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Оглавление1. Bundesrepublik-Blues:
Schlagermuff und Nazi-Erbe
»Die Kriegsgeneration war von allem abgeschnitten. Wenn sie besoffen waren, haben sie vom Krieg geredet und von den Gräueltaten. Danach setzte der Verdrängungsmechanismus wieder ein.«
– Hellmut Hattler –
»In Deutschland gab es eine Schlagerkultur, und alles, was neu war, kam am Anfang aus anderen Ländern, auch die Protagonisten der elektrischen Musik.«
– Roman Bunka –
Neubeginn in Trümmern:
Die »Stunde Null«
Nach Kriegsende steht die deutsche Musikindustrie vor einem schwierigen Neubeginn: Es herrscht nicht nur ein akuter Mangel an Gerät und Material, sondern schlicht auch an »politisch korrekter« Musik.
Unter der Herrschaft der Nazis wurden jüdische Musiker wie die Comedian Harmonists mit Auftrittsverbot belegt oder im Konzentrationslager ermordet, andere (etwa Walter Jurmann, Autor von »Veronika, der Lenz ist da«) konnten rechtzeitig emigrieren. Mit ihnen verschwand die frivole Leichtigkeit und Freiheit der »Wilden Zwanziger« aus Text und Musik. Der Schlager fiel der Gleichschaltung zum Opfer und wurde fortan als Propagandainstrument missbraucht. Noch kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« versuchte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vergeblich, über den Äther die Stimmung zu heben – und machte dabei an sich harmlose Titel wie »Davon geht die Welt nicht unter« oder »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« zu beschwingten Durchhalteparolen.
Als Ende 1945 die ersten Rundfunkstationen den Sendebetrieb wieder aufnehmen, erhebt sich auch die Schallplattenindustrie langsam aus den Trümmern und versorgt den deutschen »Otto Normalverbraucher« (verkörpert von Gert Fröbe in dem Spielfilm Berliner Ballade) zunächst mit leichter Kost: »Wer soll das bezahlen?«, fragt man sich in »Trizonesien«, wie das dreigeteilte Westdeutschland in einem beliebten Stück scherzhaft genannt wird. Der Schlager ist nun ein willkommenes Mittel, die oft hoffnungslose eigene Situation für ein paar Minuten zu vergessen, wenn auch nicht ganz ohne Galgenhumor.
Mit der Vergangenheit versucht man recht und schlecht abzuschließen, um nicht zur Salzsäule zu erstarren. Irmin Schmidt, Organist der Kölner Gruppe Can, erinnert sich: »Ich bin 1937 geboren, zu Kriegsende war ich acht Jahre alt. Von einem Tag auf den anderen bin ich in Nürnberg gelandet – nur Ruinen, wohin man blickte, und es stank grässlich. Wenn man als einzige Erinnerung das Berlin von früher hatte oder Salzburg, war das ein großer Schock, der fürs Leben reicht.«
Vakuum im Wirtschaftswunderland
Während der langen Adenauer-Ära bleibt die Vergangenheitsbewältigung tabu. Der Blick zurück auf die Wurzeln der eigenen Kultur ist durch deren Missbrauch und Pervertierung verstellt; eine Mauer des Schweigens trennt die musikalischen Errungenschaften der »Goldenen Zwanziger« oder die Berliner Jazzszene der späten Dreißigerjahre von der Gegenwart. Für neue, eigene Impulse fehlt der besiegten Nation noch das Selbstbewusstsein. In der Bundesrepublik entsteht ein kulturelles Vakuum.
Mit Nazi-Deutschland ist die deutsche Kultur somit nicht nur untergegangen – »Adolfs langer Arm«, wie sich der Musiker Heinz-Rudolf Kunze einmal ausdrückte, verhindert auch ihre Wiederauferstehung. »Wir stammen aus einer Generation, die, als sie anfing, Kunst wahrzunehmen, in einem Trümmerhaufen stand«, sagt Schmidt. »In einem Land, dessen gesamte Kultur so aussah wie die Städte: zerstört, abgeschafft.« Deutschland sei nach dem Dritten Reich »an einem kulturellen Nullpunkt angelangt«, bestätigt der ehemalige Missus-
Beastly-Gitarrist Roman Bunka. »Ich denke, dass es eine große Rolle spielte, dass man auf einer verwüsteten Kultur aufbaute.«
Fluchtverhalten in verschiedensten Ausprägungen – ob in den Alkoholismus oder in die Science-Fiction-Welten eines Perry Rhodan – ist für die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik symptomatisch. Konsum wird zur fast kultischen Ersatzhandlung. Man reist im Goggomobil oder im Käfer nach Italien, frisst sich mit Eisbein und Klößen die Bäuche dick und »ist wieder wer« – froh, noch einmal davon gekommen zu sein.
