Читать книгу Rayan - Der Stich des Skorpions - Indira Jackson - Страница 11

Ende Juni 2015 – Zarifa: Bergwelt – Bezahlung einer Schuld

Оглавление

„Verzeiht mir Herr“, entschuldigte sich der Junge zerknirscht und setzte sich wieder hin. Seine Freunde hatten ihm schon dermaßen zugesetzt, dass er bei diesem Thema überempfindlich reagierte. Zudem hatte er tatsächlich einen Moment lang vergessen, mit wem er es zu tun hatte. Er konnte es ja noch immer nicht glauben, diese ganze Begegnung war einfach zu unwirklich.

„Aber es würde Euch sicher auch nicht gefallen, als Feigling bezeichnet zu werden“, setzte er trotzig noch dazu.

Ernst antwortete Rayan: „Ja, da hast du recht. Also: Erkläre es mir – warum hast du deinen Kameraden den Rücken gekehrt, wenn du so gerne ein Kämpfer wärst?“

„Es war einfach nicht fair!“, empörte sich der Junge nun. „Ich habe nichts falsch gemacht, und trotzdem wollten sie mich bestrafen!“

„Du hattest Wache, während dieses Pferd gestohlen wurde – oder willst du das leugnen?“, fragte Rayan ruhig. Also kannte er Alesers Geschichte doch. Mit empörter Stimme rechtfertigte der Junge sich nun: „Nein! Aber sie haben gesagt, ich werde bestraft, weil ich geschlafen habe. Ich weiß, wie wichtig es Euch ist - wie wichtig es für uns alle ist - dass derjenige, der Wache hat, zu jeder Zeit seine Pflicht tut. Ich habe nicht geschlafen! Hätte ich die Strafe akzeptiert, hätte ich zugegeben, dass das Pferd verschwunden ist, weil ich nicht auf meinem Posten war.“

Rayan seufzte und schüttelte mit dem Kopf: „Du zerstörst dein Leben, deinen zukünftigen Lebensweg, weil du findest, dass diese Situation nicht FAIR war? Hast du dir das gut überlegt? Wie lange glaubst du, kommst du noch damit durch, dich zum Trainieren heimlich wegzuschleichen? Ich denke, du kommst deshalb immer wieder hierher, weil du im Grunde weißt, dass deine Entscheidung falsch war. Was glaubst du, wie zufrieden wirst du in fünf Jahren sein, als Bäcker? Und in zehn?“ Der Scheich ließ dem Jungen einige Sekunden, um über seine Worte nachzudenken, dann fuhr er fort: „Und seit wann ist das Leben immer gerecht? Ich könnte dir so viele Geschichten erzählen. Er hielt inne und versank einige Minuten lang in den Schatten seiner Vergangenheit. Gespannt schwieg Aleser. Er spürte, dass der Scheich noch nicht fertig war.

„Hör zu, Aleser. Ich werde deine Ausflüge für mich behalten. Aber glaube nicht, dass ich dich schützen werde, wenn jemand anderer dir auf die Schliche kommt. Als Gegenleistung will ich, dass du mir versprichst, dass du ernsthaft darüber nachdenkst, deine Entscheidung rückgängig zu machen. Zeige ihnen, dass die Gerüchte falsch sind und du keine Angst vor der Peitsche hast.“

„Dann glaubt Ihr mir, Herr, dass ich nicht geschlafen habe?“, fragte Aleser atemlos. Rayan lächelte traurig: „Aber natürlich. Ich weiß es sogar. Denn ich war dort in dieser Nacht, in der Oase von Farah.“

Fassungslos starrte der Junge seinen Scheich an. „Wieso? Wie?“ Und auf einmal dämmerte ihm die Wahrheit: „Ihr wart das? Ihr habt das Pferd gestohlen? Wieso? Ich hätte es Euch gegeben – Jeder hätte das …?!“ Er verstummte. Mit entschlossener Stimme entgegnete ihm Rayan: „Ja, ich habe dieses Pferd GENOMMEN. Somit war es kein Diebstahl“, er lächelte einen Moment nachsichtig, dann fuhr er fort: „Aber ich werde mich vor dir nicht rechtfertigen. Es muss dir genügen, dass es einen Sinn hatte, warum ich es getan habe und vor allem WIE ich es getan habe.“ Sein Tonfall verriet, dass das Thema damit für ihn abgeschlossen war.

