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4. Schwere der Schuld

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Schwere der Schuld meint ein besonders gravierendes Ausmaß von Strafzumessungsschuld (im Gegensatz zur Strafbegründungsschuld). Es geht um Tatschuld und nicht um Lebensführungsschuld. Schuld lässt sich definieren als persönliche Vorwerfbarkeit des verschuldeten Tatunrechts. Aus dieser Definition ergeben sich zwei Einschränkungen. Aspekte der negativen (Abschreckungs-)Generalprävention dürfen wie allgemein im Jugendstrafrecht auch hier nicht berücksichtigt werden (BGHSt 15, 226 & 16, 263; StV 1982, 335; NStZ 1994, 124 = NK 3/94, 41; a.A. Hinz, der in ZRP 2005, 194 behauptet, dass eine abschreckende Wirkung staatlichen Strafens einwandfrei durch neuere empirische Studien belegt sei und verweist hierzu auf Curti (1999), S. 29, 39, 78, 175, Hinz verkennt aber, dass Curti seine Hypothesen zur negativen Generalprävention lediglich auf Rechenmodelle bzw. auf „empirisch zu testende Hypothesen“ (Curti 1999, S. 78) stützt, die nur unter ceteris paribus stimmen, und zudem übersieht er, dass Curti selber die Aussagekraft seiner Befunde vorsichtig bewertet, da sie auf einer zu geringen Stichprobe beruhen (S. 175). Von einem einwandfreien empirischen Beleg der negativen Generalprävention kann also nicht gesprochen werden. Eine positiv-generalpräventive Begründung wird für zulässig gehalten von Ostendorf § 17 Rn. 5; Jäger 2003, 477 ff.; Laubenthal/Baier/Nestler Rn. 758; Maier/Bannenberg/Höffler § 11 Rn. 14, Streng Rn. 451; Tenckhoff 1977, 491; dagegen Eisenberg ZJJ 2018, 144 (Angleichung an das allgemeine Strafrecht im Kontrast zur spezialpräventiven zukunftsorientierten Leitnorm des § 2, empirisch ungeeignet). Die Schwere des verwirklichten Tatunrechts allein kann keine Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld begründen, BGH NStZ-RR 1996, 120; BGH NStZ-RR 2001, 216; OLG Hamm ZJJ 2005, 448; BGH NStZ 2009, 450; nur ausnahmsweise bei Kapitaldelikten und besonders schweren Taten, BGH NStZ 2017, 648; BGH NStZ 2016, 102; OLG Hamm ZJJ 2017, 282f; AG Rudolstadt ZJJ 2019, 292; BGH StV 2005, 66; OLG Hamm NStZ-RR 2005, 58 f.; KG StV 2009, 91. Die Begrenzung auf allerschwerste sonstige Straftaten jenseits von Kapitaldelikten ist inzwischen preisgegeben worden, als der BGH NStZ 2013, 658 ein „gewisses Schuldausmaß“ für die Annahme einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld in einem obiter dictum für ausreichend erachtete – „totale Verflachung der Ausnahmekonstellation“, Beulke NK 2019, 269, 277; der Umfang des zurechenbaren Unrechts wird vielmehr „gebrochen“ durch die persönliche Vorwerfbarkeit (vgl. Giehring in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, 1989, S. 77 ff.). Der BGH betont, dass das äußere Tatgeschehen nur insoweit Bedeutung hat, „als es Schlüsse auf das Maß der persönlichen Schuld und die charakterliche Haltung des Täters zulässt“ (BGH StV 1982, 335; StV 1994, 602 u. NStZ-RR 1997, 21 – wesentlich ist das aus dem „objektiven Unrechtsgehalt“ folgende Maß der „subjektiven erheblichen persönlichen Vorwerfbarkeit“; vgl. auch BGH StV 2009, 90 zu „Verführungssituationen bei Vergewaltigung“; BGH NStZ-RR 2014, 119; BGH Urteil v. 19.2.2014 – 2 StR 413/13). Maßgebend sind in erster Linie der Entwicklungsstand, die charakterliche Haltung und das gesamte Persönlichkeitsbild sowie die Tatmotivation des jungen Menschen, so dass der Erziehungsgedanke gegenüber der Schwere der Schuld vorrangig ist, ohne allerdings das allein ausschlaggebende Kriterium zu bilden (BGH NStZ-RR 1998, 285 und BGH JR 1982, 432 m. Anm. Brunner; OLG Brandenburg StV 2001, 176; OLG Hamm StV 2001, 175: Eine große Menge Haschisch und eine Vielzahl von Taten können allein keine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld begründen; OLG Hamm ZJJ 2005, 449: auch nicht der Verbrechenscharakter der Tat; BGH Urt. v. 16.3.2006 – 594/05; NStZ 2010, 281). Neben dem Erziehungsaspekt sind bei Kapitalverbrechen auch der Sühnegedanke und das Erfordernis gerechten Schuldausgleichs zu beachten, freilich nicht in erster Linie; BGH StV 1994, 598 = GA 1994, 484; BGH StV 1996, 269; BGH StV 1998, 336 mit berechtigter Kritik von Streng an den „Öffnungstendenzen“ hin zu einer zu langen Erziehungsstrafe; Kritik an der Harmonisierung der beiden Formen der Jugendstrafe bei Streng Rn 436 und StV 1998, 336: Anders als die Erziehungsstrafe dient die sog. Schuldstrafe „in erster Linie dem Bedürfnis der Allgemeinheit nach Realisierung von Gerechtigkeit, also nach Schuldausgleich bzw. Vergeltung“. So ist auch der Beschluss des BGH v. 6.5.2013, NStZ 2013, 658 zu verstehen, wenn es nicht entscheidungsrelevant (in einem obiter dictum) heißt: Der Anordnungsgrund der „Schwere der Schuld“ in § 17 Abs. 2 kommt nicht lediglich bei „Kapitalstrafsachen“ in Betracht, sondern auch außerhalb dessen bei besonders schweren Straftaten, zu denen gravierende Sexualdelikte gehören können. Weder der Wortlaut von § 17 Abs. 2 noch dessen Entstehungsgeschichte deuten auf ein kumulatives Erfordernis des Merkmals der „Schwere der Schuld“ und eines Erziehungsbedürfnisses als Anordnungsvoraussetzung der Jugendstrafe hin. Da das Tatgericht bei dem Angekl. ein Erziehungsbedürfnis festgestellt hatte, bedurfte die Frage, ob faktische Erziehungsfähigkeit und rechtliche Erziehungsberechtigung bei Heranwachsenden notwendige Voraussetzungen der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld sind, zwar keiner Entscheidung, doch neige der Senat dazu, bereits „das Vorliegen eines gewissen Schuldausmaßes allein als Anordnungsgrund“ genügen zu lassen, die erfordelriche erzieherische Einwirkung gem. § 18 Abs. 2 beträfe unmittelbar nur die Dauer der Jugendstrafe, nicht die vorgelagerte Auswahl des grundstafrechtlichen Sanktion. Diese Auffassung widerspricht jedoch der allgemeinen Zielsetzung des § 2 Abs. 1 S. 2; insoweit berechtigte Kritik bei Eisenberg NStZ 2013, 636-639 und Beulke NK 2019, 269.

