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Anfang September 2015 – München – Heimweh nach Zarifa

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Carina reckte ihr Gesicht in die warme Septembersonne. Sie genoss es, nach so vielen Monaten in Zarifa einmal wieder in München zu sein. Die vergangenen fünf Tage hatte sie mit Freundinnen, Bekannten, vor allem aber mit ihrer Familie verbracht. Sie war einkaufen gewesen, bei ihrem Chef in der Redaktion, hatte beim Kaffee über alte Zeiten getratscht oder sonstige Erledigungen durchgeführt. Ihre Mutter Eva-Maria und ihr Bruder Alex waren genauso wie ihre Tante Martha froh gewesen, sie endlich einmal wieder persönlich zu sehen, auch wenn sie regelmäßig über Skype in Kontakt standen.

Vor allem für ihre Mutter war es allerdings eine herbe Enttäuschung gewesen, dass Carina alleine gekommen war. Es hatte sich bisher weder eine Gelegenheit ergeben, Rayan kennenzulernen, den sie alle nur „Carinas geheimnisvollen Freund“ nannten, noch hatten sie ihre Enkeltochter persönlich getroffen. Es war Alex gewesen, der Eva-Maria und Martha davon überzeugt hatte, dass die moderne Technik die einzige Lösung wäre, ihre Tochter zumindest ab und an zu Gesicht zu bekommen. Genauso wie Sheila.

Die Münchnerin war froh, dass der Scheich seinen Jet, nach seiner überstürzten Abreise zurückgesandt hatte, weil sich sein Aufenthalt in die Länge ziehen würde. So hatte Carina diesen einige Tage später nutzen können und musste nicht den Umweg von Alessia über Dubai im Linienflieger nehmen. Das erschien ihr so mühsam im Vergleich zu der angenehmen und vor allem viel kürzeren Direktstrecke an Bord von Rayans Privatflugzeug.

„Jetzt bin ich auch schon völlig verwöhnt“, lächelte sie über sich selbst. Sie hatte es geschickt verstanden, Tante Martha, die sie am Flughafen München abgeholt hatte, nicht wissen zu lassen, dass sie auf diese elegante Art und Weise eingeflogen worden war.

Spätestens, wenn sie doch irgendwann einmal den Freund ihrer Tochter in natura kennenlernen würden, würde Carina ohnehin einige Erklärungen abgeben müssen. Aktuell dachten sie, die Münchnerin würde in Dubai arbeiten. So war es einfacher, fand sie, obwohl sie die Lüge zunehmend mehr bedauerte. Andererseits: Wie sollte sie sich ein Treffen zwischen dem Scheich der Tarmanen und ihrer Familie, die auf einem Bauernhof außerhalb von München lebten, vorstellen? Die Hartmanns würden mit Sicherheit in kein Flugzeug steigen. Und Rayan? Würde er sie irgendwann einmal in ihr Elternhaus begleiten? Irgendwie erschien ihr die Vorstellung völlig absurd. Sie liebte jeden Quadratmeter an dem alten Gutshaus und sie konnte sich keinen anderen Ort vorstellen, an dem sie lieber aufgewachsen wäre. Aber sie waren einfache Leute, die ihr Leben lang hart für den Erhalt des Hofes gearbeitet hatten. Von daher konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es wäre, wenn diese beiden Welten aufeinanderstießen.

Sie stellte ein wenig bedauernd fest, dass ihr eigenartigerweise mittlerweile vieles aus ihrem alten Leben sehr fremd vorkam.

Zum Beispiel war es ihr früher nie als etwas Besonderes erschienen, einfach nur durch die Fußgängerzone von München zu schlendern. Doch irgendwie hatte sich ihr Fokus komplett verändert. Erstaunt stellte sie fest, dass sie nun Zarifa als ihr Zuhause betrachtete, denn obwohl sie die Abwechslung genoss, sehnte sie sich bereits nach diesen wenigen Tagen dorthin zurück.

Zum einen war es das friedvolle Leben, das sie sich dort inzwischen aufgebaut hatte. Die Gespräche mit Julie und Tahsin, die Treffen mit den anderen Frauen der Tarmanen.

