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Joel nahm mich zum ersten Mal im Oktober mit auf die Insel, als wir uns einen Monat kannten. Für ihn war es ein toller Herbstausflug, ich fand es entsetzlich. Ich war noch nie Boot gefahren und nie auf dem Meer gewesen, in meiner Familie hatten wir nicht einmal Zeit für Urlaub gehabt. Einmal im Sommer fuhren wir zu Omas Ferienhaus im Seengebiet, und das war etwas völlig anderes als das hier: dieses eisige graue Meer am früh anbrechenden Abend.

Als wir uns in das offene Aluminiumboot setzten, dämmerte es bereits. Es herrschte kein klares Herbstwetter; ein kalter Wind wehte, und es tröpfelte. Ich war gerade aus Asien zurückgekommen, das finnische Wetter ging mir durch Mark und Bein. Ich verstand nicht, was es hier Tolles zu erleben geben sollte. Mit leichter, für mich untypischer Angst zog ich die Rettungsweste über. Ich war es gewohnt, Risiken automatisch abzuschätzen, und wusste, wenn das Boot kenterte, würde uns in dem eisigen Meer niemand vor dem Eintreten der Hypothermie finden. Joel versicherte, ein guter Bootsführer zu sein, aber woher sollte ich das wissen, ich kannte ihn ja noch gar nicht. Bei Männern lohnte es sich, skeptisch zu sein. Vor allem am Anfang einer Beziehung präsentierten sich die meisten gern als Supermänner. Die wenigsten waren es wirklich.

Joel hatte mir aufgetragen, mich vernünftig anzuziehen, aber ich besaß keine Bootskleidung. Während der gesamten zwanzigminütigen Fahrt schlotterte ich in meiner Regenjacke und fragte mich, wo zum Teufel wir eigentlich hinfuhren. Der kalte Wind trieb mir die Tränen in die Augen. Joel versuchte, mir zwischendurch aufmunternd zuzulächeln, er genoss das dunkle Meer und das Salzwasser auf dem Gesicht. Ich nicht. Dennoch lächelte ich zurück, als wäre ich schon mein Leben lang Boot gefahren. Die Wellen krachten gegen den Rumpf, ich hielt mich an beiden Rändern fest und stellte mir dabei vor, dass ich in diesem Moment auch in einer warmen Weinbar sitzen könnte.

Joel hatte erzählt, auf der Insel stehe eine authentische Fischerhütte, die er von seinem Vater geerbt habe und die man mit einem kleinen Ofen schnell heizen könne. Für mich war es eine Bruchbude.

»Es ist herrlich hier«, sagte ich trotzdem, weil ich meinen Unmut verbergen wollte und weil Joel so rührend stolz auf den Ort war.

Mir war vom Kopf bis zu den Zehen eiskalt, und es gab keine Ecke, in der man sich aufwärmen konnte. Wir trugen die Taschen mit den Lebensmitteln in die Hütte, und Joel machte Feuer. Mir dämmerte, dass wir im Kalten schlafen würden. Ich fragte Joel, ob man die Sauna heizen könne, und er bejahte, aber es dauere drei Stunden, bis sie heiß genug sei, denn sein Vater habe natürlich für einen Traditionsofen gesorgt, der langsam heiß werde, dafür aber noch am nächsten Morgen warm wäre. Ich äußerte den Verdacht, am nächsten Morgen bereits tot zu sein.

Joel zündete Sturmlampen an, als wäre er hier zu Hause, während ich mich auf äußerst fremdem Terrain befand. Ich war an primitive Lager in warmen Ländern gewöhnt, wo es genügend Licht und Wärme gab. Das hier war trostloser.

Ich kramte den dicken Norwegerpullover aus meiner durchnässten Tasche – den einzigen, den ich besaß. Joel schien das Nasskalte nicht zu stören. Er werkelte herum und umarmte mich zwischendurch, er schien sich rundum wohlzufühlen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, bis ich auf die Idee kam, die Rotweinflasche zu entkorken. Joel stellte Räucherfisch und Schärenbrot auf den Tisch, seiner Meinung nach war das ein superromantisches Date, bei dem zugleich meine Schärentauglichkeit getestet wurde. Ich selbst fragte mich, ob meine Liebe dafür ausreichte.

