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„Die Abschiebungsaktion nimmt trotz der Schwierigkeiten ihren Fortgang“

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Am 15. September 1942 fuhr der Transport Nr. X mit 1048 Juden aus dem Lager Malines ab. Seit Anfang August, also in nur sechs Wochen, hatten die deutschen Besatzungsbehörden insgesamt 10 040 Frauen, Männer und Kinder nach Auschwitz deportiert. Damit hatten sie das im Juni 1942 von Eichmann und seinen Mitarbeitern vereinbarte erste Programm pünktlich erfüllt. Sowohl Reeder als auch der BdS Ehlers meldeten die Deportation von 10 000 Juden in ihren Berichten vom 15. September nach Berlin. Dabei wies jedoch insbesondere die Sipo-SD auf die massive Gegenwehr der Opfer hin. Die Juden hatten sich zum größten Teil den zunächst ausgegebenen Arbeitseinsatzbefehlen widersetzt. Infolge der daraufhin von den Deutschen eingeleiteten Verhaftungen waren sie massenhaft aus ihren Wohnungen geflohen und hatten sich falsche Ausweispapiere beschafft. Zudem registrierten die Besatzungsorgane ihre verzweifelten Versuche, aus dem besetzten Belgien in die noch unbesetzte französische Südzone zu fliehen145. Der Brüsseler Vertreter des Auswärtigen Amts fasste die Erkenntnisse des BdS über die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung zusammen, als er seinerseits die Wilhelmstraße informierte:

„Die bis zum 15. September vorgesehene Abschiebung von 10 000 hier ansässigen staatenlosen Juden ist durchgeführt. Nachdem zu Anfang der Aktion die Juden sich auf den Arbeitseinsatzbefehl hin meist gestellt hatten, musste im weiteren Verlauf derselben zu Razzien und Einzelfestnahmen geschritten werden, da den Gestellungsbefehlen in zahlreichen Fällen nicht mehr Folge geleistet wurde. Viele der in Frage kommenden Juden haben ihre Wohnungen verlassen und versuchen, bei arischen Belgiern ein Unterkommen zu finden. Diese Bemühungen werden von einem beträchtlichen Teil der belgischen Bevölkerung unterstützt. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus der Tatsache, dass sehr viele Juden im Besitze falscher belgischer Identitätskarten sind. Dieser Umstand erleichtert auch die illegale Abwanderung in das besetzte und unbesetzte Frankreich.

Die Abschiebungsaktion nimmt jedoch trotz der obengenannten Schwierigkeiten ihren Fortgang. Bis Ende Oktober hofft die hiesige Sicherheitspolizei, im ganzen etwa 20 000 der in Frage kommenden Personen abtransportieren zu können.“146

Von Bargen zeigte in seinem Bericht die inzwischen auch ihm bekannte Tatsache an, dass die Deportation der Juden aus Belgien nach Abschluss des ersten Programms fortgesetzt wurde. Der von dem Diplomaten angeführte Zeitraum (bis Ende Oktober) ging auf eine Absprache des RSHA mit der Reichsbahn zurück. Bei einer Sitzung der Judenreferenten in Berlin am 28. August 1942 hatte Eichmann die Direktive ausgegeben, „dass der Abschub in den nächsten Monaten verstärkt durchzuführen ist, da die Reichsbahn voraussichtlich in den Monaten November, Dezember und Januar keine Transportmittel zur Verfügung stellen kann“147. Tatsächlich sollten zwischen dem 26. September und dem 31. Oktober 1942 insgesamt sieben Züge aus Belgien nach Auschwitz fahren.

Am 25. September 1942 – als die Deutschen die Razzia in Lüttich durchführten – fand in Brüssel eine Unterredung zwischen Reeder und Ehlers über die Deportation der Juden statt. Meiner Ansicht nach diente dieses kurz nach Abschluss des ersten RSHA-Programms angesetzte Gespräch dazu, die Fortsetzung der Deportationen zu besprechen, wobei es insbesondere um die Modalitäten der Verhaftung ging. Eine solche Interpretation legt jedenfalls ein Schreiben nahe, das Reeder noch am selben Tag an die Verwaltungschefs der (Ober-) Feldkommandanturen sandte und das die untergeordneten Instanzen über die mit Ehlers getroffenen Vereinbarungen informierte:

„Nach dem bisher durchgeführten Arbeitseinsatz von 10 000 Juden im Osten wird jetzt die völlige Evakuierung der Juden aus dem Befehlsbereich in Angriff genommen. Infrage kommen vorläufig [folgen Staatsangehörigkeiten]. Im übrigen ist bei der Evakuierung auf das Zusammenbleiben von Familien zu achten und möglichst unauffällig vorzugehen.

