Читать книгу Rayan - Der Stich des Skorpions - Indira Jackson - Страница 20

Anfang August 2015 - USA: Charlotte – Die Aussprache

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Als Hummer und Cho in Yasin Tanners Büro eintraten, stand dieser abwartend mit dem Rücken zu ihnen vor der großen Glasfront und sah hinaus über die Skyline von Charlotte. Er liebte diese im Vergleich zu vielen Städten in den USA nicht sehr große Metropole. Die Sehenswürdigkeiten ließen sich zwar an einer Hand abzählen, aber die modernen Bauten der Hochhäuser und die generelle Sauberkeit machten die Stadt sehenswert. Zudem war jeder Punkt schnell erreichbar. Vom Flughafen zum Büro von TanSEC im Bankenzentrum in Downtown benötigte man noch nicht einmal eine Viertelstunde.

Schnell schloss Tamara die Tür von Mr. Tanners Büro geräuschlos hinter ihren beiden anderen Chefs, denn ihr war klar, dass sie alles, was jetzt kam, nichts anging. Trotzdem bereute sie vielleicht zum ersten Mal in ihrer Zeit bei TanSEC, dass die Räume alle schallisoliert waren. Das verstand sich von selbst, denn schließlich arbeiteten sie in der Sicherheitsbranche. Doch diesmal hätte sie zu gerne gehört, was zwischen den drei, sonst so miteinander harmonierenden Männern, vorgefallen war.

Seufzend machte sie sich eilig auf den Weg zurück ins Besprechungszimmer, wo es nun wohl an ihr sein würde, die Kunden bei Laune zu halten, bis die drei Herren ihre Fronten geklärt hatten.

„Hallo Yasin“, sagte Cho betont fröhlich. Er kannte ihren Freund inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dieser mit Vorsicht zu genießen war. Zwar hatte er keine Angst vor ihm – einer der wenigen Menschen überhaupt, die das von sich behaupten konnten – aber er wollte auch keine Auseinandersetzung provozieren.

Rayan hatte die kurze Wartezeit mit sehr gemischten Emotionen verbracht. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er heute keinen Blick übrig für das großartige Gemälde einer Wüstenlandschaft, dass fast die komplette Wand gegenüber der Eingangstüre in seinem Büro einnahm.

Wie hatten seine Freunde ihm alleine den Verdacht, dass der Absturz kein tragischer Unfall gewesen war, verheimlichen können? Und was fiel ihnen ein, einen Verräter einfach so gehen zu lassen? Ihm sogar noch zu raten, das Weite zu suchen? Was war mit den drei Toten, die Zarifa zu beklagen hatte? Der Scheich hatte persönlich nach seiner Rückkehr mit den Hinterbliebenen gesprochen, was keine angenehme Aufgabe gewesen war. Und was wäre gewesen, wenn Carina oder dem Baby – oder beiden! - etwas passiert wäre? Wie sollte er jetzt mit seinen beiden Mit-Firmeninhabern umgehen?

Es gab in Zarifa eine einfache Regel: wer einem Verräter wissentlich half, der wurde selbst zum Verräter. Und auf Verrat stand der Tod. Nun hatte er nicht wirklich vor, seine beiden Freunde hinzurichten. Ihm war klar, dass er noch nicht einmal das Recht hatte, sie zu bestrafen. Aber wie sollte er dann mit dieser Sachlage umgehen? Was hätte er jetzt dafür gegeben, mit Jack Tanner reden zu können. Dieser war stets derjenige gewesen, der ihm in derartigen Situationen mit seinem väterlichen Rat weitergeholfen hatte.

Das Schlimmste an diesen Gefühlen war noch nicht einmal die Wut auf die beiden. Sondern die Enttäuschung, die er verspürte: er fühlte sich wirklich von ihnen verraten. Der Scheich in ihm wusste, was zu tun wäre, wie aber ging man als Freund mit einem solchen Vergehen um? Auf jeden Fall musste er ihnen klar machen, wie ernst ihr Verhalten nach seinen Maßstäben war.

So hatte er bereits den Langstreckenflug tief in Gedanken verbracht, sein Gesicht starr wie eine Maske. Wieder und wieder kreisten seine Gedanken um das, was der Mann aus Alessia ihm gebeichtet hatte.

