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Ave Covid, morituri te salutant (7)

Was einem so alles durch den Kopf geht, wenn man sich wie in einem Belagerungszustand fühlt. Nicht nur vor langer Zeit einmal übersetzte Bücher fallen einem ein, wie Victor Serges Eroberte Stadt, ein Roman, in dem er die Situation von Sankt Petersburg schildert, nach dem „Sieg“ der Bolschewiki in der Oktoberrevolution. Wobei man, anders als es der Titel des Buches besagt, vielmehr von einer belagerten Stadt sprechen müsste, da unweit im Norden britische Truppen sich auf einen Angriff vorbereiten und überall im Land die diversen politischen Gruppen miteinander im Bürgerkrieg sind.

Auch wenn dieses Bild vom Belagerungszustand im „Krieg“ gegen das Corona-Virus hinten und vorne nicht stimmt, taucht plötzlich unverhofft aus dem Unbewussten eine Erinnerung auf, wie ich als Zwei- oder Dreijähriger erstmals im Leben eine ähnliche Situation erlebt habe, eine tatsächlich totale Ausgangssperre. Meine ältere Schwester war noch dabei, es muss also vor der Kinderlähmungsepidemie gewesen sein, denn da war ich vier und sie acht Jahre alt. Wir standen, Eltern, Opa, die ein paar Jahre ältere Schwester und ich, im ersten Stock am mit einem Tuch verhängten Fenster und linsten auf die Straße. Damit das von draußen nicht bemerkt wurde, musste vorher im Zimmer das Licht gelöscht werden, denn es war völlige Verdunkelung angeordnet. Draußen auf der Straße staute sich ein kilometerlanger Konvoi, von Militärfahrzeugen, Truppentransporter-Lkw, Kettenfahrzeugen, kleinen Panzern, Jeeps: französische Truppen bei einer Übung, ein Großmanöver im besetzten Saarland, der richtige Krieg war erst etwa fünf Jahre vorbei.

Meine Eltern waren nervös, das spürte ich, auch wenn ich noch nicht wusste, was echte Angst bedeutet. In meiner Fantasie sehe ich sie zittern, obwohl … als Bilder hab ich nur die Militärfahrzeuge im Kopf, die deshalb so lange auf der Durchgangsstraße vor dem Haus anhalten mussten, weil sie einen Panzer mit hohem Turm dabei hatten, der unter der Stromleitung, die über die Straße gespannt war, nicht so einfach hindurchpasste.

Ein paar Jahre lang lag neben der Straße und neben dem Bahngleis zwischen Völklingen und Saarbrücken in der dort vielleicht hüfthohen Saar ein Panzer auf der Seite, der bei diesem oder einem anderen Manöver vom glatten Kopfsteinpflaster abgerutscht und in den Fluss gestürzt war. Dieser havarierte Besatzerpanzer im Wasser rang den im Zug vorbeifahrenden Saarländern noch nach Monaten, solang er da lag, ein hämisches Lächeln ab – die Franzosen waren zu jener Zeit im Saarland keineswegs beliebt.

Aber wir sind heute in keiner Bürgerkriegssituation, und auch in keinem echten Belagerungszustand. Wir haben es lediglich mit einer Epidemie zu tun, und nur die unentwegt in allen Medien, ob Fernsehen, Radio, Zeitungen oder Internet, heruntergebeteten Ansteckungszahlen und Todesstatistiken und Vorsichtsmaßregeln und Selbstisolierungsempfehlungen und Maskenpflichten und Testreihen und was derlei durch den Äther schwebende Informationsfluten mehr sind, sie alle machen uns zunehmend Angst und verwirren sich in ihrer Vielfalt zu einem undurchschaubaren Zahlen- und Datengespinst, das alles Erdenkliche dazu beiträgt, uns infolge seiner Undurchschaubarkeit noch weiter in Panik zu versetzen.