Die Durchführung der Aktion, die zunächst voraussichtlich bis Ende Oktober d. J. läuft, liegt in den Händen der Sicherheitspolizei. Es wird gebeten, dieser für die Erfassung bei größeren Aktionen im Rahmen des Möglichen polizeiliche Exekutivkräfte zur Verfügung zu stellen. Von einer Zuziehung der belgischen Polizei ist abzusehen. […] Es ist dafür zu sorgen, dass auch die in Arbeit befindlichen Juden zusammen mit ihren Familien abtransportiert werden. Die in Nordfrankreich bei der O. T. eingesetzten Juden werden in einigen Wochen aus dem dortigen Bereich freigegeben werden, soweit eine Evakuierung jetzt infrage kommt. […]

Schließlich ist auch im Einvernehmen mit der Sicherheitspolizei auf die in letzter Zeit zunehmende illegale Abwanderung der Juden besonders zu achten. Es muss vermieden werden, dass die Juden aus den 4 großen Städten illegal unter Ablegung des Judensterns aufs Land oder in kleinere Orte verziehen. Die Dienststelle der deutschen Sicherheitspolizei ist angewiesen, die Aktion so durchzuführen, dass sie möglichst wenig in der Öffentlichkeit auffällt und keine Sympathie für die Juden innerhalb der Bevölkerung erwirkt [sic].“148

Es handelt sich um einen Rahmenplan zur Deportation sämtlicher ausländischer Juden aus Belgien, der alle zentralen Fragen beinhaltet: Reeder informiert die unterstellten Verwaltungschefs über die Auswahl der Opfer, er fordert zu Maßnahmen gegen die Flucht der Juden in den Untergrund auf und er unterstreicht seine Generallinie, derzufolge die Verhaftung der Juden möglichst unauffällig vonstatten gehen soll, um Folgewirkungen auf die allgemeine politische Situation zu vermeiden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Besatzungsbehörden die jüdische Bevölkerung in ihre Gewalt bekommen. Bemerkenswert ist zum einen die hier festgeschriebene Zusammenarbeit von Sipo-SD und Militärverwaltung, zum anderen der Ausschluss der belgischen Polizei.

Die direkte Mithilfe der Militärs bei den großen Festnahmeoperationen war, auch in quantitativer Hinsicht, nicht zu unterschätzen. Sie erfolgte auf zwei Wegen:

1.) Wie in dem oben angeführten Schreiben angekündigt, lieferte die Militärverwaltung der Sipo-SD in der zweiten Oktoberhälfte diejenigen Juden aus, die sie seit dem Frühjahr 1942 als Zwangsarbeiter an der französischen Kanalküste einsetzte. Mitarbeiter der Lagerverwaltung Malines – neben Lagerkommandant Schmitt auch Karl Meinshausen, ein Angehöriger des Brüsseler Judenreferats, sowie der gleichermaßen für seine Brutalität berüchtigte Leiter der in Malines installierten Außenstelle der „Brüsseler Treuhandgesellschaft“, Erich Crull – fuhren nach Nordfrankreich, um zumindest einen Teil der jüdischen Zwangsarbeiter selbst auszusuchen und abzuholen149. Bis zu 1592 von der Militärverwaltung in den OT-Lagern internierte Männer wurden am 24. und 31. Oktober mit den letzten drei Transporten des Jahres 1942 aus Belgien nach Auschwitz deportiert150.

2.) Bei der Durchführung von Razzien arbeitete die Sipo-SD mit der Feldgendarmerie zusammen, und den weiter oben zitierten Aussagen der Beteiligten zufolge wurden zusätzlich Landesschützen und Angehörige der Geheimen Feldpolizei für die großen Verhaftungsaktionen eingesetzt. Im August und September 1942 hatte die Feldgendarmerie bereits an fünf Razzien gegen die Juden – drei in Antwerpen, je eine in Brüssel und Lüttich – mitgewirkt und sich außerdem an der Massenfestnahme von Juden an den Lebensmittelmarken-Ausgabestellen in Antwerpen beteiligt. Nun forderte Reeder die (Ober-) Feldkommandanturen schriftlich dazu auf, der Sicherheitspolizei auch für das ausgeweitete Deportationsprogramm Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen.

