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JOEL

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Ich versuche zu leben wie sonst, obwohl ich jeden Tag hier wegwill. Früher hätte ich am liebsten das ganze Jahr über auf der Insel gewohnt. Auch dieser Traum wurde nun getestet und für schlecht befunden. Neue Träume habe ich mir noch nicht überlegt, dafür ist derzeit kein Platz. Unser Leben ist gestoppt worden, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt, und ich weiß nicht, was als Nächstes passiert. Dennoch ist es meine Aufgabe, so zu tun, als wäre die Lage unter Kontrolle, als wäre alles gut und normal. Wir machen etwas länger Sommerurlaub als sonst, wir bewegen uns nirgendwohin, sind aber keine Gefangenen auf der Insel. Ist nun mal ein Inselsommer. Es werden auch wieder bessere kommen – man muss nur daran glauben.

Natürlich halte ich wegen Fanni an dem Rollenspiel fest, aber ich weiß nicht, ob sie es mir abnimmt. Fanni hat eine außergewöhnlich feine Intuition, sei es aufgrund ihrer Herkunft oder wegen ihres Charakters. Sie bräuchte kein weiteres Drama in ihrem Leben.

Warum fahre ich nicht weg? Ich fürchte, dass Emma sich endgültig in ihre Vorstellungen verstrickt und etwas Unwiderrufliches tut, wenn ich fortgehe und Fanni mitnehme. Durchaus möglich, dass sie ihren Halluzinationen folgt, ins Meer geht und sich vorstellt, Virginia Woolf zu sein. Jemand muss auf sie aufpassen. Und dieser Jemand bin ich.

Fanni kann ich nicht bei ihr lassen, das wäre verantwortungslos. Fanni hält Emma in der Realität, gerade noch so. Als Mutter ist sie in einzelnen Augenblicken noch die Frau, die ich kenne. Oder kannte. Wenn Fanni weg ist, kann es sein, dass Emma vollkommen verschwindet. Aber ich weiß nicht, ob sie sich noch als Mutter für Fanni eignet.

Wegen Fanni bemühe ich mich auch, an unseren Gewohnheiten festzuhalten. Wir machen mit dem Boot einen Ausflug zu der Schäre, die wir jeden Sommer besuchen, um dort zu grillen. Es ist eine von den äußeren Schären, von den Felsen aus blickt man aufs offene Meer, selten gleitet ein Segelboot vorbei. Fanni ist begeistert und hilft, das Essen zuzubereiten, Emma kommt mir seit Langem mal wieder normal vor. Wir überlegen, an welcher Stelle man am besten zum Schwimmen ins Wasser gehen kann, das Meer hat siebzehn Grad, anderswo gibt es schon erste Anzeichen von Blaualgen, aber hier noch nicht.

Ich denke, dass wir es vielleicht doch schaffen. Vielleicht erholt sich Emma allmählich, dann können wir nach Hause zurückkehren, und sie kann womöglich sogar irgendwann wieder arbeiten. In einem anderen Job, einem gewöhnlichen, einem, bei dem man davon ausgehen kann, dass sie abends lebend nach Hause kommt.

Zufrieden fange ich an zu grillen, Fanni hüpft endlich mal wieder ausgelassen und fröhlich über die Felsen, ohne sich Sorgen um ihre Mutter zu machen. Doch plötzlich wirkt Emma abwesend.

Ich bemühe mich, nicht darauf zu achten, aber wenig später macht sie sich auf den Weg zum Ufer. Dort liegt angeblich ein Boot. Ein Boot, das ihr wichtiger ist als ihre Familie, obwohl es nicht einmal existiert.

Es wäre leichter, wenn sie einen Geliebten hätte, mit dem sie heimlich Textnachrichten austauschen würde. Dann könnte ich ihr das Handy abnehmen und es ins Meer werfen, dann könnte ich dem anderen einen Besuch abstatten und ihm auf die Schnauze hauen. Mir meine Frau zurückerkämpfen.

Aber wie gegen etwas kämpfen, das man nicht sieht? Dessen Existenz einzig und allein in Abwesenheit besteht, in Unsichtbarkeit, und das doch ebenso stark ist wie ein heimlicher Liebhaber, oder noch stärker.

Emma kommt nicht vom Ufer zurück, sie hat uns vergessen. Fanni und ich essen schweigend, ich versuche, über etwas zu reden, aber Fanni ist nicht mehr in Plauderstimmung. Ständig blickt sie auf den Rücken ihrer Mutter, die am Ufer sitzt.

Mir fehlt die Energie, Emma zum Essen zu holen. Fanni füllt ihr einen Teller, aber als Fanni nicht hinsieht, kippe ich das Essen in die Komposttüte.

Wir haben schon fast den heimischen Steg erreicht, als Emma plötzlich zu sich kommt.

»Ich glaube, ich habe vergessen zu essen«, sagt sie und greift nach meinem Arm. »Entschuldige«.

»Bitte Fanni um Entschuldigung«, erwidere ich. »Wegen ihr haben wir den Ausflug schließlich gemacht.«

Emma sagt nichts. Sie kann nicht einmal mehr streiten. Ich würde sie am liebsten anschreien, einen richtigen Streit provozieren, so wie früher, einen, bei dem man sich laut anbrüllt und anschließend versöhnt. Das reinigt die Luft. Aber Emma streitet nicht mehr, es ist sinnlos, mit ihr zu diskutieren: Wenn sie Nein sagt, begründet sie es nicht weiter und verschließt sich danach. Wenn ich mich einmal aufrege und sie anschreie, kann es sein, dass sie danach tagelang stumm in ihrer eigenen Welt bleibt.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal am allermeisten Emmas Temperament und unsere Streitereien vermissen würde. Wir gehen wortlos schlafen, so wie immer, die interessantesten Gespräche hat Emma wieder einmal mit ihrer Vergangenheit in ihrem Kopf geführt. Mir hat sie nichts mehr zu sagen.

Heute beißen die Fische nicht

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