeichnen – die Fähigkeit, nach Niederlagen oder schlimmen Erkrankungen sich wieder aufzurappeln und gesund und kräftig weiterzumachen wie zuvor.
Nun, auch in Gesundheitsfragen bestimmt gewisser-maßen das Sein das Bewusstsein. Wer seit längerer Zeit chronisch krank ist, findet es treffender, eine Klinik Krankenhaus zu nennen, als die mit der Behandlung Schwerstkranker beschäftigten Intensivstationen als Teil des Gesundheitssystems zu bezeichnen. Für die sich der Gefahren schwerer Erkrankungen stärker bewussten chronisch Kranken ähneln Intensivstationen von vornherein gut getarnten Palliativabteilungen, weil sie sich dort dem eigenen Ableben näher wähnen.
Wer als Allergiker beim Heranwehen von Pollen oder anderen Allergien auslösenden Schwebeteilchen in der Atemluft ständig heftig nießen muss, dann aber regelmäßig irgendwo aus der Ecke den freundlich gemeinten Ruf „Gesundheit“ zu hören bekommt, könnte nach jahrelanger chronischer Erkrankung etwas verschnupft mit einem frisch-fromm-munteren „Danke, zu spät!“ reagieren.
Die paranoide Vermutung, nun seien alle über Siebzigjährigen praktisch schon auf der Sterbeliste der Corona-Pandemie vorgemerkt, ähnelt ebenso wie die derzeitige Meidung aller medizinischen Einrichtungen – leere Krankenhausbetten, gähnend leere Wartezimmer bei den Hausärzten und Ähnliches – der ansonsten mitleidig belächelten Tendenz zur Flucht aus den Gesundheits-zentren in den Ebolaseuchengebieten Schwarzafrikas. Wo weiße – europäische – Medizinmänner in Raumanzügen ähnlicher Schutzkleidung der von Ebola bedrohten Bevölkerung anscheinend nichts weiter bringen als tatsächlich den elenden, schmerzvollen Tod. Also versorgt man dort viel lieber die Sterbenden bei sich daheim – steckt damit die gesamte Verwandtschaft mit der Seuche an und verbreitet sie so in Windeseile.
Wer möchte denn in unseren Breiten die eigenen Eltern und Großeltern in den Altersheimen und Reha-Einrichtungen kaserniert sehen, in denen sie isoliert und ohne ausreichende Schutzmaßnahmen der Erkrankungswelle stärker ausgesetzt sind als der Rest der Bevölkerung? Übersehen wird dabei einerseits, dass auch die (fehlende) Ausstattung der Altenheime wie der dort tätigen Mediziner und Altenpfleger mit den nötigen Schutzvorrichtungen im Prinzip in den Zuständigkeitsbereich des bereits erwähnten Gesundheitsministeriums fällt.
Andererseits könnte aus den bekannt gewordenen realen Fällen und den sich ergebenden Zahlen auch darauf geschlossen werden, dass die Hochrechnungen, nun müssten alle Älteren und Vorerkrankten schon bald den Löffel abgeben, nicht so ganz richtig sind.
Betrachtet man konkrete Zahlen, ergibt sich ein anderes Bild. Da ist von einem Altenheim die Rede, in dem unter allen dort Betreuten (wie viele?) 60 durch das Corona-Virus Infizierte gezählt wurden, wovon fünf gestorben seien. Aus einem Altenheim in Püttlingen im Saarland wird berichtet, dort seien von 100 Bewohnern 16 erkrankt, gestorben sei noch keiner. Konkrete Zahlen jüngerer Betroffener aus einer isolierten Gruppe gibt es andererseits von einem französischen Flugzeugträger. Von 2.000 Mitgliedern der Besatzung hatten sich 1.000 Matrosen, also genau die Hälfte, angesteckt, und 24 davon wurden hospitalisiert.
Wenn man solche konkrete Einzelfallzahlen als Basis für gesellschaftliche Hochrechnungen nimmt, kommt man statt der simplen Schätzung (jährliche gewöhnliche Sterberate 1 Prozent) beispielweise bei der Untersuchung des nordrheinwestfälischen „Hotspots“ Heimsberg auf eine zu erwartende Sterberate von 0,38 Prozent der Erkrankten (ohne Berücksichtigung der Frage, ob es darunter auch wegen anderer Ursachen Verstorbene gab).
Genaueres, das wird immer wieder in jedem Fernsehkrimi von den dortigen Pathologen betont, lässt sich erst nach der Obduktion sagen. Hamburger Ärzte nahmen das ernst und untersuchten trotz einer unsinnigen gegenteiligen Anweisung seitens der nationalen Seuchenuntersuchungszentrale – Obduktionen seien angesichts der Ansteckungsgefahr nicht gestattet (da mussten die Pathologen hinter vorgehaltenen Gesichtsschutzmasken herzhaft lachen, da sie in ihrem Geschäft ohnehin Alltag sind und durch penible Schutzmaßnahmen konterkariert werden) – an COVID-19 verstorbene Personen. Dabei stellten sie fast ohne Ausnahme fest, dass die Obduzierten wegen ihrer Vorerkrankungen, meist mit schweren Krankheitsbildern, dieses Jahr vermutlich auch ohne Corona nicht überlebt hätten.
Um eine Antwort dazu gebeten, ob die Zahl der vom Robert-Koch-Institut registrierten Corona-Opferzahlen die Differenz erfasse zwischen mit Corona-Infizierung und an Corona-Infizierung Verstorbenen, antwortete der die Pressekonferenz leitende Direktor des RKI, das sei eine rein akademische Frage. Angesichts der Zahlen aus New York, wo die Corona-Infizierten wie die Fliegen stürben, sei es doch offensichtlich, was geschehen könne, wenn man nichts unternehme.
Und so schaukelt die öffentliche Debatte hin und her zwischen der Annahme, dass die Zahl der in diesem Jahr zu zählenden Toten vermutlich nicht viel höher liegen werde als in Nicht-Corona-Jahren, und der Panik verbreitenden Kassandravermutung, die gesamte Generation der Rentner werde innerhalb weniger Monate ausgelöscht sein. Selbst Jaques der Fatalist, die Romanfigur des Aufklärungsenzyklopädisten Denis Diderot, war nicht in der Lage, die kommende Französische Revolution vorauszusagen. Dass im Land einiges nicht so ganz stimmte, das wusste er schon. Dass eine hohe, durch die Pandemie ausgelöste Rentnersterblichkeit zu einer radikalen Entlastung der Renten- und Pflegekassen führen wird und in den Pflege- und Altenheimen endlich ausreichend Plätze frei werden für die dort hineindrängenden geburtenstarken Jahrgänge, dürfte jedenfalls zu den gewagteren fatalistischen Utopien zählen.
Derweil rät uns ein taz-Kolumnist, wir sollten doch gefälligst damit aufhören, Pandemie-Tagebücher zu schreiben, bloß aus Langeweile, wegen der Quarantänetage, als Zeitvertreib. Die seien doch alle miteinander gähnend langweilig, immer dasselbe. Als ob es nichts Aufregenderes gäbe.
Da könne er sich richtig drüber aufregen.
Wenigstens einer, der sich nicht langweilt.
(19. April 2020)