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Deportation nach Nordfrankreich

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Im Frühjahr 1942 trieb die Militärverwaltung die Verfolgung der Juden Schlag auf Schlag weiter voran. Unmittelbar im Anschluss an die Einführung des Kennzeichnungszwangs erließ von Falkenhausen zwei weitere antijüdische Verordnungen, deren erste den Ausschluss der Juden aus dem Berufsleben vervollständigte, während die zweite ausschließlich dem Zweck diente, die Festnahme der jüdischen Bevölkerung zu erleichtern. Denn die bereits im Vorjahr eingeführte Sperrstunde für Juden wurde jetzt um die Verpflichtung ergänzt, die registrierte Wohnadresse vom Abend bis zum Morgen nicht zu verlassen. Als Reeder die jüngsten antijüdischen Verordnungen in seinem Tätigkeitsbericht vom 15. Juni 1942 resümierte, ließ er keinen Zweifel daran, dass diese mit Blick auf die bevorstehende Deportation der Juden durch das Reichssicherheitshauptamt erlassen worden waren. Zugleich informierte er das OKH über die Deportation von Juden aus Belgien nach Nordfrankreich, mit der die Militärverwaltung auf eigene Initiative kurz zuvor begonnen hatte:

„In der Ausschaltung des Judentums aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben wurde mit der Untersagung der Ausübung des Heilberufes durch Verordnung des Militärbefehlshabers vom 1. Juni 1942 die letzte Lücke geschlossen. Ferner wurde die sicherheitspolizeiliche Überwachung der Juden durch die Anordnung vervollständigt, dass sie sich während der Nachtzeit von 20 – 7 Uhr in ihren eigenen Wohnungen aufzuhalten haben. Schließlich ist durch die mit Wirkung vom 7. Juni 1942 – gleichzeitig mit dem besetzten Frankreich – verordnete Einführung des Judensterns die Absonderung des Judentums auch nach außen hin sichtbar zum Ausdruck gebracht worden. […]

Mit den vorstehend genannten Maßnahmen kann die Judengesetzgebung in Belgien nunmehr als abgeschlossen betrachtet werden. Die Juden haben nur noch äußerst beschränkte Lebensmöglichkeiten. Der nächste Schritt wäre nunmehr ihre Evakuierung aus Belgien, die jedoch nicht von hier aus, sondern nur im Zuge der allgemeinen Planung von den zuständigen Reichsstellen veranlasst werden kann. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Militärverwaltung dafür sorgen, dass die arbeitseinsatzfähigen Juden bei kriegswichtigen Arbeiten nützlich eingesetzt werden. Zur Zeit sind die ersten jüdischen Arbeitsgruppen zu Bauarbeiten in Nordfrankreich in Marsch gesetzt worden.“59

Nachdem die Militärverwaltung der jüdischen Bevölkerung seit Oktober 1940 sukzessive die Berufsausübung verboten und im Frühjahr 1942 mehr als 80 Prozent der registrierten Wirtschaftsbetriebe in jüdischer Hand stillgelegt hatte, sollten die Juden zur Zwangsarbeit „nützlich“ eingesetzt werden60. Die ideologische Fundierung von Reeders antijüdischer Politik kommt vielleicht nirgends so deutlich zum Vorschein wie in diesem Projekt. Der Leiter der Wirtschaftsabteilung, Dr. Karl Schlumprecht, hatte das in Reeders Bericht lediglich angedeutete antisemitische Stereotyp des angeblich nicht produktiv arbeitenden Juden in aller Deutlichkeit formuliert, als er den untergeordneten Verwaltungsdienststellen im Mai 1942 grundlegende Direktiven zum Arbeitseinsatz der Juden erteilte:

