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Ave Covid, morituri te salutant (2)

Wir zurzeit situationsgedrungen in halbwegs freiwilliger Quarantäne zu Hause Bleibenden gleichen zwar insofern den Protagonisten der ökolibertären Siebziger-Jahre-Utopie vom L’an zéro un, dem Jahr null eins, dass auch wir so gut wie jede Arbeit im wirtschaftlichen Raum eingestellt haben. Aber bislang zeigt sich kaum jemand geneigt, sich erfreut über das vorläufige Ende des Arbeitslebens im Sessel zurückzulehnen oder, wie die Nulleinser-Arbeitsverweigerer der Utopie, nun in den damals seltsam modischen blauen Latzhosen auf grünen Wiesen herumzustreunen mit einer Margerite zwischen den Zähnen, und fröhlich vor sich hin zu grinsen. Vor allem, wenn ihm jemand begegnet, der anscheinend noch nicht gemerkt hat, was die Stunde geschlagen hat, und offensichtlich noch in irgendwelche Vor-Corona-Arbeits-, Konsum- und sonstige Stresszusammenhänge verwickelt ist.

Dennoch verhilft uns die öffentlich verordnete komplette gesellschaftliche Arbeitspause zu (wer weiß) genügend Zeit, darüber nachzudenken, was denn überhaupt unbedingt produziert und gearbeitet werden muss, wie das die Nulleinser nach dem Totalstopp der Arbeitstretmühle in der Utopie als Hauptbetätigung neben dem Latzhosentragen und Mit-Blumen-im-Mund-in-freier-Natur-Umherschlendern sich angelegen sein lassen.

Sehr weit sind wir in unserer öffentlichen Diskussion über solche Fragen bislang noch nicht vorgedrungen. Immerhin ist fast allen deutlich geworden, dass in Zukunft unsere wirtschaftlichen Prioritäten etwas anders gesetzt werden müssen. Das betrifft vor allem die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Pflege. Jetzt, da der Mangel in diesen und anderen Bereichen überdeutlich geworden ist. Besser bezahlt werden sollen, heißt es allenthalben, in Zukunft all die, auf deren Leistungen wir, wie wir jetzt erfahren, dringend angewiesen sind. All die bislang mies bis bescheiden Verdienenden in den Pflegeberufen, die Kassierer und Kassiererinnen in den Supermärkten, die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, die Lagerhilfsarbeiter und die Lkw-Fahrer, die Briefträger und Auslieferungsfahrer und was derlei wenig geachtete und sonst auch kaum beachtete Berufsgruppen mehr sind, deren Arbeitsleistung aber nun in der Corona-Krise sich für uns alle unübersehbar als überlebensnotwendig für die Gesellschaft als Ganzes herausstellt.

Was wir sonst noch in Zukunft an unverzichtbaren gesellschaftlichen Dienstleistungen und an dringend fürs Überleben benötigten Produkten brauchen werden, wird sich erst in einiger Zeit genauer herauskristallisieren. Auch die Frage, was wir überhaupt nicht brauchen, jedenfalls nicht mehr unbedingt brauchen, worauf wir in Zukunft getrost verzichten können, wird sich erst nach und nach beantworten lassen. Aber einiges lässt sich bereits vorab vermuten, wir sollten schon mal anfangen, Listen aufzustellen. Was kann weg, was brauchen wir auf keinen Fall, und was wäre denn im Prinzip wünschenswert, und was nicht? Wie ja auch die Debatte langsam anfangen könnte, wie die Lohn- und Entgeltepalette entsprechend den gesellschaftlichen Prioritäten verändert werden sollte – muss ja nicht gleich so sein, dass unsere wackeren Müllmänner genauso viel verdienen wie die Fußballstars oder dass die Einkommen von Altenpflegern mit den Einkommen und Tantiemen von Topmanagern, Börsenspekulanten, Hedgefonds-Algorithmikern, Wohnungsmaklern, Promianwälten, Spindoktoren und Konzerneigentümern gleichziehen. Aber passieren muss da schon was.

Aber all das sind Dinge, über die in den nächsten Wochen nachzudenken uns unerwarteterweise etwas Zeit geschenkt worden ist. Nur genau jetzt denken wir erst einmal über anderes nach. Über etwas, das erheblich bedrohlicher ist. Wo uns, wie das alte Sprichwort sagt, das Hemd näher ist als der Rock. Und die große Angst, die uns alle streift, ist die Befürchtung, dieses Hemd könnte sich als unser Totenhemd herausstellen. Doch stellt sich neben diesem uralten Memento mori immer auch die Weisheit des „Carpe diem“ als unabweisbar heraus.

Allerdings: Auch dem stoischsten Vertreter der sarkastischen Fraktion, der seit Langem nach der Devise lebt „Vergnüge dich heute so, als sei es dein letzter Tag, denn wie Epikur sagt, der Tod geht uns nichts an, wenn der kommt, leben wir ja nicht mehr“ – diesem überzeugt pessimistischen Optimisten geht, wer hätte es gedacht, trotz der unabweisbar tröstlichen Gewissheit der Steiß gewaltig auf Grundeis, wenn es sich plötzlich herausstellt, dass genau heute das tatsächlich der letzte Tag ist. Und urplötzlich beginnen wir zu verstehen, wie es den Gladiatoren im alten Rom zumute gewesen ist, wenn sie in die Arena einmarschiert sind und dem Caesar das Ave der Morituri zuriefen.

Wer so wie meine Mitpatientinnen und -patienten und Leidensgenossinnen und -genossen seit Jahr und Tag dreimal die Woche frühmorgens im Foyer des Dialysezentrums darauf wartet, in die Hallen eingelassen zu werden, um dort an die Überlebensmaschinen der Blutwäschedialysatoren für Niereninsuffiziente angeschlossen zu werden, kann nach einiger Zeit ein Liedchen davon singen, wie man mit so einem Lebensgefühl auf Dauer umzugehen lernt.

(31. März 2020)

Ave Covid morituri te salutant

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