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a) Persönlichkeitsmängel
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Persönlichkeitsmängel müssen entscheidend zur Begehung der Tat beigetragen haben, im Zeitpunkt der Entscheidung noch vorhanden sein und bereits „vor der Tat im Charakter des jugendlichen oder heranwachsenden Täters, wenn auch verborgen, angelegt sein“ (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 1, 2 und 5; BGH GA 1986, 370; OLG Hamm StraFo 2006, 425). Problematisch ist dabei, dass aus dem breiten Spektrum der Entstehungszusammenhänge von Jugendkriminalität nur der individualbezogene Erklärungsansatz berücksichtigt und zudem noch auf Anlage und Charakterbildung reduziert wird. Um wenigstens ansatzweise Umwelteinflüsse und soziale Mängellagen berücksichtigen zu können, wollte der Arbeitsentwurf zum JGGÄndG v. 30.8.1982 die Formulierung verwenden: „Gefährdung oder Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung von einem Ausmaß (...), dass die weitere Begehung nicht unerheblicher Straftaten zu befürchten ist.“ Dieser kriminologisch immer noch viel zu einseitige Reformansatz war bereits im Referentenentwurf 1983 wieder aufgegeben worden, und dann erneut durch einen aktuellen Gesetzesentwurf des Bundesrates(vgl. BT-Drucks. 15/3422 v. 24.6.2004) eingebracht worden. Hierzu können die oben aufgeführten Argumente nur erneut hervorgehoben werden. Ebenso kritisch Walter und Wilms in NStZ 2007, 6.
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Die für die Annahme von schädlichen Neigungen erforderlichen Persönlichkeitsmängel müssen für alle drei Phasen festgestellt werden, und zwar für die Zeit vor, während und nach der Tat, BGH NStZ-RR 2019, 159. Maßgebend ist eine sog. „psycho-soziale Täterdiagnose“, wobei die eher medizinische Terminologie kriminologisch problematisch ist. Relevante Faktoren sind die Persönlichkeit und die soziale Situation. Der bisherige Lebensweg in Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit und Freizeit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse sind zu berücksichtigen. Auf Ansätze für positive Entwicklungen (z.B. Umzug nach der Tat ohne weitere Auffälligkeiten, BGH StraFo 2003, 207) ist ebenso zu achten wie darauf, dass vieles, was aus der Erwachsenenperspektive als Persönlichkeitsmangel definiert wird, tatsächlich ein normales Phänomen in einer biologischen, psychischen und sozialen Übergangssituation ist. Normverstöße als Grenzüberschreitungen, Auflehnung und Protest zählen dazu. Die Orientierung an der „Clique“ allein genügt nicht, um schädliche Neigungen anzunehmen (BGH Beschl. v. 9.7.1997 – 2 StR 315/97 bei NStZ 1998, 289 [Böhm]); ebenso wenig, wenn der Jugendliche im Berufsleben noch nicht Fuß gefasst hat (BGH Beschl. v. 13.11.2013 – 2 StR 455/13). Andererseits kann der Verzicht auf weitere Drogengeschäfte und die Loslösung von der Bande Zweifel am Fortbestehen schädlicher Neigungen entstehen lassen, BGH StV 1998, 331; ebenso bei aus eigenem Antrieb erfolgtem Rückzug von kriminellen Aktivitäten, BGH Beschl. v. 10.1.2006 – 3 StR 263/05.
