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PHILIPPA CARNOR LIEß sich auf der Bank nieder und machte die Beine lang. Ihre Füße schmerzten. Seit dem frühen Morgen war sie auf den Beinen. Es war ärgerlich, dass es mit dem Campingplatz von Mestre nicht geklappt hatte. Der Platz war schon überbelegt. Die Erkenntnis, dass sie frühzeitig telefonisch einen Platz hätte reservieren sollen, nützte ihr nichts. Die Erkenntnis, dass es Unsinn war, im Alleingang durch Italien zu strolchen, noch weniger.

Ihr kleiner Renault stand auf der Parkplatz-Insel Tronchetto. Ihr spärliches Gepäck, vorwiegend aus einem kleinen Einmann-Zelt, ein paar Blusen und T-Shirts, Ersatzjeans und einer Packung Waschpulver bestehend, passte in eine große Reisetasche und stand in einem Schließfach am Bahnhof. Sie hatte auf Nummer sicher gehen wollen und nicht alles im Auto lassen wollen. Philippa strolchte durch die Stadt, schaute sich die Sehenswürdigkeiten erst einmal von außen an und hielt gleichzeitig Ausschau nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Sie hatte vor, wenigstens zwei, drei Tage in Venedig zu bleiben. Denn schließlich wollte sie alles sehen. Und das ließ sich nicht in ein paar Stunden abhaken.

In einem Hotel wollte sie nicht absteigen. Die Preise von fast mehreren hundert Euro für schlechte Unterkunft aufwärts bis zu exorbitant hohen Summen schreckten sie ab. Sie musste mit ihrem Geld haushalten. Als Lehrling im dritten Jahr verdiente sie nicht gerade fürstlich.

Die Jugendherberge war zwar vom Preis her mehr als akzeptabel, bloß störten da die Schließungszeiten, an die sich ein Mädchen in Philippas Alter nur ungern hielt. Und zudem hatte sie ein Anruf davon überzeugt, dass auch die Herberge ausgebucht war. Venedig platzte aus allen Nähten, so wie es aussah – also Pech auf der ganzen Linie. Das kam davon, wenn man „Abenteuerurlaub“ machen wollte. Heute hier und morgen da, hatte sie sich zu Beginn der Reise vorgenommen, und die ersten Tage hatte das prima geklappt. Aber jetzt musste sie zu ihrem Leidwesen feststellen, dass das nur in den weniger vom Massentourismus berührten Gegenden funktionierte.

Jetzt musste sie sehen, wie sie sich durchschlug. Am einfachsten mochte es sein, auf einer der Inseln „wild“ zu campen: am besten erst im Schutz der Dunkelheit das Zelt aufbauen und es noch in der Morgendämmerung wieder abbauen. Parks gab es hier überall genug.

Vielleicht sollte sie auch einen Abstecher zum Lido machen. Es reizte sie, ein erfrischendes Bad im Meerwasser zu nehmen. Entsprechend ausgerüstet war sie. Den Bikini trug sie unter ihrer Kleidung; insgeheim liebäugelte sie aber damit, dass das Gerücht stimmte, dass es am Lido auch einen abgezäunten Bereich für Nacktbader gäbe. Andererseits war das im stockkatholischen Italien doch etwas unwahrscheinlich ...

„Mal sehen“, sagte sie halblaut und erhob sich wieder. Vom Markusplatz aus führte eine Vaporetto-Linie direkt zum Lido, der vorgelagerten Badeinsel Venedigs, die die Lagunenstadt eigentlich erst von der Adria trennte. Philippa schlenderte an der Wasserkante vorbei zu den Anlegestellen und versuchte sich zu orientieren. Sie sprach und las einigermaßen gut Italienisch, aber in diesem Touristengewühl, in dem lauten Stimmengewirr und dem Schieben und Drücken von allen Seiten, da gerade drei der Wasserbusse zugleich ihre Fahrgäste an der Endstation ausspien, fiel es ihr doch ein bisschen schwer.

Eine Hand berührte sie.

Ein Taschendieb!, durchzuckte es sie. Sie wirbelte herum und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der sofort zurückwich. „Mi scusi, signorina“, brachte er hervor. „Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht anrempeln.“

Sie musterte ihn. Er war Italiener, gerade so groß wie sie selbst, und trug einen dünnen Schnurrbart, dessen Enden nach oben gebogen und eingerollt waren. Er mochte etwa zwanzig Jahre alt sein. Sein Gesicht war auf den ersten Blick etwas zu kantig, und seine Augen ...

Warum kann ich seine Augenfarbe nicht bestimmen?, wunderte Philippa Carnor sich.

„Schon gut“, winkte sie ab. „Es hat ja nicht wehgetan.“ Wenn er versucht hatte, sie zu bestehlen, hatte er Pech. Geld und Ausweispapiere trug sie in einem winzigen Fach am Innenleder des Stiefelschafts. Da hatten sogar Experten Pech, die sich darauf spezialisiert hatten, blitzschnell Brustbeutel abzuschneiden und damit in der Menge zu verschwinden.

„Sie sehen so verloren aus, signorina“, sagte der Italiener im quergestreiften T-Shirt. „Kann ich Ihnen helfen? Sie sind doch tedesca, Deutsche, nicht wahr?“

„Si, aber Sie brauchen sich nicht die Zunge abzubrechen. Ich beherrsche Ihre Sprache ein wenig“, sagte sie auf Italienisch.

