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Grenzen der Kooperation

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In Belgien war es schon seit 1940 zu Auseinandersetzungen über die Durchführung von Verhaftungen im Auftrag der Besatzungsmacht gekommen78. Als die belgische Gendarmerie die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion angeordnete Festnahme mehrerer Hundert Kommunisten mit der Begründung verweigert hatte, dass es sich um willkürliche Festnahmen handele, die gegen die belgische Verfassung verstießen, reagierte der Militärbefehlshaber im Juli 1941 mit dem oben angeführten Erlass, der die belgischen Polizeibehörden grundsätzlich zur Durchführung der von deutscher Seite verlangten Verhaftungen verpflichtete79. Auf belgischer Seite war keineswegs eindeutig geklärt, wie weit die Kooperation mit der Besatzungsmacht reichen sollte. Den einschlägigen, aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in der Zwischenkriegszeit erlassenen Bestimmungen zufolge hatten die belgischen Beamten loyal mit den Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten, doch sich jeder Handlung zu enthalten, die ihrer Treuepflicht gegenüber Belgien widersprach. Eine Stellungnahme des juristischen Beratungsgremiums Comité permanent du Conseil de Législation vom Februar 1942 präzisierte, dass die belgische Polizei die von deutscher Seite angeordneten Verhaftungen ablehnen müsse, sofern diese nicht den Interessen des besetzten Landes entsprachen, sondern ausschließlich im militärischen oder politischen Interesse des Besatzers lagen. In Zweifelsfällen sei die Entscheidung der Vorgesetzten einzuholen. Die praktischen Auswirkungen dieses Votums, dessen Umsetzung komplizierter war, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, sind allerdings unklar. Da die nationalen Verantwortlichen des Innen- und Justizministeriums es vermieden, allgemeine Richtlinien auszugeben, kam es wiederum auf die örtlichen Entscheidungsträger an80.

Es hatte seinen Grund, dass die Militärverwaltung Brüssel als „Sonderfall“ einstufte, „wo die Verhältnisse, sowohl was die Leistung als auch was die [politische, d. Verf.] Zuverlässigkeit der Polizei angeht, besonders im argen“ lagen81. Festnahmeersuchen von deutscher Seite wurden in Brüssel wenn nicht grundsätzlich, so doch regelmäßig negativ beschieden. Im März 1941 erreichte der Brüsseler Oberstaatsanwalt Van Beirs, dass die Gruppe Justiz des Militärverwaltungsstabes die Oberfeldkommandantur Brüssel anwies, die Brüsseler Polizei nicht mit der Vollstreckung der von deutschen Seite verhängten Freiheitsstrafen zu beauftragen. Und was die Verhaftungen im allgemeinen betrifft, so bestätigte der Oberstaatsanwalt dem wiederholt um seine Stellungnahme nachsuchenden Brüsseler Polizeikommissar Van Autgaerden einige Zeit darauf, dass die belgische Polizei im Prinzip keine Verhaftungen für die Besatzungsmacht durchzuführen habe, sondern das belgische Recht strikt einhalten müsse. Ein belgischer Funktionsträger, der die gegen belgisches Recht verstoßenden Festnahmebefehle von deutscher Seite befolge, ohne direktem Zwang ausgesetzt zu sein, mache sich der illegalen und willkürlichen Verhaftung schuldig82. Derart bestärkt und abgesichert, ignorierte Van Autgaerden – der bald darauf zum Brüsseler Polizeichef ernannt wurde – in der Folgezeit die im Juli 1941 ergangene Grundsatzverfügung von Falkenhausens und berief sich den deutschen Stellen gegenüber laufend auf die im März ergangene Weisung der Gruppe Justiz, wohlwissend, dass diese lediglich die Vollstreckung von Haftstrafen ausschloss83. Die deutschen Behörden ergriffen keinerlei Sanktion. Doch Ende Juni 1942 reagierte der Justizreferent der Oberfeldkommandantur auf die erneute Ablehnung eines Festnahmeersuchens mit einem Schreiben, in dem er explizit darauf hinwies, dass der vom Polizeichef herangezogene Erlass durch die Grundsatzverfügung des Militärbefehlshabers vom Juli 1941 überholt sei, und dass die belgische Polizei daher die von deutscher Seite verlangten Verhaftungen vornehmen müsse84. Angesichts dieses „verbindlichen Befehls“ ersuchte Van Autgaerden die vorgesetzten Bürgermeister um eine definitive Entscheidung85. Der Bürgermeister der Stadt Brüssel und Vorsitzende der Brüsseler Bürgermeisterkonferenz, Coelst, lehnte daraufhin mehrere deutsche Festnahmebefehle persönlich ab und informierte die Bürgermeisterkonferenz, die am 2. Juli 1942 entschied, dass die Kommunalpolizei die von deutscher Seite angeordneten Verhaftungen nicht ausführen dürfe, da ihre Aufgabe gemäß der belgischen Verfassung lediglich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sei und die verlangten Verhaftungen einen anderen Charakter hätten86. Damit lag auf belgischer Seite bereits ein definitiver Entschluss vor, die von deutscher Seite verlangten Festnahmen nicht durchzuführen, bevor die Besatzungsbehörden mit dem oben zitierten Schreiben vom 3. Juli 1942 erstmals die Verhaftung einer größeren Gruppe von Juden befahlen.