Warum verzichtete der Militärverwaltungschef ausdrücklich auf die Hinzuziehung der belgischen Polizei? Da der Militärbefehlshaber und seine Dienststellen in der Folgezeit keineswegs generell davon abrücken sollten, belgische Polizeikräfte mit Verhaftungen zu beauftragen, die dem belgischen Recht zuwiderliefen, gibt es für Reeders Weisung kaum eine andere Erklärung, als dass belgische Stellen gegen die Inanspruchnahme der belgischen Polizei für die Verhaftung von Juden interveniert hatten151. Wie bereits dargestellt, ersuchte der Generalsekretär des Innenministeriums, Romsée, den Militärbefehlshaber Ende August, bei der Verhaftung von Juden nicht auf die belgische Polizei zurückzugreifen152. Obschon sein Schreiben die Razzien in Antwerpen mit keinem Wort erwähnte, sondern ausschließlich auf die Verhaftung jüdischer Arbeitskräfte für die Organisation Todt Bezug nahm, wies Romsée von Falkenhausen gleichwohl auf die „psychologischen Bedenken“ der belgischen Polizei hin: Dass derartige Festnahmen an die Verschleppung belgischer Zwangsarbeiter während des Ersten Weltkriegs erinnerten und dass die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht aus belgischer Sicht dazu dienen sollte, vergleichbaren Deportationen im Zweiten Weltkrieg zuvorzukommen, musste der Generalsekretär dem Militärbefehlshaber nicht erläutern. Als der Militärverwaltungschef den Rückgriff auf die belgische Polizei bei den größeren Festnahmeoperationen gegen die Juden untersagte, bereitete die Militärverwaltung den Zwangseinsatz belgischer Arbeitskräfte im Reich vor. Am 6. Oktober 1942 sollte die entsprechende Verordnung des Militärbefehlshabers erscheinen. Reeder sah voraus, dass die politische Situation im besetzten Belgien dadurch auf das äußerste belastet werden würde. Tatsächlich sollte die Verordnung vom 6. Oktober das Ende der belgischen Kooperationsbereitschaft auf Polizeiebene nach sich ziehen. Ende September bestand also genügend Anlass, zusätzliche Konflikte zu vermeiden. Hinzu kommt, dass die Militärverwaltung auf die Zusammenarbeit mit Romsée dringend angewiesen war, wie sie immer wieder hervorhob153. Sein Einspruch von Ende August 1942 hatte daher mutmaßlich großes Gewicht. Wenngleich dies nicht nachweisbar ist, erscheint es doch plausibel, dass Reeder Romsées Intervention berücksichtigte, als er mit Ehlers die Verhaftung weiterer Juden plante.

Hatte Reeder den BdS am 25. September angewiesen, bei der Verhaftung und Deportation der Juden jegliches Aufsehen zu vermeiden, so tat das Judenreferat der Sipo-SD, insbesondere in Antwerpen, im September 1942 alles andere, als diese taktische Vorgabe einzuhalten. Zu Beginn des neuen Schuljahrs am Anfang des Monats nahmen Holm und seine Mitarbeiter an den auf Befehl des Militärbefehlshabers eingerichteten jüdischen Schulen Eltern und Schüler fest154. Mitte September suchten sie im Rahmen der vierten Antwerpener Großrazzia unter anderem das Arbeitsamt auf, um dort die Angehörigen der auf Weisung der Militärverwaltung einberufenen jüdischen Zwangsarbeiter zu ergreifen. Kurz darauf begann die Sipo-SD Antwerpen mit der systematischen Verhaftung von Juden an den Ausgabestellen für Lebensmittelmarken. Dies geschah in aller Öffentlichkeit. Nicht-jüdische Belgier, die Marken für Juden abholten, wurden mit Waffengewalt und Verhaftungsdrohung dazu gezwungen, die Adressen ihrer Auftraggeber preiszugeben. Überdies ließ das Judenreferat nicht nur ausländische, sondern auch belgische Juden festnehmen – darunter Führungsmitglieder und Angestellte des AJB-Ortskomitees – die aufgrund der Vereinbarungen Reeders mit Himmler noch von der Deportation ausgenommen waren.

