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Vertrautes St. Aubin
ОглавлениеDas Jahr in Bern ging zu Ende und ich stellte fest, dass es für mich in vielen Teilen sehr lehrreich gewesen war. Ich hatte eine Menge gelernt, sowohl schulisch als auch im Blick auf die Disziplin und auch viele praktische Dinge, von perfekter Gästebewirtung bis zum tadellosen Bügeln von Blusen und Herrenhemden. Jetzt kam auch für mich die Zeit, meine Koffer zu packen. Ich mochte es kaum erwarten, als ich hörte, dass St. Aubin mein nächstes Zuhause sein würde. Es handelte sich also um eine Art Heimkommen nach zehn Jahren. Dort in der Nähe hatte ich ja bereits als Sechzehnjährige mein Welschlandjahr verbracht und kannte die dortigen Verhältnisse recht gut.
Als frisch bestallte Leutnantin hielt ich an einem wunderschönen Frühlingstag, es war der 3. Mai, Einzug an den Ufern des Neuenburgersees. Mehrmals stieg ich von der Wohnung aufs Flachdach, atmete tief durch und konnte mich kaum satt sehen an den goldgelben Wiesen voller Löwenzahn, den in Blüte stehenden Obstbäumen und dem sich leicht kräuselnden See im Hintergrund. War das eine Pracht! Nach der langen Stadterfahrung wirkte die Gegend wie Balsam auf mein ausgetrocknetes Gemüt. Eine liebe, erfahrene Majorin nahm mich herzlich auf. Im Laufe der Wochen wurde sie mir zum großen Vorbild in ihrer Hingabe und Leidenschaft an die Sache Gottes. Sie freute sich sichtlich, die Aufgaben mit mir teilen zu dürfen, und führte mich in alle Einzelheiten des Dienstes ein, auch was die Sprache betraf. Da konnte es bei mir schon mal zu lustigen Ausrutschern und kleinen Missverständnissen kommen. Wir lachten und scherzten viel miteinander in jenem halben Jahr.
Zu meinen vielfältigen Aufgaben gehörte zum Beispiel die Mitarbeit bei einem Kindertageslager in Fleurier. Für die drei Buben des Leiters war ich „la grande sœur“, die große Schwester. Hier lernte ich dazu über die Arbeit mit Kindern und auch das Zusammenleben mit anderen Verantwortlichen.
In einer anderen Woche war ich dafür zuständig, in Cernier von Haus zu Haus Spenden zu sammeln. Es kostete mich Überwindung, um Geld zu bitten, doch tat ich es aus Liebe zu Jesus. Dabei kam es zu vielen erfreulichen Kontakten mit der dortigen Bevölkerung. In diesem Uhrmacherdorf hatte ja einst meine Mutter ein Jahr verbracht und sich sehr wohl gefühlt. Hier hatte sie auch Tante Céline kennengelernt, ihre treue Freundin.
In Cernier bewohnte ich allein eine fast leere Wohnung und hatte gerade mein Frühstück beendet. Die Maus in einer anderen Ecke der großen, geräumigen Küche war noch nicht ganz fertig damit. Da meldete sich Besuch an. Mein Chef aus Neuenburg wollte sich auf dem Vorbeiweg überzeugen, dass es mir gut ging. Bei mir war alles in Ordnung – außer dem unwillkommenen Gast am anderen Ende der großen Küche. Das sollte sich nun ändern. Der Oberst in seiner adretten Uniform mit Stehkragen, mit einem Besenstiel bewaffnet, und ich in der Hausfrauenmontur mit dem Wallholz (zum Auswallen des Wähenteiges) in der Hand, stürzten uns beide in den Kampf. Eine wilde Hetzjagd begann, doch wir waren zu langsam. Die verängstigte Maus sauste kreuz und quer durch die Küche und verschwand dann blitzartig in ihrem Schlupfloch. So hatte ich mich wenigstens schon ein wenig fit gemacht für den Tag, denn im Laufe der nächsten Stunden hatte ich viele Treppen zu steigen. Am anderen Morgen leistete mir die Maus wieder Gesellschaft beim Frühstück. Sie freute sich an ihrem Überleben und knabberte vergnügt an den Körnern, die ich ihr hingeworfen hatte, um wenigstens während des Essens meine Ruhe zu haben.