Die heile Welt der neuen Wohlstandsgesellschaft findet in der populären Musik jener Tage ihr Abbild: Das »Volkslied der Demokratie«, wie der Publizist Helmuth de Haas den Schlager einmal bezeichnete, verklärt mit unkritischen Idyll-Klischees von Heimat und Liebe den Alltag in der jungen Bundesrepublik. Während in den frühen Fünfzigern der Rock’n’Roll bereits den Unmut der amerikanischen Elterngeneration auf sich zieht, begleiten hierzulande Künstler wie Peter Alexander und Margot Eskens die Deutschen auf ihrem Weg ins Wirtschaftswunderland. Zum geflügelten Wort wird der Titel eines Cha-Cha-Stücks von Hazy Osterwald: »Geh’n sie mit der Konjunktur«.
»Keine Experimente«:
Braune Altlast und Doppelmoral
»Mein Opa hat immer gesagt, ›Ei wie nett, der Peter im KZ‹ – und ich rüttelte an den Gitterstäben.«
– Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül –
Nach dem enormen Schwung der Anfangsjahre weist das System der Kanzlerdemokratie Ende der Fünfzigerjahre erste Anzeichen der Erstarrung auf. »Keine Experimente« lautet 1957 der Wahlslogan der regierenden CDU. Diese Politik der Bewahrung ist begleitet von einem aggressiven Antikommunismus und einer offensichtlichen Blindheit auf dem rechten Auge: Nicht selten gelangen belastete Personen in der jungen Bundesrepublik wieder in Führungspositionen. »Als ich in den Sechzigern Musikwissenschaften studiert habe, hat unser Professor Sprüche gemacht wie ›Die Afrikaner haben größere Schädeldecken und eine kleinere Gehirnmasse‹«, erzählt Embryo-Gründer Christian Burchard. »In seiner Vorlesung! Für den waren das Primitive. Das war noch der Nazi-Gedanke.« Braunes Gedankengut gedeiht unterschwellig weiter an Schulen, in Familien und in Betrieben. Hans-Joachim Irmler erinnert sich an die unerträgliche Doppelmoral jener Jahre:
»An der Schule herrschte Zucht und Ordnung. Die Rektoren und die Richter waren alles ehemalige Nazis, die erstaunlicherweise von heute auf morgen entnazifiziert waren. Man durfte den Vater nicht fragen, wie es im Krieg gewesen war, und den Opa auch nicht. Natürlich wollten wir uns von diesem ganzen Wust befreien, diesem ganzen Dritten Reich, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand sprechen durfte. Das war eine heftige Altlast.«
»Halbstarke« und »Negermusik«
Die traumatisierte Nachkriegsjugend passt sich der Kultur der Besatzer an. »Deutschsein« gilt als verpönt, Amerika und technischer Fortschritt werden zum Synonym für eine lebenswerte Zukunft. In der Schlagerindustrie hat man den Kontakt zur Jugend längst verloren. Musik und Text werden nach Vorkriegsmuster an der neuen, kaufwilligen Zielgruppe vorbeiproduziert, die sich ihre »Negermusik« lieber aus Übersee holt. Wer die eigenen Platten nicht in der Musiktruhe der Eltern abspielen darf, weil im Wohnzimmer Onkel und Tante beim Kaffee sitzen, trifft sich sonntagnachmittags in Vereinsheimen oder im örtlichen Gemeindehaus zum Musikhören und Tanzen. Der tragbare Plattenspieler wird zum Statussymbol, Opas Dampfradio stellt über Radio Luxemburg oder AFN (American Forces Network, der Rundfunk der US-Armee) den Kontakt zur Welt außerhalb des deutschen Schlagersumpfs her.
Im Jahre 1955 schießt Bill Haleys »Rock Around the Clock« aus dem Film »Saat der Gewalt« an die Spitze der deutschen Hitparade. Obwohl bald auch deutsche Interpreten wie Peter Kraus (»Sugar Sugar Baby«) oder Ted Herold (»Moonlight«) eine brave Variante des Rock’n’Roll präsentieren, bleiben sie doch Imitationen. Als Haley drei Jahre später als erster amerikanischer Rock-’n’-Roll-Star auch in Deutschland auftritt, zeigt sich das andere Gesicht einer Jugend, die nicht in den Schemata einer sich selbst verleugnenden Kriegsgeneration verharren will, sondern aufbegehrt: In Essen, Hamburg, Berlin und Stuttgart kommt es zu Tumulten, Stühle werden zertrümmert. Der Rheinische Merkur nennt Haley einen »Komet der Triebentfesselung«. Allein im Berliner Sportpalast entsteht ein Schaden von über 50.000 Mark – jenseits der Mauer süffisant kommentiert vom SED-Organ Neues Deutschland, das in den Ausschreitungen eine »Orgie der amerikanischen Unkultur« sieht. »Rock Around the Clock« wird zur Halbstarken-Hymne, die US-amerikanischen Rock’n’Roller zu neuen Jugendidolen, welche mit Texten über Teenager-Nöte und Freizeitspaß gegen den Mief der Fünfziger ansingen – eine Stellvertreterfunktion, die das Genre Rockmusik bis zum Punk der späten Siebziger kennzeichnen soll.