Durchschaubarkeit wäre eine Möglichkeit, die tatsächlichen Probleme und Gefahren realistisch einzuschätzen, sich ein nüchternes Bild von der aktuellen Situation zu machen. Nüchtern, also eher unsentimental, lassen sich gesellschaftliche und historische Gegebenheiten unter rein statistischem Blickwinkel betrachten; Zahlen, die nur dann zu einem zynischen Ergebnis führen, wenn man sie als quasi natürlich, gewissermaßen gottgegeben, als unvermeidlich und unserem rationalen Eingreifen deshalb grundsätzlich entzogen ansieht. Wir sollten deswegen auf keinen Fall aus den Augen verlieren, dass sich mit solchen Milchmädchenrechnungen keine gesicherten Zukunftsvoraussagen treffen lassen, wie sie Bevölkerungsstatistiken zumindest dann nahelegen, wenn sie sich mit Hochrechnungen dynamischer Entwicklungen befassen und sich nicht, wie es ihnen ansteht, auf die Interpretation vergangener und insofern gesicherter Daten beschränken.

Die Milchmädchenrechnung, die sich bevölkerungsstatistisch aus einer Interpretation der uns in den letzten Wochen zugänglich gemachten Infektions- und Sterbedaten infolge der Corona-Epidemie für die nahe Zukunft ergibt, ist insofern ausgesprochen skeptisch zu bewerten. Es muss nicht so oder ganz anders kommen, es kommt vor allem darauf an, welche Rahmenbedingungen wir annehmen beziehungsweise, wie wir diese in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten potenziell verändern.

Die erste Annahme in allen gegenwärtigen Prognosen über den Verlauf der Epidemie heißt, dass zurzeit, und in nächster Zeit auch nicht, wirksame Medikamente zur Behandlung von Patienten, die an der durch COVID-19 verursachten Lungenentzündung leiden, zur Verfügung stehen (werden). Auch der die Seuche endgültig zum Stillstand bringende Impfstoff wird noch mindestens anderthalb Jahre auf sich warten lassen, vielleicht sogar noch länger.

Wenn wir davon ausgehen, dass die durch die Corona-Seuche verursachte Ansteckungswelle weitergehen wird, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung die Ansteckung hinter sich und infolge dessen eine relative Immunität gegen die Krankheit erworben haben, können wir aufgrund der Bevölkerungszahl von etwa 80 oder

81 Millionen in unserem Land und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ungefähr 8o bis 83 Jahren im Durchschnitt folgende Milchmädchenrechnung aufstellen.

Pi mal Daumen stirbt jedes Jahr 1 Prozent der Bevölkerung an den diversesten Krankheiten, oder an Altersschwäche. Bei einer Gesamtbevölkerung von 100 Millionen und einer Lebenserwartung von circa 82 Jahren wäre das pro Jahr 1 Million, bei 80 Millionen nur 800.000, aber mit 10 lässt es sich besser rechnen, Fehlerquote plus minus 10 bis 15 Prozent, das lässt sich verkraften, ist ja eh bloß ein Milchmädchen, das da rechnet, wie gesagt.

Die hauptsächlich von einem schweren bis tödlichen Verlauf der Corona-Vireninfektion Betroffenen sind summa summarum all diejenigen, die in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren in diese jährliche Sterberate eingehen werden. Da wir ja mit 10 rechnen wollen, können wir die kommenden Todeszahlen der Epidemie bei nicht verbesserten Heilungschancen und noch nicht erreichter Höchstgrenze von 60 bis 70 Prozent in den nächsten beiden Jahren mit etwa 10 Millionen Toten hochrechnen.

Alle Überlegungen zu den gegenwärtig empfohlenen sozialen Distanzeinlegungsstrategien zielen genau genommen auf eine Verlangsamung des Prozesses dieser Sterbeerwartungen.

Wenn wir von den vermuteten Ansteckungsraten ausgehen, die, wie wir jüngst erst gelernt haben, alleweil zehn Tage hinterherhinken, waren vor zwei Wochen etwa 800.000 Menschen in unserem Lande infiziert. Bei einer Verdoppelungsrate je 1 Woche und einer Aufrundung auf 1 Million haben wir in Woche zwei 2 Millionen, in Woche drei 4 Millionen, in Woche vier 8 Millionen, fünf 16, sechs 32, sieben 64 und … stopp! Da haben wir bereits die 60 bis 70 Prozent.

