Читать книгу Zerrissen - I. Tame - Страница 18
ОглавлениеDie ersten zwei bis drei Tage haben sie sich quasi im Haus verbarrikadiert. Nachdem Keno es sich endlich gestattet, über die schreckliche Zeit – getrennt von John – zu reden, fällt es ihm doch schwer, die erlittenen Grausamkeiten zu schildern. Ihm fehlen einfach die Worte, – auch, weil er bemüht ist, John bestimmte Fakten so schonend wie möglich beizubringen. Schließlich gibt er sich einen letzten Ruck und beginnt.
„Ich … also, ich muss es dir jetzt erzählen. Kann sein, Baby, dass ich das nicht alles auf einmal schaffe … dann gib mir … einfach … ein bisschen Zeit, o. k.?“
Er hebt seinen Blick und bettelt John geradezu an. Seine Augen glitzern und wie so oft rinnen ihm Tränen über das Gesicht. Doch als John seinen Arm um ihn legen will, hebt Keno abwehrend die Hände.
„Bitte … bitte nicht! Wenn du mich dauernd tröstest, dann schaff‘ ich das nie! Außerdem… wird das, was ich zu sagen hab’ auch für dich nicht leicht zu verkraften sein …“
Keno senkt kurz seinen Kopf.
„Es tut mir so wahnsinnig leid …“
Sie setzen sich einander in die Fernsehecke auf dem Boden gegenüber.
„Willst du einen Drink zur Auflockerung?“, fragt John, als er die Beine anzieht und Keno gespannt beobachtet, während dieser die Arme um die Knie schlingt.
Keno legt eine Hand auf seinen Magen und schüttelt ganz sachte den Kopf.
„Nein“, haucht er, „lieber nicht“. Er wirkt lethargisch – leicht weggetreten.
Keno beugt seinen Kopf vornüber auf die Knie. Er kann John einfach nicht dabei ansehen, wenn er über seinen persönlichen Supergau berichtet.
So sitzen sie sich gegenüber und Keno beginnt mit leiser Stimme zu erzählen. Und was er erzählt, lässt John das Blut in den Adern gefrieren. Er berichtet über den ganzen unfassbaren Ablauf seines Martyriums. Wie er entführt wurde. Wie er erfahren musste, wer dahinter steckt. Was er am ersten Abend tun musste. Der weitere Missbrauch. Und die unglaubliche Misshandlung durch die Peitschen und die Vergewaltigungen. Seine Narben auf dem Rücken und seine anderen Narben … Während er über seine Kennzeichnung spricht, greift er an seinen rechten Oberarm, als spürte er die Demütigung noch genau unter der neuen Tätowierung. Mit dieser Zeichnung war er auch äußerlich für jeden als Sklave gebrandmarkt.
John starrt fassungslos vor sich hin, als Keno tonlos erzählt, wie John’s Vater ihn gezwungen hat, ihn oral zu befriedigen und wie er ausgerastet ist, als Keno sich weigerte, George vorzugaukeln, dass er ihn liebe. Wie er Keno vergewaltigt hat – immer und immer wieder. Während Cat wie ein Automat seine erlittenen Misshandlungen aufzählt, stößt John immer wieder lange gequälte Töne hervor. Teilweise muss er seine Erzählung unterbrechen, weil John so laut aufstöhnt, dass Keno nicht mehr zu verstehen ist.
Schließlich haben beide die gleiche Körperhaltung eingenommen. Sie verbergen ihre Gesichter auf den Knien. Keno heult und schluchzt haltlos vor sich hin. John’s Kehle jedoch entweicht kein Ton. Und keine Träne rinnt aus seinen Augen. Der Schock hält ihn dermaßen fest in den Klauen … John fühlt sich ruhig und gleichzeitig tot. Sein Gehirn kann, nein, es will die ganze Geschichte nicht fassen!
Flashartig blitzen Bilder vor John’s innerem Auge auf. Während der von Keno geschilderten Misshandlungen hatte sein Vater ihn tröstend in die Arme genommen. Er hatte sich ständig gemeldet, um zu fragen wie es John geht … und gleichzeitig … gleichzeitig … hat er Cat geschlagen und vergewaltigt – auf die brutalst mögliche Art und Weise.