Die Frage nach den Motiven der Brüsseler Bürgermeister, die in der jüngeren belgischen Literatur vor der Folie der allgemeinen politischen Entwicklung diskutiert werden, ist für die Holocaustforschung meiner Ansicht nach weniger bedeutsam als die bislang nicht beachtete Tatsache, dass die Ablehnung willkürlicher Verhaftungen den Kern des nationalsozialistischen Polizeiregimes traf. Diese Haltung stellte die zuverlässigste Bastion gegen die Festnahme von Juden dar.

Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Brüsseler Administration die Verhaftung von Arbeitskräften zur Deportation nach Frankreich in jedem Fall abgelehnt hätte. Sie hatte nämlich bereits vor Eingang der betreffenden Weisung der Oberfeldkommandantur Brüssel vom 3. Juli 1942 beschlossen, gegen das Vorgehen der Militärverwaltung Protest einzulegen. Im Auftrag der Brüsseler Bürgermeisterkonferenz forderte Bürgermeister Coelst den seinerzeitigen Präsidenten des Kollegiums der Generalsekretäre zur Intervention bei der Besatzungsmacht auf, damit die „zahlreichen Deportationen ins Ausland, die der zwangsweisen Durchführung militärischer Arbeiten dienen“, beendet würden87. Es verdient Beachtung, dass die Bürgermeister ihre Intervention – ebenso wie im Falle der Kennzeichnungsverordnung – nicht auf die belgischen Staatsangehörigen beschränkten, sondern sich generell gegen die Deportation von Arbeitskräften ins Ausland wandten. Noch wichtiger ist, dass sie auch ihre Ablehnung, den deutschen Verhaftungsbefehlen Folge zu leisten, keineswegs von der Staatsangehörigkeit abhängig machten. Sie weigerten sich somit, die ausländischen Juden preiszugeben. Dies ist das entscheidende Faktum, demgegenüber es als zweitrangig gelten kann, welche Zielsetzungen ihr Handeln möglicherweise beeinflussten.

Um den Widerstand der Brüsseler Verantwortlichen zu überwinden, wandte der Verwaltungschef der Oberfeldkommandantur sich an die nächsthöhere Instanz und ersuchte den Gouverneur der Provinz Brabant, Baron Albert Houtart, den Bürgermeister Coelst anzuweisen, die deutschen Verhaftungsbefehle auszuführen. Der Provinzgouverneur unternahm nichts dergleichen. Stattdessen forderte er seinen Vorgesetzten Gerard Romsée, Generalsekretär im Innenministerium, dazu auf, an höchster deutscher Stelle zu intervenieren. Dabei stellte er nicht auf die administrative Argumentation des Brüsseler Bürgermeisters ab. Vielmehr wandte er sich speziell gegen die „ Verhaftung von Juden zwecks Zwangsarbeit“88. Ohne grundsätzlich die umstrittene Weisung der Besatzungsmacht anzuzweifeln, derzufolge die belgische Polizei auf deutschen Befehl Verhaftungen vorzunehmen hatte, wies Houtart darauf hin, dass der entsprechende Erlass des Militärbefehlshabers vom Juli 1941 ausdrücklich einen Ausweg offenhielt. Wenn die belgische Polizei in besonderen Fällen Bedenken habe, bestimmte Festnahmen für die deutschen Behörden auszuführen, so hatte von Falkenhausen eingeräumt, so würden diese durch die deutsche Sicherheitspolizei vorgenommen89. Houtart erklärte nun gegenüber dem Innenministerium die Verhaftung jüdischer Zwangsarbeiter zu einem solchen Ausnahmefall und zu einer „sehr heiklen Angelegenheit“. Das Kollegium der Generalsekretäre hatte bereits Ende Juni 1942 bei der Besatzungsmacht gegen die Deportationen nach Nordfrankreich protestiert, dabei allerdings lediglich daran Anstoß genommen, dass sich unter den deportierten Juden auch belgische Staatsangehörige befanden90. Daher konnte der auf deutsche Veranlassung als Generalsekretär des Innenministeriums eingesetzte VNV-Kollaborateur Romsée sich in diesem Fall kaum auf die Seite der Besatzungsmacht stellen. Er ersuchte seinerseits den Militärbefehlshaber am 29. August 1942, die belgische Polizei nicht zur Verhaftung „arbeitsunwilliger“ Juden aufgrund der Verordnung vom Mai 1942 heranzuziehen, da diese Verhaftungen bei der belgischen Polizei „sehr verständliche psychologische Bedenken“ hervorriefen91. Damit war die Angelegenheit offenbar erledigt, zumal die Deportation von Juden nach Nordfrankreich inzwischen nicht mehr auf der deutschen Tagesordnung stand und auch aus Antwerpen im September nur noch ein letzter Zug mit Juden zur französischen Küste fahren sollte.

