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b) Schwere der Schuld

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Auf Grund der Unterschiede der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen und wegen Schwere der Schuld wollte Schaffstein die Spielraumtheorie des allgemeinen Strafrechts und damit praktisch § 46 StGB unmittelbar und § 18 Abs. 2 nur mittelbar anwenden (Schaffstein 1977, S. 461). Es müsste dann zunächst der Schuldrahmen mit der schon und der noch schuldangemessenen Strafdauer festgesetzt werden und erst innerhalb dieses Rahmens würden erzieherische Aspekte berücksichtigt werden können. Die Begrenzung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nach oben ist insoweit folgerichtig. Eine Unterschreitung der Schulduntergrenze muss dagegen zulässig bleiben, um eine erzieherisch sinnlose Strafdauer zu vermeiden. Dogmatisch folgt dieses Ergebnis daraus, dass der Gesetzgeber zwar bei der Verhängung der Jugendstrafe differenziert, jedoch bei der Bemessung der Dauer in § 18 Abs. 2 einen einheitlichen Maßstab (erzieherische Erforderlichkeit) zu Grunde legt. Schwere der Schuld ist im Übrigen nicht mit der Schwere des Tatunrechts gleichzusetzen. Maßgeblich ist die persönliche Vorwerfbarkeit des verschuldeten Tatunrechts (§ 17 Rn. 23). Es geht also auch um Rückschlüsse aus den äußeren Tatumständen auf Haltung und Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten, so dass z.B. beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln die Rolle des Mitangeklagten sowie das nachhaltige Betreiben von CID Agenten den Grad der Vorwerfbarkeit erheblich einschränken können (BGHR JGG § 18 Abs. 2 Tatumstände 2; aktuell BGH NStZ-RR 2020, 30: Durch eine polizeiliche Vertrauensperson veranlasst, „härtere“ Betäubungsmittel einzuführen). Wenn auf Grund von Entwicklungen nach der Tat inzwischen nur noch geringe Erziehungsdefizite vorliegen und allenfalls nur noch eine kurze Restjugendstrafe zur Vollstreckung anstehen könnte, muss auch bei der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld geprüft werden, inwieweit von der festgesetzten Sanktion noch eine erzieherische Wirkung ausgeht (BGH NStZ 1989, 522 [Böhm]). Auch bei der Schwere der Schuld gilt der Vorrang des Erziehungsgedankens, so dass eine Unterschreitung der Schulduntergrenze zulässig ist. In extremen Ausnahmefällen, wenn die Strafe „unerträglich gering“ ist (Miehe 1964, S. 61) oder gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert würde, bleibt eine Korrekturmöglichkeit unter dem Verhältnismäßigkeitsaspekt. Jugendstrafen dürfen jedenfalls nicht so gering bemessen sein, dass das Maß der Schuld „verniedlicht“ wird, BGH NStZ-RR 1996, 120 (Mordversuch gegenüber einem Asylbewerber). Die drei Zumessungsschritte (erzieherische Erforderlichkeit, Schuldobergrenze, Verhältnismäßigkeitsaspekt) sind auch bei der Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld vorzunehmen. Bei der Bemessung der Jugendstrafe ist das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des jungen Menschen abzuwägen (so auch: BGH ZJJ 2003, 302; OLG Hamm NStZ 2005, 645; BGH Urteil v. 19.2.2014 – 2 StR 413/13), wobei beispielsweise auch die Wirkungen einer vollzogenen Untersuchungshaft auf den bisher nicht vorbestraften Angekl. zu berücksichtigen sind, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 8. Eine Änderung des Schuldspruchs von Totschlags- zu Mordversuch aus rassistischen Beweggründen muss im Jugendstrafrecht nicht zwangsläufig zu einer Änderung des Strafausspruchs führen, BGH NStZ 1994, 124 = NK 3/94, 41; vgl. auch BGH NStZ-RR 2004, 139; NStZ 2006, 574. Jugendstrafe von 2 Jahren zur Bewährung kann auf Grund des Vorranges erzieherischer Aspekte auch bei Geiselnahme in Tateinheit mit Vergewaltigung und sogar bei Mord angemessen sein (BGH Urt. v. 3.11.1993 – 2 StR 382/93 – NStZ 1994, 529 [Böhm] u. BGH StV 1994, 598; LG Flensburg Urt. v. 19.1.2017 – II. Ks 27/16). Umgekehrt lässt sich auch eine Jugendstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln im Hinblick auf das Tatunrecht bei einem jungen Angeklagten begründen, der als Mittäter mit zwei erwachsenen, jeweils zu 8 Jahren Freiheitsstrafe Verurteilten gehandelt hat (BGH Urt. v. 1.9.1993 – 2 StR 308/93 – NStZ 1994, 529 [Böhm]). Bei Mittäterschaft ist die jeweilige Rolle zu berücksichtigen. Beispielsweise geht es um den Einfluss eines Mitangeklagten, BGH ZJJ 2009, 261, 262; oder bei einem gewalttätigen, gruppendynamischen Geschehen um die aktive Mitwirkung an der Erreichung jeweils neuer Eskalationsstufen, BGH ZJJ 2009, 57, 58 = NStZ 2010, 94. Die Erforderlichkeit der Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ist nicht ausreichend begründet, wenn sich die Jugendkammer nicht mit der naheliegenden Frage befasst hat, inwiefern sich die Tat – der Angeklagte hatte seinen Freund, ein von diesem gestohlenes Mobiltelefon in Besitz zu halten, unterstützt – ggf. als situativ-bedingter Ausdruck gruppendynamischer Prozesse darstellte, was bei der Bestimmung der Schwere der Schuld zu berücksichtigen sein kann, BGH NStZ 2016, 681=StV 2016, 697.