Keno wird immer ruhiger, bis er plötzlich aufspringt, zur Gäste-Toilette rennt und sich würgend übergibt. Er kann gar nicht mehr aufhören. Ständig neue Wellen lassen seinen Magen erzittern.
Irgendwann spürt er ein kaltes Tuch in seinem Nacken und kühle Hände, die seine Haare nach hinten streichen. Mit der anderen Hand streichelt John über Keno‘s Rücken, um ihn zu beruhigen. Heftig schluchzend rutscht dieser von der Keramikschüssel weg.
„Tut mir leid … Es tut mir alles so leid, Baby.“, keucht er hervor.
„Wag’ es ja nicht, dich noch einmal dafür zu entschuldigen!“, erwidert John tonlos.
Keno dreht sich ihm zu, während er sich mit einem Handtuch über den Mund wischt. John steht mit leichenblassem Gesicht im Türrahmen. Noch nie hat Keno diesen Blick an ihm gesehen. Diese Augen, die immer vor Liebe und Güte strahlen, schauen durch Keno hindurch, verletzt, tot. Doch dann scheint er sich wieder zu fangen.
„Oh Gott, das ganze Ausmaß dessen, was dir passiert ist, wird mir erst langsam klar!“, flüstert er Keno zu. Und auch seine Stimme zittert, als er weiter spricht.
„Mein Vater!! Das ist so unfassbar! Mein eigener Vater hat dir das angetan! Ich … Was soll ich nur tun, Cat? Wie soll ich das jemals wieder gut machen?!“
„Das ist noch nicht alles“, keucht Keno gequält.
John zieht ihn in seine Arme und umschließt Keno fest und sicher.
„Ganz ruhig,“, flüstert er Keno zu, „jetzt komm‘ erst mal wieder runter. Du kannst den Rest später erzählen.“
Beruhigend wiegt er ihn hin und her. Immer wieder zittert Keno unkontrolliert. Ohne weiteren Kommentar bugsiert John ihn die Treppe hoch.
Die riesige Dusche entwickelt sich schnell zu einem Dampfbad. Sie stehen unter den warmen Wasserstrahlen und umarmen sich noch immer. Das gibt ein wohliges Gefühl der Geborgenheit. Sie streicheln sich, küssen sich immer wieder, nur um sich dann wieder so fest zu umarmen, dass es weh tut.
„Ich bring‘ ihn eigenhändig um“, flüstert John immer wieder. „Ich schwöre dir, ich bring‘ ihn um!“
Keno widerspricht ihm. „Hör‘ auf, so was zu sagen! Du bist nicht wie er!“
Ein erneutes tiefes Stöhnen bahnt sich seinen Weg aus John’s Brust. „Mein eigener Vater! Mein Vater hat dir das angetan!“
Er senkt den Kopf und ist froh, dass seine Tränen unter der Dusche nicht zu sehen sind.
„Wie konnte er das nur tun?!“ John’s Stimme klingt rau vor Verzweiflung. „Er wusste doch, dass du mein bester Freund bist! Er wusste zumindest das … diese Drecksau“, flucht er schließlich. „Die ganze Zeit über hat er so getan, als würde er mir helfen, dich zu suchen.“
Keno schmiegt sich an John‘s Brust und schlingt die Arme um seinen Hals. So bleiben sie eine Weile stehen und trösten sich.
„Ich glaube, ich löse mich gleich auf“, seufzt John schließlich und hält seine verschrumpelten Finger hoch. „Jetzt könnte ich einen schönen kalten Drink gebrauchen. Was ist mit dir?“, fragt er und räuspert sich, um wieder mehr Kraft in seine Stimme zu bekommen.
Keno seufzt leise. „Eine geile Idee! Dann werd‘ ich auch noch den Rest der Geschichte los.“
Damit sie der Alkohol nicht völlig aus den Socken haut, brutzeln sie sich ein Abendessen zusammen. Während John Tomaten und Zwiebeln schneidet, driftet seine Gedanken in die Vergangenheit. Ein heißer Stich jagt durch seinen Magen, als er ansatzweise versucht, sich vorzustellen, was Keno alles erdulden – erleiden – musste. Er hatte sich natürlich bereits vor Keno’s Bericht so seine Gedanken gemacht, doch … John schluckt schwer … dass es so pervers war, unglaublich.