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Wenn das Tatunrecht (Erfolgs- und Handlungsunrecht) erst an zweiter Stelle von Bedeutung ist, ergibt sich eine erste Möglichkeit für eine restriktive Interpretation der Tatschuld. Hier sind entwicklungspsychologische und psychodynamische Aspekte zu berücksichtigen, die dazu führen, dass die persönliche Verantwortung junger Menschen im Vergleich zu Erwachsenen regelmäßig geringer ist (Albrecht S. 250 f.). Auch der BGH geht davon aus, dass nur bei einem vollverantwortlichen erwachsenen Täter aus der Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes ohne weiteres auf eine dem Tatunrecht entsprechende Schwere der Schuld geschlossen werden dürfe, während „bei einem Jugendlichen unter Berücksichtigung seines Entwicklungsstandes und seines gesamten Persönlichkeitsbildes besonders zu prüfen ist, in welchem Ausmaß er sich bereits frei und selbstverantwortlich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden hat“ (BGH GA 1982, 554; BGH StV 1994, 599; OLG Köln StV 2001, 178). Wenn das Gericht einen hohen erzieherischen Nachholbedarf feststellt und damit die Länge der Jugendstrafe begründet, muss es erkennen lassen, inwieweit die Strafe unter Berücksichtigung schulischer Belange im Hinblick auf die persönliche Entwicklung erforderlich ist und ob die im Jugendstrafvollzug vorhandenen Möglichkeiten die Erziehungsdefizite überhaupt und in welchem zeitlichen Rahmen beheben können, BGH NStZ-RR 2008, 258, 259; vgl. auch Eisenberg Anm. zum Urteil des BGH v. 12.3.2008, NStZ 2008, 698.