„Aber dann braucht Ihr doch nur bezeugen, dass ich nicht geschlafen habe und alles ist gut …“, fragte der 18-Jährige hoffnungsvoll. Umso mehr schockierte ihn die prompte Antwort: „Nein, das kann und werde ich nicht tun. Es tut mir leid. Ich habe dir gesagt, dass das Leben nicht immer gerecht ist. Und selbstverständlich erwarte ich, dass du zu niemandem auch nur einen Laut darüber sprichst. Das ist mein voller Ernst! Ein Wort zu irgendjemandem, und ich komme dich holen!“ Den letzten Halbsatz hatte der Scheich so hart ausgesprochen, dass dem Jungen ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief.

„Ich werde niemandem etwas sagen, ich verspreche es!“, versicherte er schnell. Rayan nickte zufrieden. Er war sich sicher, dass Aleser seine Zusage halten würde. Gerne hätte er ihm geholfen. Doch damit würde er zugeben, dass er verzweifelt und ohne jede Erinnerung nach einem Strohhalm gegriffen hatte. Nicht gerade der Stoff, aus dem Heldengeschichten gemacht waren. Hanif hatte recht: Niemals sollte jemand erfahren, wie schwach und verletzlich er gewesen war. Nur seinem Ruf war es zu verdanken, dass der größte Teil seiner Gegner es gar nicht erst wagte, gegen ihn oder die Tarmanen vorzugehen. Somit diente die Unversehrtheit seines Rufes dem Schutz seines ganzen Volkes. Das durfte er nicht für einen einzelnen Jungen gefährden.

„Aber warum habt Ihr mir dann überhaupt davon erzählt?“, unterbrach Aleser vorsichtig Rayans Gedankengänge.

„Weil ich will, dass du deine Entscheidung rückgängig machst. Du hast viel Potential, du wirst ein guter Krieger werden. Besser als du es als Bäcker je sein könntest“, fügte er grinsend hinzu. „Wie wichtig ist es dir, dass dein Gruppenführer eine falsche Vermutung hat, wenn ich, dein Scheich, die Wahrheit kenne?“

Sprachlos sah Aleser seinen Herrn an - auf diese Idee war er noch nicht gekommen.

„Und was wäre mit der Strafe? Auf Einschlafen bei der Wache stehen zwölf Peitschenhiebe …“, die Stimme des Jungen versagte, offenbar stellte er sich gerade das Ausmaß vor. Er schluckte und konnte nicht verhindern, dass er eine Gänsehaut bekam.

„Es tut mir leid, aber das Urteil wurde bereits gefällt. Wir sind ein stolzes Volk. Dieser Stolz ist es, der uns von anderen unterscheidet. Ich kann den Beschluss eines meiner Gruppenführer nicht rückgängig machen, ohne ihn bloßzustellen. Und schon gar nicht ohne einen Grund anzugeben. Die Entscheidung liegt bei dir.“

„Wird er mich denn überhaupt noch einmal neu entscheiden lassen?“, fiel Aleser ein.

„Das kann ich dir allerdings versprechen. Soviel könnte ich tun, ohne jemandem zu schaden.“ Er stand auf. „Jetzt lass uns schlafen gehen. Ich werde morgen sehr früh zurückreiten.“

Als Rayan schon fast in seinem Zelt war, holte ihn eine weitere Frage des Jungen ein: „War dies der Grund, warum Ihr hier seid, Herr? Seid Ihr wirklich nur wegen mir gekommen und damit Ihr mich jetzt erneut vor diese Entscheidung stellt?“

„Du bist ein kluger Junge. Ich war der Meinung, dass ich dir zumindest einen Teil der Wahrheit schulde. Und ich bezahle meine Schulden immer. Gute Nacht!“

Mit offenem Mund sah Aleser dem Scheich hinterher. Dann starrte er noch lange ins Feuer.

Rayan - Der Stich des Skorpions

Подняться наверх