Selbst Jassim war in München nur schwer davon abzuhalten gewesen, seinen Herrn zu begleiten. Er hatte zu recht argumentiert, dass es gefährlich war, wenn dieser auf sich alleine gestellt war, während er so unaufmerksam war. Er hatte genügend Feinde, für die ein solcher Moment eine passende Gelegenheit wäre.

Erst als Rayan seinen Leibwächter wenig rücksichtsvoll an ihr letztes gemeinsames Erlebnis im Ausland – in London - erinnerte, bei dem Jassim selbst gerettet werden musste, gab der Tarmane nach.

In dem Moment, in dem Rayan sich nun in seinem Büro bei TanSEC angesichts der Begrüßung des Japaners umdrehte, wurde Chos Verdacht zur Gewissheit: Ihr Freund war blass, hatte Augenringe und seine Augen leuchteten kalt. Die Distanz, die er dadurch ihnen gegenüber ausstrahlte, betrübte den Asiaten.

„Warum habt ihr es mir nicht gesagt?“, fragte Rayan mühsam beherrscht. „Ich hätte es als Erster erfahren müssen.“

„Weil wir sicher sein wollten. Uns ist klar, wie heiß diese Geschichte ist. Glaubst du, wir wollen etwas lostreten, ohne hundertprozentig überzeugt zu sein?“, meldete sich nun auch Hummer zu Wort. Auch er war deutlich um Deeskalation bemüht.

„Und? Seid ihr nun sicher, meine FREUNDE? Was mehr als die Aussage von diesem … diesem Verräter habt ihr gebraucht?“ Er betonte das Wort „Freunde“ dabei so, dass die dahinter verborgene Anklage deutlich wurde.

„Jetzt beruhige dich doch erst einmal und lass uns alles erklären, o. k.?“, sagte Cho, „Zumindest das bist du uns schuldig …“

„Dann bin ich jetzt aber gespannt … wie du diesen VERRAT erklären willst“, zischte Rayan deutlicher werdend. Bei dem Wort zog Hummer bedrohlich die Luft ein. Auch er hatte seinen Stolz. Cho sah schon einen handfesten Streit heraufziehen und beeilte sich, weiterzusprechen, um die Situation möglichst schnell zu entschärfen: „Dieser Adnan ist nur ein kleines Licht …“, begann Cho betont ruhig.

„WAR – er WAR ein kleines Licht“, korrigierte Rayan ätzend.

Dass Cho und Hummer daraufhin einen Blick tauschten, der sagte: „Siehst du, hab ich es doch gewusst“, brachte ihn an den Rand seiner Selbstbeherrschung. Er fühlte sich ausgeschlossen, als wäre er nicht mehr Teil ihres Teams. Und in gewisser Weise war das auch der Fall, denn sobald in Rayan „der Scheich durchbrach“ – wie die beiden das unter sich nannten -, fühlten sich die beiden Amerikaner, als hätten sie es mit einem komplett anderen Menschen zu tun. Sie konnten dann die Handlungen und Ansichten ihres Freundes nicht immer nachvollziehen. Über einen Menschen zu richten zum Beispiel und gleich auch noch Henker in einer Person zu sein. Und dann dieser unbändige Stolz, auch den würden sie wohl nie in dieser Intensität nachempfinden können.

„Wir wollten die Hintermänner kriegen und haben ihm versprochen, ihn laufen zu lassen, wenn er uns hilft.“

„Ein Versprechen, welches euch nicht zustand“, unterbrach Rayan wieder, zwar etwas ruhiger, aber noch immer kalt.

Cho seufzte. „Was hätten wir deiner Meinung nach tun sollen? Die Wahrheit aus ihm herausprügeln?“ Eigentlich hätte dies eine sarkastische Frage sein sollen. Doch als er Rayans Miene sah, die ihm sagte, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, wartete er keine Antwort ab und fuhr fort. „Nun gut. Wir haben diesbezüglich also unterschiedliche Ansichten. Wie bist du überhaupt an ihn gekommen, ich dachte, er ist schon lange ganz weit weg?“

„Er wollte sein Gewissen erleichtern“, sagte Rayan sarkastisch. Dabei umspielte ein Lächeln seine Lippen, welches Cho nun doch eine Gänsehaut verursachte. Er musste sich beherrschen, um nicht erneut einen vielsagenden Blick mit Hummer zu tauschen.