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Sowohl für die Verhängung als auch für die Bemessung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Schuld und Erziehung, von Tat- und Täterorientierung. Zwei BGH-Entscheidungen haben durch Anmerkungen im nicht entscheidungsrelevanten Teil ausgeführt:

„Im Übrigen neigt der Senat dazu, bereits das Vorliegen eines gewissen Schuldausmaßes allein als Anordnungsgrund einer auf das Merkmal der Schwere der Schuld gestützten Jugendstrafe ohne eine faktische Erziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit des jugendlichen oder heranwachsenden Täters genügen zu lassen. Weder der Wortlaut von § 17 Abs. 2 noch dessen Entstehungsgeschichte deuten auf ein kumulatives Erfordernis eines Erziehungsbedürfnisses als Anordnungsvoraussetzung der Jugendstrafe hin. Die in § 18 Abs. 2 enthaltene Vorgabe, bei der Bemessung der Jugendstrafe die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich zu machen, betrifft unmittelbar lediglich die Feststzung der Dauer einer Jugendstrafe, nicht aber die vorgelagerte, in § 17 Abs. 2 i.V.m. § 5 u. § 13 Abs. 1 geregelte Auswahl der jugendstrafrechtlichen Sankionen“.

Widerum in einem obiter dictum gibt der BGH (3. Senat) zu erwägen, „die bisherige Rechtsprechung dahin weiter zu entwickeln, dass bei der Verhängung von Sanktionen gegen Straftäter, die bei ihrer Verurteilung bereits das 21. Lebensjahr vollendet haben und somit im strafrechtlichen Sinne als erwachsen gelten, der Erziehungsgedanke nicht mehr von nur geringem Gewicht sein kann, sondern insgesamt kein taugliches Strafzumessungskriterium mehr ist“.

Beide Entscheidungen sind von Beulke NK 2019, 269, 277 (totale Verflachung der Ausnahmekonstellation, Ausrutscher), Eisenberg NStZ 2013, 636 (Preisgabe der Eigenständigkeit der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld gegenüber der Freiheitsstrafe des Allgemeinen Strafrechts), Höynck ZJJ 2016, 305 (Aufweichung des Jugendstrafrechts); Sonnen ZJJ 2016, 76 (Was lässt der BGH vom Erziehungsstrafrecht übrig?) kritisiert worden. Dennoch haben sich diese Bemerkungen (obiter dicta) geradezu einladend auf die Urteile des LG Ravensburg NStZ-RR 2016, 227 („erreicht die Tat einen gewissen Schweregrad, kommt dem Erziehungsgedanken sonst keine Bedeutung zu“) und des LG Flensburg – Urt. v. 19.1.2017 – II Ks 2/16 („ein gewisses Schuldausmaß genügt für die Schwere der Schuld, ohne dass es auf die Erziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Angeklagten ankommt“) ausgewirkt.

Das Flensburger Urteil betrifft allerdings die besondere Fallkonstellation, dass der zum Tatzeitpunkt (1982) 17-jährige und heute (2012) 52-jährige Angeklagte erst jetzt nach Auswertung eines DNA-Vergleichsgutachtens von 2016 ermittelt werden konnte (1986 war er zu einer inzwischen erledigten Jugendstrafe von 8 Jahren wegen Totschlags an einem 17-jährigen Jungen verurteilt worden).

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Die Problematik der Jugendstrafe bei lange zurückliegenden Taten ist Gegenstand in BGH NStZ 2018, 662, indem festgestellt wird, dass es keine rechtlichen Bedenken gibt, wenn bei der Zumessung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld neben dem Bedürfnis nach einem gerechten Schuldausgleich auch dem Erziehungsgedanken im Sinne von § 18 Abs. 2 Rechnung getragen wird. Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen und hält den Erziehungsgedanken wie in NStZ-RR 2017, 231 nach wie vor für ein taugliches Strafzumessungskriterium bei der Festsetzung der konkreten Strafhöhe. Im Urteil werden die früheren BGH-Entscheidungen zum Erziehungsgedanken mit seinem je nach fortschreitenden Alter geringer werdendem Gewicht (ohne starre Altersgrenze) vorgestellt, z.B. Tatzeitpunkt 20 Jahre, Verurteilungszeitpunkt 25 Jahre oder 19 bzw. 36 Jahre (BGH NStZ 2006, 587 – Erziehungsgedanke nur von untergeordneter Bedeutung).

Zustimmend zitiert werden Brunner/Dölling § 105 Rn. 36, Laubenthal/Baier/Nestler Rn. 759 und Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 473. Auf das Ziel positiver Individualprävention abstellend, wird Ostendorf § 105 Rn. 36 genannt und auf den ausführlichen und grundlegenden Beitrag von Beulke FS Streng 2017, 403 ff. hingewiesen.

Nicht ausdrücklich erwähnt, aber zur Klärung der Grundfragen wichtig: Streng Jugendstrafrechtliche Strafzumessung zwischen Tat- und Täterprinzip, GA 2017, 80-91.

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