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a) Schädliche Neigungen

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In einem ersten Schritt ist die Dauer der Jugendstrafe für die erforderliche erzieherische Einwirkung zu bestimmen. Theoretisch darf hier die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung noch keine Rolle spielen. Die hohe Aussetzungsquote von 2016 = 58,9 % (5.914 von 10.013) der Jugendstrafen lässt aber Wechselwirkungen in dem Sinne vermuten, dass die Möglichkeit der Strafaussetzung praktisch die Strafhöhenfestsetzung sehr stark bestimmt. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Dauer der Jugendstrafe ist zwischen generellen und speziellen Überlegungen zu unterscheiden. Bei der Sanktionsprognose stellt sich angesichts des weiten Strafrahmens von sechs Monaten bis zu fünf bzw. zehn (ausnahmsweise fünfzehn) Jahren generell das Problem einer erzieherisch sinnvollen Verbüßungsdauer. Gesucht wird die Stelle, die das „erzieherische Optimum“ markiert. Unbestritten ist, dass dieser Punkt unterhalb von fünf Jahren liegen muss. Indiz dafür ist die Obergrenze von vier Jahren, die der inzwischen weggefallene § 19 für die Jugendstrafe von relativ unbestimmter Dauer vorgesehen hatte. Von daher vertritt Schaffstein die Auffassung, dass vier Jahre in extremen Ausnahmefällen noch verantwortet werden könnten, während im Normalfall schon Jugendstrafen von über zwei Jahren die Sozialisation gefährdeten und durch Abstumpfung und andere Prisonisierungsfolgen schadeten (Schaffstein 1972, S. 464). Die Vollzugswirklichkeit legt eine noch kürzere Dauer von einem bis zu eineinhalb Jahren nahe (vgl. Brunner/Dölling § 18 Rn. 3 m.w.N.). Mit 36,5 % lagen 2017 die meisten Jugendstrafen im Bereich zwischen einem Jahr und 2 Jahren und damit unter der Zeitspanne, die erzieherisch für optimal gehalten wird. 20,6 % lagen zwischen neun Monaten und einem Jahr. 16,1 % der Jugendstrafen betrafen den Zeitraum von sechs bis zu neun Monaten. Die Zahlen zeigen die Skepsis gegenüber den stationären Sanktionen und signalisieren eine „Abkehr von der früheren Behandlungsideologie“.

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Bei der Sanktionsprognose sind speziell auch die Möglichkeiten der jeweiligen Anstalt einzuschätzen. Unzulässig ist es jedoch, die Dauer der Jugendstrafe von der Ausbildungszeit im Vollzug abhängig zu machen (Ostendorf § 18 Rn. 11, differenzierend dagegen BGH StV 1987, 306). Hier sind stattdessen Möglichkeiten zu schaffen, eine im Vollzug begonnene Ausbildung in Freiheit fortsetzen zu können (Schlussbericht der Jugendstrafvollzugskommission, 1980, S. 49, aktuell: Übergangsmanagement). Bei einer mit einem hohen erzieherischen Nachholbedarf begründeten Jugendstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten muss die Länge der Strafe näher erläutert werden; speziell im Hinblick auf die festgestellten Erziehungsdefizite und die Möglichkeiten, sie mit den im Jugendstrafvollzug zur Verfügung stehenden Mitteln zu beheben, BGH NStZ-RR 2008, 258.