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In dem vom OLG Zweibrücken aufgehobenen Urteil hat das Jugendschöffengericht die Schwere der Schuld mit dem Verbrechenscharakter des Betäubungsmitteldeliktes begründet. Damit hat es zu einseitig auf den Unrechtsgehalt der Tat abgestellt (JR 1990, 304 m. Anm. Brunner; dagegen OLG Hamm ZJJ 2005, 449). Brunner weist zu Recht darauf hin, dass das Verfahren nach § 47 hätte eingestellt werden können. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie wenig die Praxis bisher die Verschiebung des jugendstrafrechtlichen Sanktionensystems zur Kenntnis genommen hat und in welchem Umfang Möglichkeiten für Alternativen bestehen. Ein gutes Beispiel für den Vorrang des Erziehungsaspektes gegenüber der Schwere des Tatunrechts ist BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 1. Die Angeklagte ist erstinstanzlich wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Unter besonders ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen, wird sie als tiefgreifend milieugeschädigt bezeichnet. Nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft hat mit Hilfe einer Lehrerin und der Unterstützung einer Stiftung erstmals eine positive Entwicklung begonnen. Eine längere, zu vollziehende Jugendstrafe wäre mit der Weggabe ihres Kindes, dem Verlust von Wohnung und Ausbildungsstelle verbunden, so dass die gerade erst geschaffenen Grundlagen wieder beseitigt würden. Bejaht worden ist die Schwere der Schuld bei einer Heranwachsenden, die sich in einer ausländerfeindlichen Gruppe an einem Brandanschlag beteiligt und anders als die meisten Mittäter die Tat nicht relativ spontan ausgeführt hat, sondern schon Tage vorher Brandflaschen mitgefertigt und eine Teilgruppe geleitet hat (BGH Beschl. v. 9.2.1994 – 3 StR 598/93 – NStZ 1994, 528 [Böhm]).

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Inkonsequent ist dagegen die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zu Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld im Fall BGHSt 24, 360 („Kritik- und haltschwache, undifferenzierte, kontaktarme Persönlichkeit mit einem an der Grenze zum Schwachsinn liegenden Intelligenzquotienten“). Überzeugender ist die Entscheidung BGH StV 1986, 305, nach der Schwere der Schuld ausscheidet, wenn § 3 gerade noch bejaht worden und das Ausmaß der Schuld „durch Wesenszüge des Täters verringert“ ist. Schwere der Schuld ist vor allem bei Kapitalverbrechen zu bejahen. Dagegen kann ein Vergehen mit geringem zurechenbaren Schaden, auch wenn es „bedenkenlos“ begangen wird, die Schwere der Schuld nicht begründen, da das Gewicht der Tat zu gering ist, BGH StV 1998, 332 = NK 98, 38 m. Anm. Sonnen; BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 3.