Die Militärverwaltung war mit ihrem Versuch gescheitert, auf die Brüsseler Polizei zurückzugreifen, um eine größere Gruppe von Juden zu verhaften. Bleibt hinzuzufügen, dass sie zuvor bereits vergeblich versucht hatte, die Zwangsvereinigung der Juden als Instrument zur Rekrutierung jüdischer Zwangsarbeiter einzusetzen. Als ein Vertreter der Oberfeldkommandantur Brüssel den Verwaltungschef der AJB Ende Juni 1942 dazu aufforderte, Listen mit den Namen von etwa 5000 (!) erwerbslosen Brüsseler Juden zwecks Deportation nach Nordfrankreich vorzulegen, lehnte Benedictus ab92. Stattdessen unternahm die AJB große Anstrengungen, Juden vor dem Abtransport in die Lager der Organisation Todt zu bewahren93. Besondere Bedeutung erlangte die Tätigkeit des AJB-Ortskomitees Charleroi, wo schon Juden in den Minen und in der Metallindustrie arbeiteten, bevor dann ab Mitte Juni 1942 viele Juden aus Brüssel und insbesondere aus Antwerpen in die belgische Kohlengruben- und Industrieregion flohen, um der Zwangsarbeit in Nordfrankreich zu entgehen. Weitere Arbeitsplätze konnten bspw. in der nationalen Waffenfabrik Herstal (Lüttich) oder in der Firma Lustra (Brüssel-Schaerbeek) gefunden werden, die Waffen bzw. Bekleidung für die deutsche Armee lieferten. Die Suche nach Anstellungsmöglichkeiten wurde allerdings durch die strengen antisemitischen Auflagen der Militärverwaltung (Isolierung der Juden von Nicht-Juden, geschlossene Unterbringung usw.) eingeschränkt.

Angesichts der katastrophalen Situation der in Nordfrankreich zur Arbeit eingesetzten Juden (mangelhafte Ausstattung der Baracken, unzureichende Lebensmittelversorgung, unzureichende Arbeitskleidung usw.) bemühte sich die AJB überdies um deren Versorgung. Die deutschen Verantwortlichen der Organisation Todt nutzten den Fürsorgewillen der AJB, um nicht nur Schuhe, Arbeitskleidung, wasserdichte Überzieher, sondern auch Arzneimittel und weiteres mehr von der AJB anzufordern und die Ausstattung der Zwangsarbeiter auf die AJB abzuwälzen94.

Ab Ende Juli 1942 überlagerte sich die Verschickung von Juden in die deutschen OT-Lager am Ärmelkanal mit der Deportation nach Auschwitz, was der ausgegebenen Fiktion, dass es sich in beiden Fällen um die Heranziehung einer begrenzten Gruppe von Juden zur Zwangsarbeit handele, zunächst Plausibilität verlieh. Im Oktober sollte die Militärverwaltung die nach Nordfrankreich deportierten Juden an Eichmanns Gehilfen ausliefern. Manche Transporte wurden von den Küstenbaustellen über das Sammellager Malines direkt in den Osten geleitet.

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