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Im Mittelpunkt der Bestimmung der Dauer der Jugendstrafe für die erforderliche erzieherische Einwirkung steht die Sozialprognose. Dabei geht es konkret um die Einschätzung des künftigen Verhaltens des straffällig Gewordenen (Rückfall- bzw. Kriminalprognose) und die Möglichkeit und Beeinflussbarkeit, erneute Straffälligkeit durch eine entsprechende Dauer der Jugendstrafe zu verhindern. Sozial- und Sanktionsprognose setzen eine Würdigung der Täterpersönlichkeit voraus (Karranedialkova-Krohn/Fegert 2007, S. 285 ff.; allgemein zur Prognose: Laubenthal/Baier/Nestler Rn. 550 ff. sowie das Schwerpunktheft ZJJ 3/2010 zur Diagnose und Prognose im Jugendstrafverfahren). Neben Elternhaus und Kindheit, Aufenthalts- und Wohnbereich, Schule und Arbeit, Freizeit und Sozialbereich sind die Entstehungszusammenhänge von Kriminalität mit ihren personellen, sozialen und institutionellen Faktoren (wie z.B. Stigmatisierungseffekten) zu berücksichtigen (der letzte Punkt fehlt in Göppingers Leitfaden für die Praxis zur Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen mit Hilfe der Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse = Göppinger 1985. Zur MIVEA = Göppinger/Bock Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 248, 343; Bock Kriminologie, 4. Aufl. 2013, S. 121–270, Nixdorf NK 2018, 366). Für die Prognose sind auch Einflussfaktoren nach der Tat von Bedeutung. Der BGH hat den Strafausspruch im Falle einer Verurteilung wegen Totschlages zu einer vierjährigen Jugendstrafe aufgehoben, weil das Gericht positive Veränderungen bei der Angeklagten nach der Tat nicht hinreichend gewürdigt hat (Wohnung, Kindergartenplatz, Lehrstelle). Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Strafe (BGHR JGG § 17 Schwere der Schuld 1; vgl. auch BGH StV 1998, 335 und NStZ-RR 1998, 86). In einem anderen Fall vermisst der BGH eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Vollzug einer wegen schwerer räuberischer Erpressung verhängten fünfjährigen Jugendstrafe auch im Hinblick auf die zu erwartende Nachreife aus erzieherischen Gründen erforderlich ist, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 7. Ändert sich im Fall einer gewaltsamen Entwendung eines Pkw der Schuldspruch von Raub (Zueignungsabsicht) in räuberische Erpressung (bloße Gebrauchsabsicht) ist trotz desselben Strafrahmens der Strafausspruch zur Höhe der Jugendstrafe aufzuheben, BGH NStZ-RR 1999, 103 f.

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Aufgehoben worden ist auch der Strafausspruch im Fall einer Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren(BGH NStZ-RR 2020, 30), weil nicht dargelegt worden ist, warum die vom Landgericht zur Strafzumessung angeführten Ziele (Erwerb von Berufsqualifikation, Entwicklung eigenständiger Lebensperspektive, moralische Fortentwicklung einer Lebensplanung) nur und erfolgversprechender im Rahmen einer 8-jährigen Jugendstrafe erreicht werden können. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den entsozialisierenden Wirkungen einer langjährigen Freiheitsstrafe und jeglicher Begründung, wie die positiven Erwartungen erfolgreich durch eine Jugendstrafe von mehr als 5 Jahren erzielbar sind. Wie schon in BGH StV 1988, 307 bei der Bemessung der Jugendstrafe eine genaue und nicht nur formelhafte Prüfung verlangt wird, „warum die verhängte Jugendstrafe unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes, der charakterlichen Haltung und der dem Verurteilten zu stellenden Sozialprognose erzieherisch geboten war“, wobei auch tatnachfolgende Ansätze zu positiver Entwicklung hinreichend zu berücksichtigen sind (BGH NStZ 1988, 491 [Böhm] u. NStZ-RR 2000, 322 [Böhm]; BGH ZJJ 2003, 302: Loslösung der Angeklagten von Mitangeklagten, neue feste Beziehung). Dass Taten länger zurückliegen, ist ebenso wie ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot strafmildernd zu berücksichtigen, BGH NStZ-RR 1996, 317, StV 1999, 681, BGH NStZ-RR 2000, 343, (Böhm), NStZ-RR 2001, 323; BGH DVJJ 2003, 79; BGH Beschl. v. 16.3.2004 – 5 StR 88/04; BGH Beschl. v. 11.5.2006 – 3 StR 136/06, HRRS 2006 Nr. 597: Taten lagen mehr als sechs Jahre zurück. In Ausnahmefällen kann ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis der überlangen Dauer gegeben sein: EGMR StV 2001, 489 m. Anm. Roxin; BGH NJW 2001, 1146 = StV 2001, 89; allerdings keine Kompensation bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung, wenn die Jugendstrafe erzieherisch geboten war, BGH NStZ 2007, 61; so auch Detter 2007, S. 207; anders BGH ZJJ 2003, 302 f. und ZJJ 2009, 57 = NStZ 2010, 94: Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (von 6 Monaten während des Revisionsverfahrens) ist bei einer wegen Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe dadurch zu kompensieren, dass ein geringer Teil (hier 1 Monat) der verhängten Jugendstrafe als vollstreckt anzuordnen ist (Festhaltung BGHSt 52, 124).