Der Staat steht dem neuen Lebensgefühl seiner Jugend hilflos gegenüber. Häufig kommt es zu Überreaktionen gegen Subkultur und »linke« Presse. Im Oktober 1962 gehen die Behörden mit der Begründung des Landesverrats rücksichtslos gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel und seinen Herausgeber Rudolf Augstein vor. In der »Spiegel-Affäre« sehen viele eine ernste Bedrohung von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Als sich ein wirtschaftlicher Einbruch zum Ende des Nachkriegsbooms zur handfesten Regierungskrise ausweitet, zieht ausgerechnet die 1964 gegründete NPD mit überraschenden Wahlerfolgen ihren Nutzen daraus. Im Herbst 1966 wird eine Große Koalition zur Überwindung der Krise gebildet.
Mit den ersten Erfolgen der Beatles in Deutschland – und insbesondere durch die deutschen Versionen von »I Wanna Hold Your Hand« (»Komm gib mir deine Hand«) und »She Loves You« (»Sie liebt dich«) – öffnet sich der bürgerliche Publikumsgeschmack während der Sechziger immer mehr für internationale Popmusik. Die Musikbranche trägt dieser Entwicklung Rechnung, indem sie ausländische Interpreten mit unüberhörbarem Akzent deutsche Liedchen trällern lässt. »Memories of Heidelberg« wird für Peggy March 1967 zu einem Riesenerfolg, aber auch der ehemalige Jazzsänger Bill Ramsey, Esther Ofarim, Wencke Myhre oder Connie Francis profitieren von der neuen Masche. Die Abkehr der Jugend von dem zum Inbegriff des Spießertums verkommenen Schlager ist trotzdem nicht mehr aufzuhalten.
Wurden zu Anfang des Jahrzehnts noch die meisten Nummer-eins-Hits in deutscher Sprache gesungen, so sinkt deren Anteil in den Folgejahren auf unter zehn Prozent. Der Musikjournalist und spätere Krautrock-Produzent Rolf-Ulrich Kaiser fällt ein hartes Urteil über die Drahtzieher der Schlagerbranche: »Zu satt, zu fett, zu alt«. Eine neue Richtung, an der sich die junge Generation musikalisch orientieren könnte, hat sich in Deutschland noch nicht entwickelt. Von Hamburg aus, wo englische Bands harte Lehrjahre in den dortigen Clubs absolvieren, erobert schließlich der britische Beat den Markt.
Identifikationsmodell Beat
»Die englischen Beat-Gruppen haben etwas Neues gemacht«, erinnert sich Roman Bunka. »Ich weiß noch deutlich, wie die ersten Sendungen des Beat-Club im Fernsehen kamen, die wir begeistert verfolgt haben.« Als am 25. September 1965 die erste Folge des legendären TV-Formats von Radio Bremen live ausgestrahlt wird, beginnt eine mediale Durchsetzung der jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich wohl nur noch mit der Wirkung von MTV in den Achtzigern vergleichen lässt. Die Stars aus Großbritannien und Übersee flimmern erstmals zum Greifen nah über die Bildschirme der Wohnstuben. Musik, Kleidung, Instrumente, Haarschnitte sind nun direkt erlebbar und ergeben das Gesamtbild einer neuen Kultur, die zum Vorbild für die deutsche Jugend wird – auch für Bunka: »Das war DIE Serie, wo zum ersten Mal Beatmusik im Fernsehen kam. Meine Mutter hat voller Entsetzen ein paar Kommentare dazu abgegeben. Ein paar von den Jungs mochte sie aber auch. Es gab eben die Guten und die Bösen. Die Pretty Things waren die Bösen.«
Auf deutschen Bühnen tummelt sich englischer Pop-Import, Jugendliche feiern fanatisch ihre Idole. Die bürgerliche Gesellschaft ist angesichts dieser neuen Hysterie verunsichert. Lothar Stahl, späterer Schlagzeuger der Karlsruher Checkpoint Charlie, erinnert sich:
»Hauptsächlich sind damals englische Bands rübergekommen, da war es immer voll. Alle Kids sind hingerannt. Die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, wo drei-, viertausend Leute hineingehen, war übervoll, und es standen nochmal ein paar hundert, vielleicht tausend Leute vor der Tür. Dann wurde die Halle gestürmt. Wir sind als Kids um die Halle gekreist und haben geguckt, wo man noch reinkönnte, ob vielleicht einer ein Klofenster offen gelassen hat oder sowas. Irgendwann ging eine Scheibe zu Bruch, dann kamen sie mit Hundestaffeln und haben angefangen, alles abzusichern.«