Der junge Bursche stellte sich vor. Luigi Campa nannte er sich. Und er schaffte es, mit einem gewinnenden Lächeln Philippa zu einem Espresso einzuladen, natürlich am Markusplatz, wo’s besonders teuer war.

„Die Einladung nehme ich gern an ..., aber wenn du mir damit imponieren willst, wie viel Geld du besitzt, bist du auf dem falschen Dampfer.“

„Aber wo werd’ ich denn ... ist es nicht ganz normal, Geld zu haben, Philippa? Ich habe so viel davon, dass ich es ausgeben muss. Morgen kommt es ja doch aus der Mode.“

Unwillkürlich musste Philippa lachen. „Aber es gibt doch bestimmt sinnvollere Möglichkeiten, es auszugeben, als ausgerechnet in diesem Touristen-Nepp-Bereich!“

Jetzt war es Campa, der lachte, während der Espresso und die Rechnung gebracht wurden. Mit nonchalanter Lässigkeit blätterte er die Euro-Scheine auf den Tisch. Anderswo hätte man für diesen Betrag zu den zwei Espressos auch noch ein annehmbares Essen bekommen. Die Exklusivität, vor einem der Cafés am Markusplatz in der Sonne zu sitzen und den musikalischen Gehversuchen eines Stehgeigers und dem Gurren der Tauben zu lauschen, hatte eben ihren Preis.

„Lass mir das Vergnügen, Philippa ... es ist ja auch für mich Vergnügen, das Geld zu scheffeln.“

Sie hob die Brauen. „Nach einem Millionär siehst du nicht gerade aus ... Pardon ...“

Luigi handelte in Florenz mit Uhren und Schmuck, wie er erklärte, und das in einer Preiskategorie, die sich nur die High Society leisten konnte. Entsprechend hoch waren Umsätze und Gewinne. Mal eben innerhalb weniger Stunden umgerechnet zehntausend Euro zu verdienen, musste für Campa eine Kleinigkeit sein.

Trotzdem kam er ihr ein wenig jung für diesen Beruf vor. Aber dann verdrängte sie diese Gedanken wieder. Sie nahm es, wie es kam, und warum sollte sie sich von dem jungen Florentiner nicht zum Espresso einladen lassen?

Ein Stück Kuchen kam hinzu, und sie blieben im Gespräch. Er erfuhr, dass sie auf ungeplanter Urlaubsreise war und Pech mit der Unterkunft hatte. Großzügig bot er ihr an, ein Zimmer in seinem Hotel zu beschaffen – auf seine Kosten natürlich.

Das lehnte sie entschieden ab. Sie hegte die Befürchtung, dass Campa dafür einen Preis fordern würde, den sie zu zahlen nicht bereit war, und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar. „Ich habe prinzipiell nichts gegen Sex, aber meinen Partner suche ich mir grundsätzlich selbst aus. Du bist zwar ein lieber Junge, mir aber doch ein bisschen unheimlich. Also vergiss es.“

Er lachte wieder. „Von Sex hast du gesprochen, Philippa. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ein Mann auch uneigennützig helfen möchte, wenn er ein schönes Mädchen sieht? So ganz ohne Hintergedanken, gibt es das in deiner Welt nicht?“

„Nein ... das habe ich noch nie erlebt. Danke für Espresso und Kuchen, aber jetzt möchte ich doch weiter. Ich will noch was von Venedig sehen, ehe die Sonne untergeht.“

„Ich kann dir Venedig zeigen ... und auch die anderen Inseln! Du wirst Dinge sehen, die kaum ein Tourist jemals zu sehen bekommt.“

Sie erhob sich.

„Ich denke, du wohnst in Florenz! Und da kennst du dich in Venedig so gut aus, dass du Fremdenführer spielen willst?“

„Ich kenne Florenz, ich kenne Venedig, ich kenne Rom ...“

Trotzdem lehnte sie ab und verschwand in der Menge. Sie ging nicht zur Anlegestelle, obgleich sie sich ein Bad am Strand von Lido plötzlich mehr denn zuvor wünschte. Ihr war, als müsse sie etwas abspülen, das seit ihrer Begegnung mit Campa an ihr haftete. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, ob dieses Etwas wirklich unangenehm war. Campa sah gut aus, war höflich und konnte sympathisch lachen, aber dennoch war er ihr in den letzten Minuten unheimlich geworden.

Sie bewegte sich durch schmale Seitenstraßen. Hier waren rechts und links die Schaufenster der Geschäfte, die Murano-Glas in tausend Variationen verkauften, von dekorativen Weinpokalen über riesige Kristalllüster bis zu Kitschfigürchen. Man konnte alles zu jedem Preis bekommen, je nach Geschmack und Geldbeutel.

Und es wimmelte von Touristen.

Philippa schob sich zwischen ihnen durch, überquerte den Rio di San Moisè und den Rio dell’Albero, wandte sich nach links und stand nach hundertfünfzig Metern wieder am Canal Grande. Hier gab es eine Anlegestelle. Sie fuhr mit dem Vaporetto wieder zum Markusplatz zurück und sah sich nach einem anderen Wasserbus um, der sie zum Lido bringen konnte.

Falls Luigi Campa sie verfolgt hatte, hatte er sie verloren. Denn als sie den Wasserbus bestieg, hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Sie löste ein neues Ticket und war wenig später unterwegs. Der Lido und ein erfrischendes Bad am Strand erwarteten sie.


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