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Schlüsselrolle:
Free Jazz

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»Mein Bruder Ulrich, der heute Musiklehrer ist, hat damals zu mir gesagt, ›sag mal, hörst du immer noch Dixieland?‹ Ich antwortete, ›na, und was hörst du?‹ Er sagte nur, ›Free Jazz‹. Das war ein Schlag ins Gesicht … das ging zur Sache.«

– Peter Leopold –

Für viele bietet der moderne Jazz neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zur ersten Riege deutscher Jazzmusiker, die einen entscheidenden Schritt in Richtung progressiver Formen und Spielweisen wagen, gehören Mitte der Sechziger unter anderem der Pianist und Komponist Wolfgang Dauner, der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Saxofonist Peter Brötzmann. Doch auch der Jazz, einst Synonym geistig-musikalischer Freiheit, droht in bürgerlicher Spießigkeit zu verkrusten: »Jazz ist zum Kulturgut stilisiert und damit in den Konsumprozess bürgerlicher Kunstverwalter integriert worden«, wettert der Publizist Rolf-Ulrich Kaiser 1969 in seinem Buch der neuen Pop-Musik. Der Begriff ›Jazz‹ stehe für »die Überreste einer vormals spontanen und vitalen Kreativität. Jazz hört man sich in luxuriösen oder wenigstens erhabenen Sälen an; extra dafür zubereitet, gepudert, parfümiert und frisiert wie für einen Opernbesuch.« Wie Kaiser können sich viele Fans und Musiker mit der akademischen Schlips-und-Kragen-Mentalität mancher Veranstaltungen nicht mehr identifizieren. »Die normale (Jazz-) Szene in den Sechzigern war konservativ«, sagt Christian Burchard. »Die haben gespielt, was gerade gefragt war – Standard-Jazz.«

In »angesagten« Lokalen wie dem Ulmer Jazzkeller hingegen legt man großen Wert auf ein fortschrittliches Programm. Unter den regelmäßigen Besuchern ist auch der junge Hellmut Hattler: »Nachdem wir mit fünfzehn, sechzehn Beat und Soul abgehakt hatten, waren wir fasziniert von der Free-Jazz-Szene. Über gemäßigte Sachen wie Albert Ayler und John Coltrane haben wir uns dann in die Extreme reingehört – das war eine Zeit lang eine sehr intensive Hör- und Verarbeitungsgeschichte.«

Wegbereitern wie Coltrane, Coleman, Eric Dolphy, Sun Ra oder Pharoah Sanders folgend, experimentieren deutsche Gruppen mit freier Tonalität, dissonanten Akkorden, neuen Spieltechniken und einer geradezu ekstatischen Intensität – und wagen sich so auf ein Terrain vor, das auch für die Jazz-Nation USA noch größtenteils Neuland ist. »Meiner Ansicht nach wurde der Free Jazz in den Clubs von Köln erfunden« sagt Hans-Joachim Irmler. »Er hat sich dann nach New York fortgepflanzt und ist später als Neuheit aus Amerika verkauft worden.« Diese These mag zwar einigermaßen gewagt klingen, doch ganz Unrecht hat der Faust-Orgler damit nicht: Während der Sechzigerjahre bildet sich ein europäischer Free Jazz heraus, an dessen Entwicklung deutsche Musiker wie Brötzmann, Gunter Hampel, Joachim Kühn, Manfred Schoof oder Alexander von Schlippenbach maßgeblich beteiligt sind.

Der oft auch als »Avantgarde-Jazz« bezeichnete Stil bietet endlich eine Möglichkeit, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. In einer Konzertbesprechung aus dem Jahre 1969 schreibt die Ulmer Schwäbische Zeitung über die neu gegründete Veith Wolbrandt Group, aus welcher später Kraan hervorgehen soll:

»Die Gruppe nimmt bekannte Themen und variiert sie im eigenen Arrangement zu dem Sound, den sie für richtig hält. Dabei gelingt es ihnen, den Stil der ›Kinder von Marx und Coca Cola‹ zu interpretieren. Gitarre und Querflöte simulieren Drogenrausch, unterbrochen von dem harten Schlagzeug und dem Bass. Den Melodieinstrumenten gelingt es immer wieder, eine ›verträumte‹ Atmosphäre zu schaffen.«

Dem Free Jazz komme für die Entwicklung der deutschen Rockmusik »eine Schlüsselrolle als musikalische und soziale Revolution zu«, betont Roman Bunka. »Es war ein sehr starker Einfluss. Free Jazz war ein Mythos.« Ein Mythos, der eine sehr reale Wirkung entfaltet: Das bequem gewordene Jazzpublikum zeigt sich von den schrillen Tönen zu beiden Seiten des Atlantiks gleichermaßen schockiert. »The New Thing« ist nicht nur Musik, sondern auch lautstarker Protest einer jungen Generation gegen soziale Ungerechtigkeit und verstaubte Konventionen. Die jazzbegeisterte deutsche Jugend nimmt diesen Ansatz mit Feuereifer auf. Hellmut Hattler: »In der Jugend ist alles voller Leidenschaft … Es gab damals eine Band namens Progressive Jazz Group Ulm. Auf dem Plakat war mein entblößtes Hinterteil mit einer Zigarette drin zu sehen. Das war schon unglaublich.«

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