Von St. Aubin aus hielten wir von Zeit zu Zeit Gottesdienste an einem Wochenabend in der Landkolonie in Fresens, einem weitläufigen Gutsbetrieb, der von der Heilsarmee geführt wurde und vorwiegend Männer mit Alkoholproblemen beherbergte. Dieser Betrieb wurde weit über dem Neuenburgersee bewirtschaftet. Meistens waren wir vorher zum Nachtessen mit dem Leiterehepaar und einigen Mitarbeitern eingeladen. Wir fragten uns manchmal, was wohl von den Gottesdiensten in den Herzen dieser Männer zurückbliebe? Sie schienen oft so teilnahmslos. Hie und da erreichte uns dann doch eine positive Reaktion – Freude an einem ermutigenden Wort, einem Gedicht, einem gesungenen Duett –, oder sie zeigten uns voller Stolz ihre geflochtenen Korbwaren oder sonstigen Handarbeiten oder die Tiere, die ihnen anvertraut waren. Beeindruckend waren die Felder mit der sprießenden Saat oder dem reifen Korn und all die verschiedenen Obstplantagen, die zum Betrieb gehörten und von den Männern bearbeitet und gepflegt wurden. Die Verantwortlichen brachten immer wieder eine große Portion Geduld auf. Vor allen Dingen brauchte es viel Liebe zu diesen von sich und dem Leben enttäuschten Männern und die Gewissheit, dass auch aus hoffnungslosesten Leben Neues entstehen kann.
Gelegentlich teilten wir zwei Frauen uns auf für die Gottesdienste am Sonntagmorgen im Schulhaus in Fresens und im Saal in St. Aubin. So ganz alleine einen Gottesdienst in fremder Sprache zu bewältigen, stellte einige Ansprüche an mich. Einmal erhielt ich aber ein ermutigendes Echo. Eine Frau hatte sich überlegt, ob sie überhaupt zum Gottesdienst im Schulhaus gehen solle, als sie hörte, dass ich, die Deutschschweizerin, alleine in Fresens sein würde. Hinterher vertraute sie sich einer anderen Person an: „Ich habe es absolut nicht bereut und bin froh, dabei gewesen zu sein. Der Gottesdienst, vor allem die Predigt, haben mir viel gebracht.“ Es tat mir gut zu wissen, dass die Leute mein Französisch verstanden und von dem Wort Gottes berührt wurden, das ich weitergab. Ich denke, dass Gottes Heiliger Geist eine Brücke zu schlagen vermochte – auch über den „Röstigraben“ hinweg, wie wir die Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz gerne bezeichnen.
Am Wochenende zogen wir immer wieder los, um in den Gasthäusern und Restaurants zu singen. In der deutschen Schweiz wünschten sich die Gäste als Zugabe meistens das Lied vom „Sonnenschein“, in der Romandie dagegen „blanc plus blanc que neige“ – weiß, ja weißer als Schnee. Dieses Lied handelte vom menschlichen, von Natur aus sündigen, von Gott entfernten Herz, das durch das Opfer Jesu und sein vergossenes Blut am Kreuz auf Golgatha reiner und weißer als Schnee wird bei jedem, der es begehrt. Immer und immer wieder wurde dieses Lied verlangt. Ob es an der Melodie lag oder an den Worten? Und ob sich die Zuhörer wirklich bewusst waren, wie wichtig diese Botschaft ist? Vor unseren Einsätzen beteten wir jedes Mal für alle, denen wir im Laufe des Abends begegnen würden. Gott allein konnte ihre Herzen berühren und ihnen wohltun. An diesen Abenden legten wir oft weite Strecken von einem Dorf zum anderen zu Fuß zurück, wenn spätabends kein Bus mehr fuhr. Über die Ebene von Bevaix bis St. Aubin wehte dann so manches Mal ein eisiger Wind.