Nachdem ich etwas gegessen und zwei Gläser Rotwein getrunken hatte, wurde mir allmählich warm, und ich sah mich ein bisschen um, während Joel die Sauna heizte. Draußen tröpfelte es, und im Licht der Sturmlampen war es doch recht gemütlich. Das Häuschen hatte nur einen Wohnraum und ein Schlafzimmer. Die Küche war klein und primitiv, im Sommer wurde hauptsächlich draußen gekocht. Strom gab es keinen und würde es auch nie geben, aber Joel hatte immerhin zwei Sonnenkollektoren installieren dürfen, durch die der Kühlschrank im Sommer kalt blieb. Hurra. Außerdem hatte er mit seinem Vater eine große Terrasse vor die Hütte gebaut, von der aus man angeblich einen schönen Blick auf das Ufer und das Meer hatte. In der herbstlichen Dunkelheit war die Aussicht natürlich unmöglich zu beurteilen, man sah überall nur schwarzes Meer, nicht einmal Lichter von Nachbarn waren irgendwo zu erkennen.

Damals war ich mir der Einzigartigkeit des Ortes nicht bewusst. Die Insel war groß, immer wieder bekam Joels Vater Angebote für die nördliche Landspitze, aber er wollte nicht verkaufen. Auf der Insel standen hauptsächlich Kiefern, aber neben dem dichten Kiefernwald gab es auch glatte, flache Felsen. Und am südlichen Ufer befand sich ein kleiner Sandstrand. Nachbarn gab es weit und breit keine, die Insel gehörte zum Nationalpark Tammisaari, in dem man nicht so leicht eine Baugenehmigung bekam.

Trotz des klammen Anfangs hielt unsere Beziehung, und im Sommer darauf kam ich erneut zu Besuch. Joels Vater zeigte mir die ganze Insel und machte mich mit einem schiefen Lächeln darauf aufmerksam, wo jeweils welcher Geist und Gnom hauste. Joel hatte auf die Besichtigungstour verzichtet.

Ein wichtiger Geist war eine Kiefer, die am Ufer stand und deren Äste sich teils um den Stamm herumschlangen und sonderbar dem Meer entgegenstreckten. Ursprünglich war sie natürlich wegen der Bäume ringsum und wegen des Platzmangels so gewachsen, aber als nach und nach die anderen Bäume umstürzten oder gefällt wurden, sah man die verschlungene Form mit anderen Augen. Joels Vater meinte, es handle sich um einen Geist, der seine Familie ans Meer verloren habe und sich nun mit seinen Ästen nach ihr strecke. Er tätschelte den Stamm und sagte, das tue er immer, wenn er hier vorbeikomme, damit der Geist nicht zornig werde und niemanden dazu verfluche, im Meer zu landen. Als ich den Baum vom Fenster der Hütte aus betrachtete, musste ich zugeben, dass er vor allem in der Dämmerung tatsächlich wie eine nach dem Meer greifende Gestalt aussah.

Auf dem Festland hatte ich Joels Vater für einen vernünftigen Menschen gehalten, aber auf der Insel bekam ich Zweifel. Er lief in alten, ausgeblichenen Hemden mit Streifen herum und ließ seinen Bart wuchern. An einer Wand hing eine Zaubertrommel, die er zur Freude der Geister abends auf dem Felsen knallen ließ. Um neun wurde immer der Zapfenstreich gespielt, mit der Trommel oder mit dem Horn, das Joel überraschend gut beherrschte, so wie jedes Instrument, das er in die Hand nahm.

Diese Menschen, ihre mystische Liebe zum stürmischen und unberechenbaren Meer, die Veränderung, die sich in ihnen vollzog, wenn sie die Insel betraten – all das war mir neu und fremd. Joel beobachtete immerfort das Wasser und sagte ein ums andere Mal, wie toll es sei, bis auf den Grund sehen zu können. Die Klarheit des Wassers war ein Wert, den ich nicht einmal wahrzunehmen verstand. Doch allmählich begriff ich, dass Joel recht hatte: In Helsinki war das Wasser trüb und schlammig, aber auf der Insel konnte man im Frühling den Blasentang und die dazwischen schwimmenden Fische so deutlich erkennen wie in einem Aquarium.

Ich machte nie Sommerurlaub, und so war Joel in den ersten Jahren unserer Beziehung meistens nur mit seinem Vater auf der Insel. Ich besuchte ihn zweimal pro Sommer und fuhr wieder, sobald mir die Abgeschiedenheit von der Welt zu beklemmend wurde oder wenn wir anfingen, uns wegen meiner mangelhaften Bootsführerkünste zu streiten und darüber, warum ich keine Lust hatte, einen Kurs in Navigation zu machen.

Aber nach dem dritten Sommer blieb ich. Insgeheim hatte ich mich langsam in einen Inselmenschen verwandelt, ich saß abends auf dem Steg und blickte aufs Meer, lauschte dem leisen Rauschen der Wellen. Ich zog einen dicken Pullover an und dachte, dass man sich vor Kälte leichter schützen konnte als vor Hitze. Ich lernte, das Boot zu steuern, und verstand allmählich, wie großartig es war, dem endlosen Horizont entgegenzufahren, immer über die nächste und übernächste Welle hinweg.

Heute beißen die Fische nicht

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