„Nachdem die Arbeitslosigkeit beseitigt und ein Mangel an Arbeitskräften entstanden ist, ist es dringend erforderlich, die bisher aus dem geordneten Wirtschaftsleben ausgeschalteten Juden bei nutzbringender Arbeit anzusetzen. Nur dadurch kann der einzelne Jude dem Schwarzhandel und anderen Schiebergeschäften weitgehend ferngehalten und zugleich gezwungen werden, seinen Unterhalt durch ehrliche Arbeit zu verdienen. Eine Freistellung von der Arbeit wegen des Vorhandenseins eines gesicherten Lebensunterhalts kommt nicht infrage.“61

Antisemitisch begründet, war die Zwangsarbeit der Juden Bestandteil des antijüdischen Regelwerks, das die Militärverwaltung seit Herbst 1940 errichtet hatte. Im Gegensatz zum Kennzeichnungszwang handelte es sich wohlgemerkt um eine eigenständige Verfolgungsmaßnahme der Militärverwaltung, an der die Sipo-SD keinerlei Anteil hatte. Überdies trug der Plan, jüdische Zwangsarbeiter nach Nordfrankreich zu deportieren, den allgemeinen besatzungspolitischen Erwägungen des Militärverwaltungsstabs Rechnung.

Ein Ausgangspunkt war der immense Arbeitskräftebedarf beim Bau der deutschen Befestigungsanlagen („Atlantikwall“) an der nordfranzösischen Küste. Die Anwerbung von Freiwilligen stieß aufgrund der verschärften und extrem gefährlichen Arbeitsbedingungen auf den laufend bombardierten Baustellen an ihre Grenzen62, und für die Zwangsrekrutierung französischer Arbeiter fehlte den Deutschen im Frühsommer 1942 noch die Handhabe, da die Vichy-Regierung sich erst Anfang September 1942 dazu bereitfinden sollte, ein Gesetz zur Dienstverpflichtung zu erlassen. Resultierte hieraus offenkundig der Entschluss, auf Arbeitskräfte aus Belgien zurückzugreifen, so suchte die Militärverwaltung den zwangsweisen Einsatz belgischer Staatsangehöriger im Ausland jedoch aus grundsätzlichen Erwägungen zu vermeiden. Denn es bestand kein Zweifel, dass alle Schritte, die an die Massendeportation von Belgiern nach Deutschland während des Ersten Weltkriegs erinnerten, die Kooperationsbereitschaft der belgischen Behörden und die politische Lage im besetzten Gebiet zu gefährden drohten. Als von Falkenhausen im März 1942 eine erste Verordnung zur Zwangsarbeit von Landeseinwohnern „im Befehlsbereich“ herausgab – seine Verordnung zur Deportation von Arbeitskräften ins Reichsgebiet sollte exakt sieben Monate später ergehen –, sagte Schlumprecht dem Generalsekretär des Arbeitsministeriums, Charles Verwilghen, daher zu, dass belgische Staatsangehörige weder in Deutschland noch in Nordfrankreich zur Arbeit gezwungen werden würden63. Ungeachtet dessen trat der Generalsekretär von seinem Amt zurück, das bis zum Ende der Besatzungszeit kommissarisch verwaltet werden musste, weil niemand diesen Posten übernehmen wollte. Um die weiteren politischen Folgewirkungen zu begrenzen, verknüpfte die Militärverwaltung die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften für die Organisation Todt mit der Verfolgung der Juden, die zum größten Teil nicht die belgische Staatsangehörigkeit besaßen.