Die AJB intervenierte auf mehreren Wegen. Verwaltungschef Benedictus und der Vorsitzende der Antwerpener Zweigstelle suchten Bürgermeister Delwaide auf, der sich nach massivem Drängen schließlich dazu bereit fand, den Verwaltungschef der Antwerpener Feldkommandantur, SS-Hauptsturmführer Martin Seyfert, anzurufen. Dieser erklärte den in sein Büro gerufenen AJB-Mitarbeitern, sie müssten ein für allemal begreifen, dass die ausländischen Juden nicht in Belgien bleiben könnten und dass er nichts gegen die Gestapo ausrichten könne, sagte ihnen jedoch eine Intervention gegen die Verhaftungen an den Ausgabestellen zu155. Vermutlich schritt die Militärverwaltung tatsächlich ein. Denn kurz darauf wurden die großen Festnahmeaktionen an den Markenbüros eingestellt. Die Dokumentenlage bietet keinen Aufschluss darüber, ob dies auf Veranlassung Seyferts zurückging, zumal wahrscheinlich auch der Generalsekretär des Justizministeriums beim Militärverwaltungsstab Einspruch erhob; jedenfalls wurde Generalsekretär Gaston Schuind anscheinend sowohl von Bürgermeister Delwaide als auch vom Präsidenten der AJB, Großrabbiner Salomon Ullmann, angegangen156. SS-Obersturmführer Kurt Asche nahm die für das Judenreferat offensichtlich sehr hinderlichen Fürsprachen belgischer Autoritäten zugunsten der belgischen Juden zum Anlass, um Präsident Ullmann und vier andere Führungsmitglieder der AJB am 24. September in das Konzentrationslager Breendonk einzuweisen157. Vier Tage später intervenierte Schuind bei Reeder, und Erzbischof Van Roey, Oberhaupt der katholischen Kirche, soll bei Falkenhausen vorstellig geworden sein. Daraufhin musste Asche auf Befehl von Reeders Stellvertreter Craushaar die prominenten jüdischen Häftlinge aus Breendonk wieder freilassen.

Das vom Judenreferat verursachte Aufsehen kam der Militärverwaltung, die angesichts der bevorstehenden Deportation belgischer Zwangsarbeiter mit einer gravierenden Zuspitzung der politischen Lage rechnete, äußerst ungelegen und lief überdies Reeders Anweisungen zuwider. Doch der Militärverwaltungschef wusste seine Autorität gegenüber dem Judenreferat zu behaupten. Am 30. September wandte er sich an den BdS, um die angewandten Methoden zu beanstanden, „die im Widerspruch mit den vorherigen Vereinbarungen stehen und politisch höchst unerwünschte Folgen hervorzurufen drohen“. Im einzelnen benannte er die Verhaftung belgischer Staatsangehöriger und anderer von der Deportation vorerst ausgenommener Juden sowie die Festnahmen an den Schulen, am Arbeitsamt und an der Markenausgabestelle in Antwerpen. Als Sanktion verlangte er von der Sipo-SD, in Zukunft „alle größeren Judenaktionen“ vorab mit den Verwaltungschefs der jeweiligen (Ober-) Feldkommandanturen abzusprechen158.

Dass Reeder das Vorgehen des Judenreferats der Kontrolle der Militärverwaltung unterwarf, kennzeichnet die Machtverhältnisse im besetzten Belgien, wo die Vertreter des OKH das Sagen hatten. Von spektakulären Großverhaftungen etwa an den Lebensmittelmarkenbüros musste die Sipo-SD in der Folgezeit absehen. Dafür ließ die Militärverwaltung ihr bei der Festnahme von einzelnen Juden, Familien und kleineren Gruppen einen großen Spielraum. So konnten die deutschen Polizeibeamten weiterhin einzelne Juden an den Markenausgaben ergreifen, und die fortgesetzte Verhaftung jüdischer Schüler und Lehrer veranlasste das Brüsseler Ortskomitee der AJB dazu, die Schulen zunächst befristet und dann im Januar 1943 endgültig zu schließen159. Was die belgischen Staatsangehörigen und andere von der Deportation vorerst ausgenommene Gruppen betrifft, so deportierten die Besatzungsbehörden bereits seit August 1942 solche Juden, denen ein Verstoß gegen die antijüdischen Bestimmungen vorgehalten wurde. In Antwerpen verhaftete Erich Holm im Herbst und Winter 1942 / 43 laufend AJB-Mitarbeiter, selbst wenn diese die belgische Staatsangehörigkeit besaßen160. Schließlich hielt die Sipo-SD die in der flämischen Metropole verhafteten belgischen Juden, die sie noch nicht deportieren konnte, im Lager Malines fest, während die Vertreter der Dienststelle Westen in Rosenbergs Ostministerium ihre Wohnungen ausräumten und das Mobiliar im Rahmen der „Möbelaktion“ an bombengeschädigte Familien ins deutsche Reichsgebiet lieferten. Im Sommer 1943 wurden die Juden belgischer Nationalität in die „Endlösung“ einbezogen. Daraufhin organisierte die Gestapo, die die Transporte nach Auschwitz seit Herbst 1942 mit Hilfe von Einzel- und Gruppenverhaftungen auf den Weg gebracht hatte, eine weitere und letzte Großrazzia in Belgien.

Die Shoah in Belgien

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