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Unzulässig und mit dem Wesen der Jugendstrafe unvereinbar ist es, ihre Höhe von der voraussichtlichen Heilungsdauer einer krankhaften seelischen Störung abhängig zu machen. Bei einer solchen Krankheit käme eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht. Strafe und Maßregel dürfen nicht zu einer einheitlichen Sanktion mit einer entsprechenden Bestimmung der Dauer dieser Sanktion vermischt werden (BGH NStZ 1998, 86; NStZ 1987, 506 = StV 1988, 307). Rechtswidrig ist es, die Strafe mit dem Ziel zu erhöhen, eine Aussetzung zur Bewährung von vornherein auszuschließen, BGH ZJJ 2008, 296 = NStZ 2008, 693. Strafhöhe und Bewährung sind unabhängig voneinander in zwei (selbstständigen) Strafzumessungsschritten festzusetzen.

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Trotz der Unsicherheit bei der Sozialprognose ist es nicht gerechtfertigt, bei der Bemessung der Dauer der Jugendstrafe einen Sicherheitszuschlag einzukalkulieren (a.A. Brunner 9. Aufl., § 18 Rn. 7, der darauf hinweist, dass eine zu kurz bemessene Zeit nachträglich nicht verlängert, eine zu lang bemessene dagegen nach § 88 verkürzt werden kann).

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Während die Bemessung der Dauer der Jugendstrafe sich in einem ersten Schritt nach der speziell erzieherischen Erforderlichkeit richtet, wobei generell von einem erzieherischen Optimum knapp über einem Jahr auszugehen ist, geht es in dem zweiten Schritt um Korrekturen unter dem nachrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt des Schuldausgleichs. Mögliche Spannungen zwischen den beiden Zumessungsprinzipien Erziehung und Schuld können nicht dadurch überwunden werden, dass man – wie es mitunter in der Praxis geschieht – als erzieherisch erforderlich die schuldangemessene Jugendstrafe ansieht (und umgekehrt). Böhm versucht, diese Spannung abzumildern, indem er eine altersspezifisch gleitende Skala von Zumessungsregeln empfiehlt, die von einem eindeutigen Vorrang des Erziehungsgedankens bei 14-Jährigen bis zu einer fast vollständigen Ablösung und Ersetzung durch Zumessungskriterien des allgemeinen Strafrechts bei Heranwachsenden reicht (Böhm/Feuerhelm S. 9). Das Problem ist aktuell geworden bei der Verurteilung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechern, die erst Jahrzehnte später vor Gericht standen und auf die Jugendstrafrecht auf Grund ihres damaligen Alters anzuwenden war.

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Den unterschiedlichen Strafzumessungsgesichtspunkten würde durch eine „umgekehrte Spielraumtheorie“ Rechnung getragen werden können, wie sie Schaffstein vorgeschlagen hatte: Die schon und die noch erzieherisch sinnvolle Strafdauer würde den Spielraum für die Strafhöhenmessung abgeben, innerhalb dessen dann die Strafe nach der konkreten Tatschuldschwere festgesetzt werden sollte (Schaffstein 1977, S. 449). Auf Grund der zu geringen Berücksichtigung der Tatschuldschwere und der bei Anwendung der umgekehrten Spielraumtheorie häufig recht kurzen Jugendstrafen hat Schaffstein sein Zumessungsmodell später wieder aufgegeben. Fest steht, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen (Verfassungsrang des Schuldprinzips, Benachteiligungsverbot von Jugendlichen und Heranwachsenden gegenüber Erwachsenen) der Gesichtspunkt des Schuldausgleichs die Dauer der Jugendstrafe nach oben begrenzt. Der BGH hält zwar ein besonderes Erziehungsbedürfnis als strafschärfende Erwägung für zulässig, betont aber ausdrücklich, dass diese Strafschärfung nicht zu einer Überschreitung der oberen Grenze schuldangemessenen Strafens führen dürfe (BGH StV 1998, 334; NStZ 1990, 389 = DVJJ-J 1991, 167). Nach unten setzt das Schuldausgleichsprinzip bei der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen keine Grenze. Die schon schuldangemessene Strafe darf also aus erzieherischen Gründen unterschritten werden. Diese Konsequenz erklärt sich aus dem eindeutigen erzieherischen Vorrang, der dem Schuldausgleich keine positive, sondern nur eine negative (= begrenzende) Funktion belässt (vgl. auch Miehe 1964, S. 60 ff.).

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Im dritten Strafzumessungsschritt übernimmt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine abschließende Kontrolle, indem gefragt wird, ob die Strafdauer nicht außer jedem Verhältnis, also in einem extremen Missverhältnis zur Tatschuld steht oder die Höchstgrenze des gemilderten Strafrahmens des allgemeinen Strafrechts überschreitet, Meier/Bannenberg/Höffler § 11 Rn. 24.

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