Aber vor allem gab es auch noch einen anderen Punkt: Wenn sie es noch so sehr leugnen wollte, der Hauptgrund, dass sie sich unruhig fühlte, war, dass sie Rayan vermisste. Sie hatte ihn nun seit seiner eiligen Abreise Anfang August nach dem Geständnis dieses Jungen namens Adnan nicht mehr gesehen. Und obwohl sie mehrmals telefoniert hatten, fehlte er ihr. Bei allem, was sie in den vergangenen Tagen gemacht hatte, hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, dieses Erlebnis gerade mit ihm zusammen zu haben.

Gestern zum Beispiel war sie mit zwei ihrer Freundinnen im Freibad gewesen. Dort waren ihr die vielen glücklichen Pärchen förmlich ins Auge gesprungen. Ach wie gerne hätte sie ebenfalls mit ihrem attraktiven, gut gebauten Freund vor den Mädchen angegeben! Dann musste sie lächeln. Rayan als „ihren Freund“ zu bezeichnen, war schon eine interessante Formulierung. Und sich vorzustellen, wie er mit ihr zusammen genau wie die Anderen durchs Wasser tobte – undenkbar. Das ging vielleicht in Zarifa, aber spätestens, wenn Rayan unter Leuten war, änderte er sich vollkommen. Je nachdem, mit wem er es gerade zu tun hatte. Manchmal konnte er liebevoll und besorgt sein – vor allem ihr und seinem Sohn Tahsin gegenüber – dann wieder war er grausam und gefährlich. Eine explosive Mischung, die Carina aber inzwischen gut zu handeln gelernt hatte.

Nun, da sie bekommen hatte, was sie wollte, gestand sie sich ein, dass sie auf die Zeit in München vor allem deshalb so gedrängt hatte, weil sie austesten wollte, ob er sie gehen lassen würde. Und der Scheich hatte sie überrascht, indem er ihrem Wunsch relativ schnell und unkompliziert entsprochen hatte. Lediglich zwei Leibwächter hatte er ihr „aufs Auge gedrückt“, die jedoch auf ihre Bitte hin entsprechenden Abstand hielten. Jetzt gerade warteten sie zum Beispiel außerhalb des Grundstücks auf der anderen Straßenseite. Wie hätte sie sonst ihren Freundinnen die Anwesenheit der beiden Männer erklären sollen? Auch im Freibad hatten sie draußen vor der Tür gewartet. Carina war klar, dass Rayan einen Tobsuchtsanfall kriegen würde, wenn er davon erfahren sollte. Aber sie hatte nicht vor, es ihm zu berichten, wenn sie sich in Zarifa in einigen Tagen wiedertrafen.

Nun saß sie also hier, in der Sonne, im Garten ihrer Freundin Sandra, die morgen heiraten würde. Carina graute schon jetzt vor dem kommenden Tag. Bereits heute waren alle so übertrieben romantisch und glücklich und jeder präsentierte seine Partnerschaft im besten Licht. „Hochzeitsfieber“ nannte Carina das. Als müsste jeder dem anderen beweisen, dass die Ehe das höchste aller Ziele im Leben war. Und nicht nur dem anderen – am meisten wohl sich selbst. Sie saß im Moment in einer Runde mit drei ihrer Freundinnen, die morgen auch die Brautjungfern sein würden. Nachdem Carina erst kurzfristig noch zugesagt hatte, war sie selbst leider außen vor. Schon der erste Grund, warum sie sich schon den ganzen Nachmittag lang ausgeschlossen fühlte. Die jungen Frauen diskutieren den Ablauf der morgigen Zeremonie, den Schnitt ihrer Kleider und ihre Aufgaben, die sie übernommen hatten.

Ein weiterer Punkt, der sie in ihren Augen anders machte, war, dass alle drei ihren Partner mit dabei hatten und in dieser Clique viel Zeit miteinander verbrachten. Es gab also reichlich gemeinsame Erlebnisse, bei denen sie nicht mitreden konnte.