Mein Gott, wie sehr er selbst damals gelitten hatte. Wie er ausgeflippt war, als Keno von einem Moment zum anderen weg war; wie vom Erdboden verschluckt. John kam von der Toilette in dieser Jazz-Kneipe und stand plötzliche alleine da. Selbst heute noch – wenn er die ganze bizarre Situation in Gedanken noch einmal durchlebt – wird ihm schwindlig und der Schweiß bricht ihm aus. Das war der blanke Horror! Der Barkeeper sagte ihm nur, dass der Typ mit den langen Haaren zusammen mit zwei Kumpels Arm in Arm ziemlich angesoffen die Bar verlassen hatte. Damals hatte John zuerst gedacht Verdammt, Cat, was soll der Scheiß? Doch da war ihm eigentlich schon klar, dass da was nicht stimmen konnte. Sie hatten höchstens zwei Bier getrunken und begannen doch erst mit ihrem Zug durch die Kneipen. Cat hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich zu besaufen. Und niemals wäre er einfach so abgehauen!
John war die nächsten Stunden durch die Altstadt gehetzt und hatte nach Keno gesucht. Nichts! Als hätte es ihn nie gegeben. Tausend Emotionen rasten in dieser Nacht durch John’s Kopf: Ungläubigkeit, Ratlosigkeit, Verwirrung, Wut … am Ende blieb nur totale Verzweiflung.
John’s Vater war ihm damals eine große Stütze. Egal, wo er gerade geschäftlich unterwegs war, er hatte zwischendurch immer Zeit, sich die Sorgen seines Sohnes anzuhören, ihn zu trösten und seinen Einfluss bei den Behörden geltend zu machen. Schließlich ging es um den besten Freund seines Sohnes; da musste John sich nicht einmal großartige Erklärungen zurechtlegen. Wenn er sich jetzt das Verhalten seines Erzeugers vor Augen hält, muss John fast so hart mit seinen Emotionen kämpfen wie Keno.
Natürlich hatten damals keine seiner Bemühungen gefruchtet. Nichts hatte ihn weitergebracht. Polizei, Krankenhäuser, Absteigen – alles ohne Ergebnis. Einmal war er sogar im Leichenschauhaus gewesen, weil die Bullen einen Toten aufgefunden hatten, der Cat’s Beschreibung entsprach. Selbst DAS hatte sein Vater ihm nicht erspart – nur um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass er genauso ahnungslos sei wie sein geliebter Sohn.
Nach einem halben Jahr war John der Überzeugung, dass Keno tot sei. Der ganze Umstand seines Verschwindens war einfach zu absurd, um zu einem anderen Schluss zu kommen. Cat wäre niemals einfach so abgehauen, egal welche überdrehte Spinnerei ihm womöglich eingefallen war.
Aber dann – mitten in einer schwülen Sommernacht – ein Anruf aus China. Das war so unglaublich, dass John erst dachte, jemand würde sich einen schlechten Scherz erlauben. Doch es war tatsächlich sein Keno. Und bereits am Tonfall der ersten unter Tränen gestammelten Entschuldigungen erkannte John, dass Cat Schlimmes widerfahren war. Obwohl dieser abwiegelte, beschwichtigte, leugnete und sich ansonsten einfach weigerte, am Telefon über die ganze Angelegenheit zu reden … trotz allem wusste John … Cat war misshandelt worden. Ihm war nicht klar in welcher Weise, aber er wusste einfach, dass Keno Gewalt angetan worden war. Seine Stimme hatte sich verändert. Ständig schwang eine gewisse Unsicherheit mit, ganz zu schweigen von der fehlenden Sorglosigkeit.
John seufzt einmal tief und versucht, seinen Kopf wieder frei zu bekommen. Jetzt geht es nicht um sein Leid; das ist zweitrangig. Alles was in John‘s Leben wichtig ist, hält ihm gerade mit schiefem Grinsen einen kühlen Drink entgegen. Gott, wäre ich nur schon früher gekommen, wirft John sich ein weiteres Mal vor, seit er die Wahrheit kennt.