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Umstritten ist, ob auch bei Fahrlässigkeiten eine Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld verhängt werden darf. Bei einem tödlichen Verkehrsunfall begründen allein das Ausmaß der Folgen und der äußere Tathergang noch keine Schwere der Schuld (BayObLG StV 1985, 155 m. Anm. Böhm; ebenso wenig bei schwerem Verkehrsunfall auf Grund „hirnloser Raserei“, OLG Karlsruhe NStZ 1997, 241 m. zust. Anm. Böhm). Das wäre eine unzulässige Überbetonung des Tatunrechts. In erster Linie ist dagegen die subjektive Seite entscheidend. In extremen Ausnahmefällen bejaht die Rechtsprechung auch bei Fahrlässigkeitstaten die Möglichkeit der Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld: OLG Hamm NJW 1968, 462; OLG Celle NdsRpfl 1969, 95 und AG Dillenburg NStZ 1987, 409 m. Anm. Böhm und Eisenberg – der Angeklagte hatte Alkohol getrunken, seinen Kleinwagen mit insgesamt sieben Personen besetzt, es war dunkel, er kannte die Fahrtstrecke nicht, fuhr zu schnell eine steil abschüssige Straße hinunter, kam in einer Kurve ins Schleudern und verursachte einen Unfall, der zum Tod von fünf Mitfahrern führte; OLG Braunschweig NZV 2002, 194 f. aufgrund grober Leichtfertigkeit – der Angeklagte fuhr nüchtern, bei einer zulässigen Geschwindigkeit von 30 km/h in einer kurvenreichen, bergauf durch Waldgebiete führenden Straße mit 60 bis zu 120 km/h und kam hierdurch von der Straße ab, wobei ein Mitfahrer verstarb und ein zweiter schwere Verletzungen erlitt (bedenklich erscheint hier, dass das erkennende Gericht selbst in der Verhaltensweise des Angekl. ein gewisses jugendtypisches Imponiergehabe sieht). Demgegenüber will Ostendorf § 17 Rn. 6 die Schwere der Schuld auf vorsätzliches Handeln begrenzt wissen, weil hinter der Schuldbestrafung die positive Generalprävention (Normvertrauen) stehe. Durch Fahrlässigkeitstaten werde aber das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung nicht beeinträchtigt. Diese Position führt zwar zu einer restriktiven Interpretation, bedarf jedoch hinsichtlich der Grundannahme noch einer empirischen Absicherung.

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Die Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld muss erforderlich sein. Bei Gruppendelikten kann z.B. die Erforderlichkeit der Jugendstrafe nach Auflösung der Gruppe entfallen (BGH StV 1990, 505; BGH NStZ-RR 2008, 259). Erforderlichkeit ist ein Teil des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG), so dass vor der Verhängung der eingriffsintensivsten Sanktion weniger eingriffsintensive Möglichkeiten geprüft werden müssen. Maßstab sind die aktuellen, empirisch gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Giehring hat überzeugend herausgearbeitet, dass eine härtere Sanktion nur zulässig sein kann, wenn „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zusätzliche positive sozialpsychologische Wirkungen zu erwarten“ sind. Ist das nicht der Fall, kann also das angestrebte Ziel in gleicher Weise erreicht werden, so ist die mit geringeren Eingriffen verbundene Reaktionsform zu wählen (Giehring in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, 1989, S. 110). Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld wird zukünftig seltener verhängt werden dürfen (vgl. zur Bedeutung empirischer Erkenntnisse für die Rechtsprechung BVerfG ZJJ 2006, 197 [hier spez. im Jugendstrafvollzug]; BVerfGE 1998, 201; BayObLG StV 1988, 434 u. Pfeiffer DVJJ-J 1991, 126).

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