Das Schlimmste aber war, dass sie Carina offenbar als ihre Chance auf Neuigkeiten und frischen Klatsch und Tratsch betrachteten. Natürlich hatten sie ihr Buch gelesen - oder behaupteten das zumindest - und bearbeiteten sie permanent, wie dieser Scheich denn so privat sei, ob sie mit ihm eine Affäre gehabt habe und so weiter. Und wenn nicht mit ihm, so gab es doch bestimmt noch andere attraktive und geheimnisvolle Männer dort? Ein Tagebuch über ihr Liebesleben – aber bitte mit allen Details! Das wäre der Wunsch der drei Frauen.

In den vergangenen Tagen hatte sie es geschickt verstanden, allen Fragen auszuweichen. Wie sollte sie nur annähernd ihre Beziehung zu Rayan beschreiben? Und nun saßen sie zu allem Überfluss bereits seit dem frühen Nachmittag zusammen. Irgendwann hatte Carina den Fehler gemacht, entnervt zuzugeben, dass sie „jemanden hatte“. Sie hatte gehofft, dann ihre Ruhe zu haben, weil die Mädels ihr einfach das Jungferndasein nicht abnahmen. Doch das hatte alles noch schlimmer gemacht, nun wollten sie erst recht Details wissen. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen - war sie nicht früher genauso gewesen? Aber wie hätte sie ihr Leben mit Rayan erklären können? „Ach wisst ihr, neulich hat er einen Mann hinrichten lassen, weil dieser ihn beleidigt hatte …“, kein allzu gutes Tischgespräch! Ein eigenartiges Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sich vorstellte, wie ihre Freundinnen wohl DARAUF reagieren würden.

Um sich abzulenken, blendete sie alle Fragen aus und betrachtete stattdessen den wunderschönen Garten, den Sandra sich zusammen mit ihrem zukünftigen Mann Joachim hatte anlegen lassen. Seine Familie zählte zu einer der Reichsten in München, weshalb sie sich das Haus mit ausgedehntem Anwesen durchaus leisten konnten.

Die „Grillparty“, die man anstatt eines Polterabends veranstaltete, hatte sie sich etwas intimer vorgestellt. Im kleinen Kreis, mit alten Bekannten. Stattdessen mussten es wohl etwa siebzig Personen sein, die hier waren. Die arme Sandra kam kaum noch nach, mit allen wenigstens ein paar Worte zu wechseln. Sie wirkte ziemlich mitgenommen, und das bereits am Tag vor dem großen Ereignis!

„Wenn ich jemals heiraten sollte, dann bestimmt nicht in so einem großen Rahmen!“, dachte Carina ein wenig amüsiert. „Die meisten sind nur hier, um umsonst Champagner zu schlürfen und ihre feinen Klamotten auszuführen.“ Dann fiel ihr ein, dass sie das wohl nie erleben würde. Rayan und heiraten? Diese beiden Worte passten einfach nicht in einen Satz. Wobei er ja sogar genau genommen Witwer war. Amina, die Mutter von Tahsin, war gestorben, als dieser noch sehr klein war. Die genauen Umstände kannte sie nicht. Aber das war wohl genug an offiziellen Verpflichtungen für Rayan gewesen. Sie seufzte, was für ihre Freundinnen ein Signal war, ihre Befragung unbarmherzig fortzusetzen. Doch dann brach Lisa auf einmal mitten im Satz ab. Wie gebannt starrte sie hinüber zum Haus. „Hallo, hallo!“, sagte sie und pfiff wenig damenhaft durch ihre Zähne. „Wen haben wir denn da?“, fuhr sie fort. Was die beiden anderen Mädchen, Susi und Jeanette, ebenfalls Richtung der Terrasse schauen ließen. Aufgeregt begannen sie, den Neuankömmling zu diskutieren. Carina hörte nicht zu. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr die gemütlichen Gespräche mit Julie auf der Terrasse des Herrenhauses in Zarifa derart fehlen würden.

Rayan - Der Stich des Skorpions

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