Mit anderen Worten: Bei ungebremster Ansteckungsrate ist der Spuck [sic] in zwei Monaten vorbei, die Leute, die sonst in den nächsten zehn Jahren sterben werden, sind alle miteinander tot, und das war’s dann, alles kann weitergehen. Zwei Monate Pause, das ist wie verlängerte Ferien, das kann der gewöhnliche Kapitalismus locker verkraften, und alles geht seinen gewohnten Gang, die Tränen der Trauer werden weggewischt, die Ärmel werden hochgekrempelt, und auf geht’s! Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt …

Das Hauptproblem, auch das wird uns laufend unverhohlen gesagt, ist, dass unser „Gesund“heitssystem auf derartige Sterbezahlen in so kurzer Zeit nicht vorbereitet ist.

Statt 1 Million Todkranker im Jahr kommt da das Zehnfache auf die Krankenhäuser zu. So viel fassen die Intensivstationen nicht, jedenfalls nicht auf einmal, und auch wenn wir die palliativ zu Betreuenden – bei einer durchschnittlichen Sterbe- oder Aufenthaltsdauer auf den Intensivstationen von zehn Tagen – auf 12 Monate oder 50 Wochen verteilen, wird es in den dafür vorgesehenen Einrichtungen eng. Auch eng wird’s, wie wir auf Bildern aus New York oder Oberitalien gesehen haben, in den Beerdigungsinstituten, den Leichenhallen und auf den Friedhöfen.

Von den für ein möglichst schmerzfreies und menschenwürdiges Ende unabdingbar notwendigen Atemgeräten, Sauerstoffschläuchen und Morphingaben erst gar nicht zu reden. Der Sterbeprozess muss verlangsamt werden, so weit verlangsamt, dass unser darauf ausgerichtetes „Gesund“heitssystem auch einigermaßen nachkommt.

So, oder vor allem so, ist unser aller Interesse an einer Verdoppelungsrate von 1 Komma 0 zu verstehen: dass jeder Infizierte seinerseits nur jeweils einen weiteren Mitmenschen mit dem Virus ansteckt. Eine Rate, deren Einhaltung durch „social distancing“ uns unsere mit dem Doktortitel in Physik perfekt vorgebildete Bundeskanzlerin dringend nahegelegt hat. Schon bei 1 Komma 1 bleibt uns nur noch ein Monat, bei 1 Komma 2 gerade noch 2 Wochen – und gar bei 1,3 steht sie uns morgen oder übermorgen bevor, die Katastrophe.

Ganz so wie bei dem Beispiel mit dem Gartenteich und den Seerosen. Angenommen, die Seerosenzahl verdoppelt sich jeden Tag, erst eine, dann zwei, dann vier Seerosen … und nun ist eine Weile vergangen, jetzt ist doch tatsächlich der halbe Teich voller Seerosen …Wie lange wird es dauern, bis der ganze Teich voller Seerosen ist? Tscha, wenn wir bloß damals in der Schule besser aufgepasst hätten, als die Sache mit dem Dreisatz durchgenommen wurde.

Zurzeit, so hat uns die Regierung in einer Pressekonferenz mitgeteilt, haben wir eine Verdoppelung etwa alle 30 Tage. Wenn wir demnach bei unserer Home-Quarantäne bleiben, gehorsam wie bisher, könnten wir unsere Sterberate von geschätzten zehn Millionen in sieben Wochen auf sieben bis zehn Monate strecken. Bis der Teich voll ist. Das würde bedeuten, dass unsere Intensiv- und Sterbestationen für den Rest des Jahres und ein paar Monate im nächsten Jahr nur etwa doppelt bis dreifach so viele Todkranke mit Morphin und Sauerstoff und Pipapo auf die letzte Reise begleiten müssen wie sowieso all die Jahre. Das wird, wie gesagt, eng, aber es müsste zu schaffen sein … Wie sagte sie: „Wir schaffen das.“ Wenn … ja, wenn … uns der schwarze Schwan der Börsianer, dieses unberechenbare, launische Untier, nicht doch noch völlig unerwartet einen dicken schwarzen Strich durch die Milchmädchenrechnung macht.

(16. April 2020)

Ave Covid morituri te salutant

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