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Antijüdische Verordnungen

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Da die belgische Verfassung die Erhebung der Religionszugehörigkeit verbot, weiß man nicht genau, wie groß die jüdische Gemeinschaft im Frühjahr 1940 war29. 65 000 Juden, die vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht in Belgien lebten, sind nach 1945 von den belgischen Behörden namentlich identifiziert worden. Doch ist beispielsweise ungeklärt, wie viele der jüdischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reichsgebiet – 25 000 von ihnen sollen sich noch am 10. Mai 1940 in Belgien aufgehalten haben30 – sich überhaupt in ihrem Zufluchtland hatten registrieren lassen. Auch gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie vielen Juden nach der deutschen Invasion die Flucht aus Belgien gelang. Zudem wies die belgische Administration noch in den Maitagen 1940 annähernd 10 000 „unerwünschte Ausländer“ – in der Mehrzahl Juden – nach Frankreich aus. Fest steht hingegen, welchen Personenkreis die deutschen Machthaber in Belgien ausfindig machten: In der überlieferten Kartei des „Judenreferats“ der Brüsseler Sipo-SD sind 56 186 Frauen, Männer und Kinder registriert, die den deutschen Bestimmungen zufolge als Juden galten31. Weniger als sieben Prozent von ihnen besaßen die belgische Staatsangehörigkeit. Bei den Juden in Belgien handelte es sich überwiegend um Immigranten, die seit dem späten 19. Jahrhundert vorrangig aus Osteuropa gekommen bzw. seit 1933 und vor allem 1938 / 39 aus Deutschland geflohen waren. Polnische Staatsangehörige standen mit Abstand an erster Stelle. Ein großer Teil der jüdischen Einwanderer arbeitete in kleinen Handwerks- und Familienbetrieben, die sich in der Textil- und Lederbranche oder, insbesondere in Antwerpen, im Diamantensektor konzentrierten. Die jüdische Bevölkerung lebte – von wenigen tausend Personen in anderen Städten abgesehen – in Antwerpen und Brüssel. Waren noch Anfang 1941 wesentlich mehr Juden in der flämischen Metropole registriert als in der belgischen Hauptstadt, so kehrte sich das Zahlenverhältnis bis zum Frühjahr 1942 um, da die Besatzer die Verfolgung in Antwerpen schärfer vorantrieben als in Brüssel.

Als die Militärverwaltung die Generalsekretäre im Oktober 1940 zur Herausgabe einer Verordnung aufforderte, die u. a. die Registrierung der Juden und ihrer Vermögen sowie ihren Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst beinhalten sollte, lehnten diese ab, wobei sie sich ausdrücklich auf die belgische Verfassung beriefen, vor der alle Belgier gleich seien, und auf Artikel 43 der HLKO hinwiesen, der den Besatzer zur Beachtung der Landesgesetze verpflichtet32. Daraufhin erließ der Militärbefehlshaber am 28. Oktober 1940 selbst eine erste „Judenverordnung“. Sie umfasste die Definition und Registrierung, das Rückkehrverbot für Juden, die vor dem deutschen Einmarsch nach Frankreich geflohen waren, die Anmeldung und das Verfügungsverbot von bzw. über Unternehmen sowie die Kennzeichnung von Gaststätten jüdischer Inhaber. Eine weitere Verordnung vom gleichen Tag schloss Juden aus dem öffentlichen Dienst und öffentlichen Ämtern aus33.

Die Unvereinbarkeit dieser Verordnungen mit der belgischen Verfassung hinderte die Generalsekretäre und die Kommunalverwaltungen allerdings nicht daran, bei der Umsetzung mitzuwirken. Denn das mit hochrangigen belgischen Juristen besetzte Comité permanent du Conseil de Législation – ein einflussreiches Beratungsgremium – traf die folgenschwere Entscheidung, dass die „passive Mitwirkung“ (collaboration passive) bei der Durchführung der Verordnungen mit dem belgischen Recht vereinbar sei34. Die Kommunen legten – wenngleich manche zunächst eine gewisse Hinhaltetaktik verfolgten – „Judenregister“ an und sorgten für die Entlassung der relativ wenigen im öffentlichen Dienst beschäftigten Juden. Anders verhielt es sich mit der Registrierung der Unternehmen, die die Militärverwaltung selbst durchführen musste. Das gleiche gilt für den gesamten Prozess der sogenannten „Arisierung“. Die grundlegenden Verordnungen zur Ausplünderung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung ergingen im Mai 1941 von Seiten des Militärbefehlshabers, und an ihrer Umsetzung war die belgische Administration nicht beteiligt. Militärverwaltungschef Reeder betonte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den grundlegenden Unterschied zwischen den Besatzungsstrukturen in Frankreich und in Belgien:

„ Während die französische Regierung unter der Leitung des Marschalls als Staatschef souverän und selbstverantwortlich ist, fühlen sich die belgischen Generalsekretäre weitgehend nur als Platzhalter und sind innerlich um so unsicherer, als sie – oft ungewollt – von London beeinflusst werden, von wo das Ministerium Pierlot durch Rundfunk und Flugblätter ihnen laufend Anweisungen zu erteilen versucht […].

Insofern muss hier die Militärverwaltung von sich aus manche Maßnahmen erzwingen oder selbstverantwortlich durchführen, die in Frankreich die Regierung unter dem Staatschef von sich aus treffen kann und auch trifft. Dies galt in den letzten Monaten insbesondere für die politischen Maßnahmen, z. B. gegen die Juden, Freimaurer, Kommunisten; Anordnungen, die in Frankreich von der französischen Regierung und ihren Organen beschlossen und durch ihre Organe durchgeführt werden, in Belgien dagegen von der Militärverwaltung getroffen werden mussten.“35

Bestrebt, ihren Einfluss auf die belgische Verwaltung zu verstärken, sorgte die Militärverwaltung dafür, dass das Innenministerium ab April 1941 dem VNV-Angehörigen Gerard Romsée unterstellt wurde, dessen bereitwillige Kooperation mit der Besatzungsmacht Reeder in der Folgezeit unablässig in seinen Berichten hervorheben sollte. Romsée hatte zuvor, seit dem Sommer 1940, den Posten des Gouverneurs der Provinz Limburg bekleidet, und in diesem Zusammenhang die Kontrolle der etwa 3300 Juden organisiert, die auf Weisung von Falkenhausens Ende 1940 und Anfang 1941 unter militärischen Vorwänden aus Antwerpen nach Limburg deportiert worden waren36. An der Spitze des Innenministeriums angelangt, wies Romsée die belgischen Kommunen auf deutsche Veranlassung im Juli 1941 an, die Ausweise von Juden mit dem roten Stempel „JUIF-JOOD“ zu versehen und der Sipo-SD Abschriften der kommunalen Judenregister zuzusenden. Diese Kopien dienten zur Anlage der deutschen Judenkartei. Eine im November 1941 vom Militärbefehlshaber gegründete Zwangsvereinigung der Juden in Belgien (Association des Juifs en Belgique – AJB) sollte den Ausschluss aus der belgischen Gesellschaft vervollständigen und den Besatzungsdienststellen zugleich als zentraler Ansprechpartner bei der Durchführung der antijüdischen Maßnahmen dienen. Ein halbes Jahr darauf radikalisierte die Militärverwaltung die Judenverfolgung mit einer Serie von Verordnungen, die der Deportation nach Auschwitz unmittelbar vorausgingen.

Die Shoah in Belgien

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