Etwas ruhiger erklärte Rayan: „Er war ein Verräter und hat die Strafe bekommen, die er verdient hat.“

„Was hat er dann davon gehabt, dass er sein Gewissen erleichtert hat?“, fragte nun Hummer ironisch, dem das Ganze hin und her langsam auf die Nerven ging.

„Dass es schnell vorbei war. Normalerweise ist die Strafe für einen derartigen Verrat ein langsamer und qualvoller Tod.“

Wieder war es die unerschütterliche Selbstverständlichkeit, mit der ihr Freund gesprochen hatte, die den beiden den tiefen Graben aufzeigte, der sich auf einmal zwischen ihnen aufgetan zu haben schien. Und als wäre das noch nicht genug, fügte Rayan hinzu: „Die gleiche Regel gilt übrigens auch für alle, die einem Verräter wissentlich zur Flucht verhelfen.“

Im gleichen Moment spürte Cho förmlich, wie Hummers Geduldsfaden riss.

„Jetzt hör mal zu, du Wichtigtuer!“, grollte der Riese da auch schon. „Du bist hier nicht in deiner Wüste. Deine Regeln sind mir hier scheißegal, verstanden? Und wir sind genauso betroffen – auch für uns war Jack Tanner wie ein Vater …“ Im gleichen Moment hielt er entsetzt inne, denn er erkannte, dass er in seinem Ärger zu viel herausgeplatzt hatte.

Rayan hingegen sah ihn an, als hätte er einen Geist gesehen. Sein trainiertes Gehirn benötigte nur Sekundenbruchteile, um Hummers Beleidigungen auszuklammern und sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Und den richtigen Schluss zu ziehen.

Auf einmal wurde er trotz seiner ohnehin schon ungesunden Hautfarbe weiß wie eine Wand. Der Raum schien sich auf einmal um ihn zu drehen. Schwankend bemühte er sich auf der Suche nach Halt, zu seinem Schreibtisch zu kommen. Dort angekommen stellte er sich breitbeinig hin. Mit beiden Händen stützte er sich auf die Tischplatte und ließ den Kopf einige Sekunden zwischen den Schultern hängen. Er verbannte alle Gedanken und konzentrierte sich auf seine Atmung, so wie er es für Krisenfälle gelernt hatte. Und dies war definitiv einer. Von jetzt auf gleich schlug Hummer ihm um die Ohren, dass sein Adoptivvater, den er mehr geliebt hatte, als er das bei seinem leiblichen Vater je vermocht hatte, keineswegs aufgrund des technischen Defekt seines Flugzeugs gestorben, sondern ERMORDET worden war? Denn die Bemerkung konnte nur eines bedeuten: die Beechcraft war manipuliert worden, genauso wie seine Transall im letzten Jahr.

In dieser Haltung sah er nicht, dass Cho dem schwarzen Riesen mit den Ellbogen in den Magen stieß und ihn gleichzeitig tadelnd ansah. Der bereute seinen Ausbruch zutiefst und flüsterte für seine Körpergröße überraschend leise: „Yasin – hör zu! Es tut mir leid. Das hätte ich dir nicht so hinknallen dürfen …“

Er wollte noch mehr sagen, doch Rayan schüttelte mit dem Kopf. „Lasst mich jetzt bitte alleine“, flüsterte er tonlos.

Beide Freunde tauschten erneut einen Blick. In jahrelanger Übung hatten sie eine wortlose Kommunikation aufgebaut, die seinesgleichen suchte. Diese hier sagte: „Meinst du wirklich, dass wir ihn jetzt alleine lassen sollen?“, und kurz darauf: „ja, das ist wohl jetzt das Beste.“

Beim Hinausgehen sah Cho, wie Rayan auf seinen Stuhl sank, die Arme auf die Lehnen legte und wie in Trance vor sich auf die Tischplatte starrte. Seine Finger krampften sich zusammen, bis die Knöchel weiß wurden.

Rayan - Der Stich des Skorpions

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