Читать книгу Heute beißen die Fische nicht - Ina Westman - Страница 19
EMMA
ОглавлениеJoel fährt in die Stadt, kommt von dort aber ebenso unruhig zurück, wie er abgefahren ist. Er hat ein geliehenes SUP-Board mitgebracht und unternimmt damit fast jeden Tag einsame Touren auf dem Meer, um sich zu bewegen. Ich weiß, dass er sich nach Abwechslung sehnt, nach dem Meer oder nach der Stadt, der Sommer ist zu lang, und normalerweise unternehmen wir mehr, sind nicht nur auf der Insel.
Normalerweise. Aber nicht jetzt. Ich kann und will nirgendwohin. Joel versucht, meine Krankheit tapfer zu ertragen, darum willige ich in all seine Ausflugsideen ein, auch wenn ich meistens lieber in einem dunklen Zimmer schlafen möchte. Also fahren wir zum Grillen auf eine kleine äußere Schäre.
Der Ort ist ideal für ein Picknick. Die Abendsonne scheint uns direkt ins Gesicht, und die sanft abfallenden, glatten Felsen sind warm von der Sonne. Wir kennen eine Stelle, wo man gut mit dem Boot anlegen kann, wir sind oft mit Freunden hier gewesen. Jetzt sind wir endlich einmal zu dritt.
Joel hat gute Laune, weil er den Grill für die Gemüsepäckchen und die Sojawürstchen anwerfen kann. Fanni untersucht den kleinen Teich in einer Felsmulde, der von interessanten Insekten nur so wimmelt.
In der Ferne segelt ein Boot, ansonsten ist es so vollkommen still und friedlich, dass ich auf dem Felsen einschlafe. Ich wache davon auf, dass mich jemand anstarrt.
Am Ufer liegt ein Boot. Dasselbe, das ich schon einmal gesehen habe, aber nun ist eine Familie an Bord. Sie sitzen im Boot, starren mich aber alle an, als erwarteten sie etwas von mir. Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass sie mir irgendwie bekannt vorkommen, dass ich sie schon einmal irgendwo gesehen habe, es hat mit einer Erinnerung zu tun, an die ich nicht denken will. Es gibt viele Lücken und viel Dunkles in meinem Kopf, Unterbrechungen in der Chronologie, Stimmen, die mir unbekannte Sprachen sprechen.
Joel reicht mir einen alkoholfreien Cider, ich nehme ihn und versuche mich auf meine Familie zu konzentrieren, darauf, ob das Essen schon fertig ist. Aber am Rand meines Blickfeldes liegt die ganze Zeit das Boot, es ist unmöglich, nicht daran zu denken und sich zu fragen, was es hier tut, warum es hier ist.
»Ich gehe kurz ans Ufer, bin gleich zurück«, sage ich zu Joel, während ich aufstehe.
»Das Essen ist fertig, bleib hier«, erwidert er.
»Aber da ist wieder dieses Boot, ich muss es mir ansehen.«
»Was soll da sein?« Joel kann seinen Zorn nur mit Mühe kaschieren.
»Na, das Boot, das ich auf unserer Fahrt zur Insel im Nebel gesehen habe«, sage ich, wobei ich versuche, sorglos zu klingen, obwohl ich das überhaupt nicht bin.
»Wir haben doch schon damals festgestellt, dass dieses Boot eigentlich nicht existiert. Könntest du eventuell in Erwägung ziehen, hierzubleiben, bei uns? Hier zu sitzen und so zu tun, als wäre alles ganz normal und schön, als wären wir dir wichtiger als diese Geister, oder was auch immer sie sind? Wenigstens Fanni zuliebe?«
Einen Moment lang stehe ich ratlos mit dem Cider in der Hand auf dem Felsen, ich nehme einen Schluck, schaue auf das Boot, dann auf meine Familie, ich erkenne die aufrichtige Bitte in Joels Augen, Fanni hält inne und sieht uns an, und ich weiß, dass ich nicht anders kann, die reglose Gestalt des Bootes ist wie ein Magnet, es kommt mir vor, als würden sie mir befehlen, hinzugehen, obwohl ich es nicht will. Oder will ich es? Was passiert, wenn ich nicht hingehe, was passiert, wenn ich gehe, verlässt mich Joel dann, verliere ich meine Familie, oder mich selbst? Ich kann das alles in meinem Kopf nicht ordnen, sosehr ich es auch versuche. Der Reißverschluss fängt an zu spannen, der Schmerz drängt unter der Narbe hervor, ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe, bis ich wieder Medikamente nehmen und mich im dunklen Zimmer einschließen muss.
»Nur ganz kurz, bitte«, sage ich und kehre Joel den Rücken zu, gehe barfuß über die Felsen zum Ufer, stehe vor dem Boot, schaue auf die Familie, versuche mich zu erinnern, wer sie sind, woher sie kommen, was ich ihnen angetan habe.