Die am 8. Mai 1942 von Reeder erlassenen allgemeinen Bestimmungen zur Beschäftigung von Juden64 verpflichteten diese zur Aufnahme jedweder Arbeit, die ihnen von den Arbeitsämtern zugewiesen wurde, führten spezielle Vergütungsbestimmungen ein und regelten insbesondere den „Arbeitseinsatz“. Juden sollten demnach „nur gruppenweise zur Arbeit eingesetzt werden“, wobei jeder Kontakt mit Nicht-Juden zu unterbinden war. Sofern die Zwangsarbeit außerhalb des Heimatorts erfolgte, sah die Militärverwaltung die Unterbringung der Juden „in besonderen Unterkünften“ vor. Diese Bestimmung bedeutete nichts Geringeres, als dass der Militärbefehlshaber in seinem Zuständigkeitsbereich Zwangsarbeiterlager für Juden legalisierte65. An der nordfranzösischen Küste richtete die Organisation Todt (OT) etwa zehn solcher Lager ein, die die Bezeichnung „Israel I“, „Israel II“ usw. trugen. Ein weiteres Zwangsarbeiterlager für Juden aus Belgien wurde in den französischen Ardennen bei Charleville-Mézières errichtet. Den Statistiken des belgischen Kriegsopferdienstes zufolge deportierte die Militärverwaltung zwischen Juni und September 1942 insgesamt 2252 jüdische Männer aus Belgien in die OT-Lager nach Frankreich. Mehr als zwei Drittel von ihnen kamen aus Antwerpen, während aus Brüssel, wo lediglich einer von insgesamt neun Deportationszügen zusammengestellt wurde, höchstens 86 Juden deportiert wurden66.

Die Federführung lag bei der zuständigen Gruppe VII („Sozialwesen und Arbeitseinsatz“) in Reeders Wirtschaftsabteilung und ihren lokalen Verantwortlichen in den zur Anwerbung belgischer Arbeitskräfte errichteten Werbestellen der Oberfeld- und Feldkommandanturen67. In der belgischen Forschung ist unbestritten, dass die einheimische Administration, die von der Besatzungsmacht mit der praktischen Durchführung beauftragt wurde68, maßgeblich dazu beitrug, dass aus Brüssel wesentlich weniger Juden deportiert wurden als aus Antwerpen. Allerdings war hierfür nicht die traditionelle belgische Arbeitsverwaltung verantwortlich. Vielmehr konnte die Militärverwaltung auf das von ihr selbst 1941 gegründete und faktisch der Kontrolle des belgischen Arbeitsministeriums entzogene Nationale Arbeitsamt (ONT) zurückgreifen, das unter der Leitung des VNV-Mitglieds Fritz-Jan Hendriks mit den deutschen Arbeitseinsatzstäben kollaborierte69. Vom ONT instruiert, setzten dessen örtlichen Filialen die deutschen Vorgaben gleichwohl auf unterschiedliche Weise um.

Die lokalen Arbeitsämter erhielten die Aufgabe, auf der Basis von Abschriften der „Judenregister“ alle arbeitsfähigen Juden festzustellen und diese zur medizinischen Voruntersuchung und zum Abtransport vorzuladen. Das Antwerpener Arbeitsamt kam der zugewiesenen Aufgabe nach, wobei der zuständige Mitarbeiter, der wie sein Amtsleiter den Kollaborationsorganisationen VNV und DeFlag angehörte, „erbarmungslos“ vorgegangen sein soll70. Der Leiter des Brüsseler Arbeitsamts setzte sich dagegen für die Freistellung bestimmter Gruppen ein und verzögerte die Durchführung71. Hinzu kam, dass die Vorladungen in Antwerpen durch die kommunale Polizei zugestellt wurden72. Trotzdem weigerten sich viele Juden, den Befehlen Folge zu leisten. Zumindest in Brüssel nahmen die Deutschen daher offenbar selbst eine Festnahmeaktion vor. Jedenfalls haben Überlebende der Shoah, die in Nordfrankreich Zwangsarbeit leisten mussten, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden, im Rahmen polizeilicher Nachkriegsvernehmungen bezeugt, dass sie am 26. Juni – dem Abfahrtstag des ersten und einzigen Transports aus Brüssel – bei einer von Feldgendarmerie bzw. SS und Gestapo durchgeführten Razzia im Brüsseler Stadtzentrum aufgegriffen und umgehend zum Südbahnhof in den Deportationszug nach Nordfrankreich geführt worden sind73.

Die Shoah in Belgien

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