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Bei einer so verstandenen Prüfung, ob der junge Straffällige auf Grund vorhandener Sozialisationsdefizite erziehungsbedürftig ist, wird sich nur selten ein Erziehungsbedarf ergeben. Dieses Ergebnis entspricht neueren kriminologischen Erkenntnissen (Rössner 1990, S. 23) und wird auch vom Gesetzgeber berücksichtigt, der ausdrücklich betont, dass Kriminalität im Jugendalter meist kein Indiz für ein erzieherisches Defizit ist (BT-Drucks. 11/5829, 1). Nach dem OLG Hamm hat das erkennende Gericht insoweit darauf abgestellt, dass der Angekl. sich auch durch die Verbüßung wegen Volksverhetzung verhängten Dauerarrestes nicht hat davon abhalten lassen, zeitnah die Straftat nach § 86a StGB zu begehen. Deshalb ist auch auszuschließen, dass gruppendynamische Zwänge als jugendtypisches Phänomen den Angekl. zu der verfassungsfeindlichen Äußerung veranlasst haben könnten. Die Einschätzung des erkennenden Gerichts, dass bei dieser Sachlage und unter Berücksichtigung des von dem Angekl. bei der Begehung der Körperverletzung gezeigten Verhaltens ohne die nachhaltige erzieherische Einwirkung der Jugendstrafe weitere (gleichartige) Straftaten von Gewicht zu erwarten sind, sei deswegen nachvollziehbar (OLG Hamm NStZ 2007, 46). Bei einer Ersttat werden grundsätzlich noch keine schädlichen Neigungen festgestellt werden können (BGH NStZ-RR 2002, 20 – Überwindung der hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten; BGH NStZ 1984, 413; BGH StV 1982, 335, der aber auf die Möglichkeit seltener Ausnahmen hinweist; BGH Beschl. v. 3.3.1993 – 3 StR 618/92 – NStZ 1993, 528 [Böhm]; ebenso OLG Hamm StraFo 2006, 424; nach gem. §§ 45, 47 eingestellten Verfahren ist der Betroffene wie ein Ersttäter zu behandeln, OLG Köln StV 1993, 531). Ausnahmen bedürfen eingehender Feststellung und Begründung (BGH NStZ-RR 1997, 21 – die besonders aktive und brutale Rolle reicht als Begründung; dagegen wird in BGH StV 1998, 331 die Darlegung vermisst, warum es sich bei der Vergewaltigung nicht um eine Gelegenheitstat handelt).
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Aus einer Vorverurteilung zu zwei Freizeitarresten wegen gemeinschaftlichen Diebstahls kann bei einem erneuten Eigentumsdelikt die Frage schädlicher Neigungen nicht mit der „Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Vermögen“ begründet werden, wenn sich im bisherigen Lebensweg und der Lebensperspektive keine weiteren Anhaltspunkte ergeben (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 1). Ein Persönlichkeitsmangel liegt nicht vor, wenn sich ein junger Mensch dem erzieherischen Einfluss seiner Eltern entzieht und sich sehr stark von einem Mitangeklagten beeinflussen lässt (BGH NStZ 1988, 498 f.). Gruppendynamische Zwänge (BGH Beschl. v. 7.2.2006 – 3 StR 263/05) oder falsch verstandene Solidarität zu älteren Mittätern begründen als jugendtypische Phänomene ebenfalls keine schädliche Neigungen.
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Seit BGHSt 11, 170 ist unbestritten, dass allein aus Gelegenheits-, Konflikt- und Notdelikten nicht auf schädliche Neigungen geschlossen werden kann. Das gilt ebenso für Bagatell- und leichte bis mittelschwere Taten (LG Gera DVJJ-J 1998, 280 zum Hang eines 15-Jährigen zum Fahren ohne Fahrerlaubnis: Bloß „gemeinlästig“; OLG Hamm StV 2001, 176: 14 Taxifahrten, ohne zu zahlen, reichen nicht als Begründung für die Annahme schädlicher Neigungen). Nach der Rechtsprechung begründet auch ein erheblicher Tatvorwurf noch keinen Persönlichkeitsmangel (für Vergewaltigung = BGH StV 1998, 331; für schweren Raub = BGH StV 1984, 253; für Beihilfe zur versuchten schweren räuberischen Erpressung = BGH NStZ 1988, 499; für Totschlagsversuch = BGH StV 1985, 155; für den Erwerb der harten Droge Heroin = OLG Zweibrücken StV 1989, 313; für den Handel mit Heroin = AG Bremen-Blumenthal StV 1994, 600, für gefährliche Körperverletzung = BGH NStZ 2010, 280 = ZJJ 2009, 261: Erhebliche Persönlichkeitsmängel müssen schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt und die Ursache der Tat sein. Eine „möglicherweise falsche Reaktion auf eine ausländerfeindliche Demütigung“ steht der Annahme von schädlichen Neigungen ebenso entgegen wie ein besonders großer Einfluss durch einen Mitangeklagten).
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Schon die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung interpretiert also den Begriff des Persönlichkeitsmangels restriktiv – eine Notwendigkeit, die durch das 1. JGGÄndG noch weiter verstärkt wird.